Desorientierung als dominanter Effekt der Zuschauer*innen-Involvierung
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Assoziationen: Open Access Wissenschaft Paulus Manker
Auf einmal ertönt ein Lokgeräusch und die dazugehörige Rauchwolke wird von rechts zwischen den Sträuchern sichtbar. Die rote Lok kommt vor uns zum Stehen. Die Aufführung beginnt mit einem Transport des Publikums vom etwas abgelegenen Parkplatz zum Spielort. An dem einen Ende des Parkplatzes ist ein Tisch aufgestellt, wo wir Programmbuch und eine Einladungskarte zu Almas 139. (fiktiver) Geburtstagsfeier ausgehändigt bekommen. Teil der Einladungskarte ist neben der Besetzungsliste auch ein neun Punkte umfassendes (zu keinem Zeitpunkt allerdings mündlich noch mal bekräftigtes) Regelwerk.137
Im offenen Anhänger, den die Lok mit sich führt, finden auf drei Bierbänken dicht gedrängt etwa zwanzig Zuschauer*innen Platz. Paulus Manker gibt den Lokfahrer und bringt mit etwa zehn bis zwölf Fuhren sein Publikum die etwa 500 Meter lange Strecke bis vor den Eingang der Roigkhalle. Vor der Halle mischen sich bereits Schauspieler*innen unter die wartenden Gäste. Das Publikum ist größtenteils auffällig schick gekleidet, eher etwas älter und wirkt gut situiert. Die Publikumsstruktur weicht deutlich von derjenigen ab, die ich bis dato beim Besuch immersiver Theateraufführung beobachten konnte.138 Insbesondere beim Gang zu den Toiletten, die ziemlich heruntergekommen wirken und nur notdürftig mit den wichtigsten Hygieneartikeln bestückt wurden, ertappe ich mich dabei, darüber zu schmunzeln: Denn das schicke Theaterpublikum scheint hier erst einmal gar nicht zum Spielort und zu dessen Infrastruktur zu passen.
»Treten Sie ein!« Mit diesen Worten werden die schweren Türen zur Halle langsam geöffnet. Der Steinboden ist mit Teppichen ausgelegt. Zur Rechten und Linken befinden sich eingedeckte Tische, darauf Kerzenleuchter. Von ihnen geht eine Wärme aus, die man spürt, wenn man sie passiert. Es ertönt klassische Musik. Vermutlich ein Auszug aus einer Sinfonie von Gustav Mahler. Die gigantischen Ausmaße der Halle sind wahrlich imposant, ja, schlicht überwältigend.
Die etwa zweihundert Gäste strömen hinein und wirken als Menge in der Halle doch gleich verloren. Auf der rechten Seite befinden sich wegweisende Schilder wie »Toiletten«, »Redaktion«, »Lazarett«, »Bad«, »Küche«. Offenbar verbirgt sich hinter der Wand zur Rechten noch ein integriertes Seitengebäude mit weiteren Räumen. Zur Linken stehen einige alte Koffer und Kisten herum, mittig einige verloren wirkende Leitern. Die räumliche Dimension dieser Halle erschlägt mich regelrecht. […] Nach Durchquerung von etwa zwei Dritteln der Halle erreichen wir bereitstehende Stühle, die allerdings nicht für alle reichen. Von der hinteren Seite schließt ein hohes, fahrbares Gerüst die entstehende Bühnensituation ab. Auf diesem erscheint eine ältere Dame: U.S. Alma (Anna-Eva Koeck). Sie begrüßt uns auf Englisch als ihre geladene Gesellschaft zur Feier ihres 139. Geburtstags. Sie dankt dem Autor Joshua Sobol für das Stück und stellt dann kurz ihre Männer (Klimt, Zemlinsky, Gropius, Mahler, Werfel) vor, die einzeln hervortreten und mit ihr auf dem Gerüst das Einstiegstableau des Abends bilden. Es entspinnt sich dann eine kurze Sequenz zwischen Mahler und drei jungen identisch gekleideten Alma-Figuren – »Wer ist die wahre Alma?«; gefolgt von einer etwas befremdlich anmutenden, musicalähnlichen Gesangsnummer, bei der sich die drei jungen Almas als geladene Showgirls für das Geburtstagsständchen »Alma« (von Liedermacher Tom Lehrer) entpuppen. […]
Der alte, etwas wirr wirkende Spieler des Almaniacs (Stefan Rehberg) gibt dann programmatisch aus, dass wir alle »ein ganz spezielles Bild [von Alma] uns selbst entwerfen könn[t]en« und in diesem Moment beginnt sich die Szene aufzulösen. Die Darsteller*innen finden in verschiedenen Konstellationen zusammen, beginnen neue Szenen und entfernen sich dabei von der abgezirkelten Spielfläche in die Weite der Halle, strömen aus und provozieren damit, dass auch wir Zuschauer*innen uns in Bewegung setzen und ad hoc entscheiden, welcher Konstellation wir folgen wollen. Ich folge bei diesem ersten Aufführungsbesuch dem Spieler von Franz Werfel (Gerald Walsberger) über eine Wendeltreppe ins Innere des Seitengebäudes und finde mich kurzerhand in einem detailreich ausgestatteten Lazarett wieder, das mit seiner Ausstattung den Eindruck einer Zeitreise erweckt: Wir müssten jetzt irgendwann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert sein. Ich fühle mich an die Ausstattung von Punchdrunks Sleep no more erinnert und spüre das Bedürfnis, mich erst mal intensiver der Raumerkundung hingeben zu wollen. […]
In der ersten Szene stoßen Walter Gropius (Maximilian Pulst) und Franz Werfel aufeinander und diskutieren über die Vaterschaft des 1919 verstorbenen Sohns Martin, der nicht mal ein Jahr alt wurde. Beide erheben Anspruch auf die Vaterschaft. […] Werfel den Flur entlang folgend, lande ich in einem kleinen Schlafzimmer, ebenfalls mit Kerzenleuchtern ausgestattet. Es gehört offenbar Anna, der ältesten Tochter von Alma und ihrem ersten Ehemann Gustav Mahler. Wir sind jetzt im Jahr 1938.139 Offenbar leidet Werfel immer noch unter dem Verlust des Sohns (denn Martin war allen Anscheins nach wirklich sein Sohn, auch wenn Alma zu der Zeit noch mit Gropius liiert war). Anna, irritierenderweise auch von Elisabeth Kofler, einer Alma-Spielerin, verkörpert, erinnert sich an eine Nacht am Semmering, als sie 14 Jahre alt war und Werfel sie besuchte. Alma und er hätten die ganze Nacht hörbar für alle Anwesenden miteinander geschlafen. Morgens stand Alma mit Blutungen vor Anna. Martin kam an diesem Morgen als Frühgeburt zur Welt. Als sich die Szene aufzulösen beginnt, indem sich die Spieler*innen wieder in andere Räume verteilen, werde ich des beständigen Hinterherlaufens leid und beschließe, mich erst einmal nur den Räumen zuzuwenden, irgendwie anzukommen und mich zu orientieren, wo was ist.140
Die erinnerten Ausführungen zu meinem Besuch bei Alma zeigen bereits, dass die erste Einbeziehung der Zuschauer*innen zunächst sehr strategisch über Raum und Raumwechsel abläuft. Der »Genius Loci« (vgl. Programmbuch, S. 14) dieser Alma-Inszenierung ist die abgelegene Roigkhalle in Wiener Neustadt. In der Saison 2014/15 konnten Manker und sein Team die seit 1966 stillgelegte Halle zum ersten Mal nutzen. Die Lage der Halle (und jene des etwas abgelegenen Parkplatzes) machten die Erfindung einer Art Vorspiel nötig. Für die Zuschauer*innen beginnt die Vorstellung deshalb mit einem Transport vom Parkplatz zur Halle. Von ihrer pragmatischen Notwendigkeit abgesehen, stellt die kurze Fahrt durchaus ein sinnfälliges Einstiegsmotiv dar, das Stoff und Aufführungsform in nuce zusammenführt. Denn die inszenatorisch-formale, mit dem Immersionsdiskurs verknüpfte Grundidee von Alma besteht nicht zuletzt darin, das in der Biografie Alma Mahler-Werfels dominant angelegte Motiv der Reise – sie war in ihrem Leben aus privaten wie später auch politischen Gründen permanent innerhalb und außerhalb Europas auf Reisen und ab 1938 auch im Exil – über die Form des Polydramas und der Konzeption eines Aufführungsbesuchs, der Zuschauer*innen eine »theatralische Reise« (Sobol, o. J.) eröffnen soll, künstlerisch zu übertragen und auf diese Weise selbst erfahrbar zu machen. Allerdings produzierte die körperliche Erfahrung dieser kurzen »Reise« im Vorspiel, eng zusammengepfercht, auf unbequemen, harten Holzbänken, dem Gestank der Dampflok ausgesetzt, Assoziationen, die weniger zu den komfortableren Reisen einer Alma Mahler-Werfel im 20. oder auch den eigenen Reiseerfahrungen im 21. Jahrhundert passen. Für mich changierte sie zwischen einer mit der Geschichte des Ortes als Arbeitslager verbundenen, unfreiwilligen Verbringung und dem Fahrerlebnis einer Station in einem Freizeit- und/oder Vergnügungspark.
Eine weitere Irritation, die von einer gewissen Inkongruenz zwischen Ort und Ereignis ausging, manifestierte sich dort, wo ich im Erinnerungsprotokoll beschreibe, wie das Publikum mit seiner gewählten Abendgarderobe zugleich fehl am Platze wirkte. Und sie setzt sich beim Betreten der Halle fort, insofern der theatrale Raum141 den Charme einer ehedem für die Fertigung von Lokomotiven und Flugzeugen industriell genutzten Anlage mit ihren massiven Stahlträgern und den in das Dach eingelassenen Kachelfenstern entfaltet, welcher von den zahlreichen ausgelegten Teppichen im Eingangsbereich, den an allen Seiten aufgestellten Kerzenleuchtern mitsamt der von ihnen ausgehenden Wärme sowie einigen großen Topfpflanzen szenografisch kontrastiert wird. Es gibt also in vielerlei Hinsicht zunächst eine wahrnehmbare Kollision zwischen der Materialität, Atmosphäre und geschichtlichen Realität des Spielorts mit der vom Publikum verkörperten Theaterkonvention oder garetikette sowie den ersten szenografischen Zeichen, die die Welt der Alma Mahler-Werfel zu Beginn des 20. Jahrhunderts repräsentieren.142
In seinen architektonischen Ausmaßen hat der Spielort etwas Überwältigendes. Ich weiß noch, wie klein ich mich physisch gefühlt habe, als ich vor diesem Gebäude-Koloss stand. Das Gefühl der Überwältigung blieb beim Betreten der Halle erhalten. Denn auch das Zusammenspiel der sinnlichen Eindrücke der über Lautsprecher ausgegebenen klassischen Musik, der Kerzenwärme, der physischen Nähe zu den Spieler*innen, die mit uns den Raum teilten, die Zeichen der ersten Ausstattungsdetails in ihrer wahrgenommenen Synchronizität und Dichte zeitigte bei mir eine Wirkung latenter Überforderung. Gleiches gilt für die Wahrnehmung der einzelnen szenischen Räume wie z. B. die Heil- und Krankenstation, die trotz ihrer Größe von ca. achthundert Quadratmetern derart minutiös ausgestattet war, dass ich meine Aufmerksamkeit vom szenischen Geschehen zwischen den Figuren ab- und der haptischen und visuellen Erkundung der materiellen Habseligkeiten zuwenden musste.
Erst beim selbstständigen, sukzessiven und szenenlosgelösten Abschreiten der gestalteten Zimmer konnte ich mir ein Gefühl für Architektur, Aufteilung und Ausstattung des szenischen Raums verschaffen. Wie an einer Perlenkette aufgereiht, beginnt der szenografierte Bereich im Erdgeschoss mit dem Schlafzimmer von Anna. Es folgen von vorn nach hinten ein länglicher Speisesaal, ein Wohn- und Empfangszimmer (Gropius’ Zimmer), dann das »Kokoschka«-Zimmer, in dem ausschließlich Kopien der Werke des Malers Oskar Kokoschkas hängen, das große Bad mit freistehenden Wannen, die Küche sowie ein Mädchenzimmer. Darüber befinden sich ein großes Wohnzimmer mit Flügel (Mahlers Zimmer) – und von hinten nach vorn, entsprechend in der Länge gereiht: die Heil- und Krankenstation, ein Arbeitszimmer mit Durchsicht in ein weiteres Schlafzimmer, eine Kantine mit Spinden und altem Fernsprecher, eine Redaktion mit angehängter Schreibstube und ein mit Büchern befülltes Séparée.143
Die Räume sind realistisch – manche sogar naturalistisch – ausgestattet und verweisen mit der Materialität der in ihnen verwendeten Dinge wie dem Blechgeschirr oder dem Kohleofen in der Küche, den aus den Jahren gekommenen Bettgestellen, Apothekerschränken und mobilen Waschschüsseln auf der Kranken- und Heilstation sowie den Bilderrahmen und Teppichen im Mädchenzimmer auf eine zeitlich nicht ganz genau definierte Vergangenheit. Je nach verhandeltem Szeneninhalt wird man als Zuschauer*in in die zehner, zwanziger oder dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts versetzt. Auf der Kranken- und Heilstation liegen auf den Arzttischen noch alte, vergilbte Behandlungsakten sowie altes Arztbesteck; assoziativ hat sie sowohl etwas von einem Lazarett als auch von einer Heilstation wie in Sanatorien oder psychiatrischen Einrichtungen. Mit Blick auf den biografisch-historischen Kontext der fiktionalisierten Lebenswelt bildet sie die Kulisse für die vielen Episoden im Leben der Alma Mahler-Werfel, in denen sie sich wegen der Geburt ihrer vier Kinder, wegen Fehlgeburten oder psychischer Erschöpfung in Kliniken und Sanatorien aufhielt. Darüber hinaus kann der detailreich ausgestattete Raum über die fast schon museale Wirkung der Dinge aber auch eigenes narratives Potential entfalten, z. B. medizin- oder interieurshistorisch. Zum »lebenden Museum« (Tragschitz, 2012, S. 47) werden die szenischen Räume, wenn sie im Rahmen der geteilten Wirklichkeitssimulation von den Figuren ganz selbstverständlich in ihrer funktionalen Zweckmäßigkeit genutzt werden, z. B. indem in der Küche während einer Szene eine Suppe zubereitet wird oder im Badezimmer tatsächlich ein Bad eingenommen wird oder indem in den Wohnstuben Tische, Stühle und Betten für Liebesspiele genutzt werden.
Wenngleich die Raumausstattung mit all ihren Möbeln sowie funktionalen und nicht-funktionalen Gegenständen zwar deutlich den Index des Historisierenden aufweist, ist sie in den meisten Fällen allerdings so allgemein gehalten, dass sie für die Repräsentation verschiedener Zeiten und Orte applikabel ist. Gerade diese Applikabilität und semiotische Ungenauigkeit der Ausstattungsdetails machen es dem flanierenden Publikum auf fiktionalisierter Zeitreise allerdings schwer, sich zeitlich und räumlich innerhalb der repräsentierten Biografie Almas und ihrer Liebhaber zurechtzufinden. Schließlich sind die meisten Räume so eingerichtet, dass sie je nach Figurenkonstellation im zeitlichen Spektrum von 1901 bis 1964 und im geografischen Assoziationsfeld von Wien über Tobelbad bis Venedig anspielbar und damit semiotisch (um-)deutbar sind.
Das relationale Zusammenwirken von Hallengröße, sinnlicher Wahrnehmungs- und Zeichendichte, historisierender Applikabilität der detailverliebten Ausstattung, eigener Mobilisierung und Vereinzelung sowie der Option, beständig zwischen verschiedenen Figurenkonstellationen und damit auch zwischen verschiedenen repräsentierten Zeiten und Orten hin und her wechseln zu können, erzeugt – generationsspezifisch ergänzt von der emotionalen Gemengelage eines klassischen Fear-of-Missing-Out-Phänomens144 – auf der Ebene raumbezogener Publikumsinvolvierung vornehmlich Zustände affektiver und kognitiver Desorientierung.
Mit der im Erinnerungsprotokoll skizzierten Auftakt- und Begrüßungsszene durch U.S. Alma werden Zuschauer*innen auf der Feier ihres fiktiven 139. Geburtstags willkommen geheißen und damit innerdiegetisch als Gäste einer Feiergemeinschaft adressiert und angespielt. Kaum hat diese Feier mit der Tanz- und Gesangseinlage zu Tom Lehrers in den sechziger Jahren entstandenen, satirischen Hymne auf »the loveliest girl in Vienna« begonnen, zerfällt die Feiergemeinschaft sogleich wieder, als Almaniac ausruft, man möge nun beginnen, »die echte, wahre Alma auszuforschen«. Die drei Alma-Darstellerinnen entschwinden daraufhin zu verschiedenen Seiten und finden sich mit je einem ihrer frühen Verehrer Gustav Klimt (David Ketter), Alexander von Zemlinsky (Simon Alois Huber) und Gustav Mahler (Stefan Kolosko) mit den jeweils identischen textlichen Einstiegspassagen zusammen. Auf diese Weise wird die versammelte Zuschauer*innen-Menge auf die nachfolgenden Szenen und damit auch auf die verschiedenen szenischen Räume und Figurenkonstellationen verteilt.
Ich merkte, wie ich zunächst Schwierigkeiten hatte, zu entscheiden, in welche Richtung ich mich in Bewegung setzen sollte. Während der Eröffnungsszene war mir Gerald Walsberger alias Franz Werfel aufgefallen. Er blieb in der Szene zwar stumm, dennoch ging eine gewisse affizierende Ausstrahlung von ihm und seiner Präsenz aus, die mich in situ dazu bewegte, ihm zu folgen. So stieg ich mit einer Gruppe anderer Zuschauer*innen gemeinsam die Wendeltreppe im Inneren der Halle empor und fand mich im ersten Stock des in die Halle eingelassenen Administrationsgebäudes wieder. Es ist hier eine Kombination aus Zufall, wo und in der Nähe zu welchen Figuren man sich gerade aufgehalten hat, und affektivem Resonanzempfinden, wie spontaner Neugier, Sym- oder Antipathie und starkem oder weniger starkem Vereinzelungsdrang, welche auf bestimmende Weise mit(be)wirkte, wo und vermittels welcher Figurenperspektive die theatralische Reise in Almas Mikrokosmos für mich an diesem Abend ihren Anfang nehmen sollte.
Mit dem Folgen der Werfel-Figur hatte ich mich bei meinem ersten Aufführungsbesuch – wie sich im Vergleich mit dem zweiten im Nachhinein herausstellte – auf denjenigen Szenen-Parcours begeben, der aufgrund der historischen Tatsache, dass Werfel als dritter und letzter Ehemann in Almas Leben erst ab 1918 eine Rolle spielte, dramaturgisch permanent zwischen den Zeiten (1920, 1938, 1925, 1935, 1964) sprang. Als ich bei meinem zweiten Besuch Alma-III (Katja Sallay) folgte, setzte die szenische Handlung mit einer Szene zwischen ihr und ihrer Mutter 1901 im Mädchenzimmer ein, in dem Jahr, in dem die 22-jährige Alma Gustav Mahler kennenlernte. Die Szenenfolge verlief dann abgesehen von ein paar kleinen Zeitsprüngen durchweg chronologisch von 1901 bis 1919. Im Werfel-Parcours war der frühe Verlust des gemeinsamen Sohns Martin zunächst der rote Faden der ersten szenischen Begegnungen. Dann folgte ein Sprung in die Ehejahre der beiden. Für diesen Strang fuhr das Publikum mit Werfel, Alma, Hulda und einem Fahrer mit einem zweiten Lokteil aus der Halle hinaus und kam inmitten von Sträuchern unter dem Nachthimmel zum Stehen. Während Alma wegen eines Motorschadens beim liegen gebliebenen Zug verweilte, zog ich mit Werfel und Hulda durchs Gestrüpp zurück zur Halle. Wir landeten in einem kargen Raum, der nur von einer Schale mit lodernder Flamme am Boden erleuchtet wurde. Hier versuchte Hulda, Werfel für das zionistische Projekt zu gewinnen, Mitte der zwanziger Jahre am Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft mitzuwirken. Bereits in der nächsten Szene saß Werfel (etwa zehn Jahre später) wieder mit Alma in der Badewanne und sah sich mit ihrer Eifersucht und ihren Emigrationsplänen in die USA konfrontiert. Dann folgte das feierliche Begräbnis Gustav Mahlers (1911) in der Halle, bei dem alle Stränge vor der Pause zusammenliefen und das nahtlos in das Pausenmahl, das innerdiegetisch als »Gustav Mahlers Leichenschmaus« gerahmt war, überging.
Wie diese Ausführungen zeigen, habe ich bei meinem ersten Aufführungsbesuch über das Mitverfolgen eines an Werfel orientierten Szenenparcours nur äußerst bruchstückartig etwas über die titelgebende Alma erfahren. Desorientiert war und wurde ich qua figurenperspektivischer Involvierung nicht nur hinsichtlich der dargestellten Zeit und des dargestellten Raums, sondern auch bezüglich der Haltungen, die die Inszenierung verteilt auf die verschiedenen Figuren gegenüber Alma Mahler-Werfel als Frau und historische Persönlichkeit einnimmt:
Alma Mahler war ein Phänomen. Kaum je hat ein Mensch so viele widersprüchliche Selbstzeugnisse hinterlassen. Selten hat jemand eine solche Fülle voneinander diametral entgegengesetzten Eindrücken bei Mit- und Nachwelt hervorgerufen. Noch seltener spaltet sich das Urteil von Biographen so sehr in radikale Zustimmung oder radikale Ablehnung (Seele, 2001, S. 7).
Es sind diese von Astrid Seele, einer ihrer Biograf*innen, hervorgehobenen divergierenden Perspektiven von und auf Alma Mahler-Werfel, die das Polydrama zu versammeln sucht.145 Auffällig sind hier vor allem drei stereotype weibliche Rollenbilder, die sich qua Selbst- und Fremdzuschreibungen in historischen Zeugnissen wie auch neueren Biografien an das Phänomen Alma binden: die verführerische Femme fatale, die mit ihrem Auftreten und äußeren Erscheinungsbild alle Männer in ihren Bann zieht; die weibliche Muse, die ihre Künstlergatten zu Höchstleistungen inspiriert; und die verhinderte Künstlerin, die sich für den Erfolg ihrer Männer ›opfert‹ und in die Rolle der Ehefrau und Mutter zwingen lässt.146 Die Inszenierung stellt die Zuschreibung dieser weiblichen Rollenbilder auf Alma Mahler-Werfel allerdings nicht als solche heraus oder versucht, sie zu dekonstruieren, sondern reproduziert sie vielmehr über Figurenreden und Darstellungsweisen und wirkt damit an ihrer Fortschreibung mit.
Der zweite Aufführungsteil nach der Pause führt mich mit Werfel ins Empfangszimmer. Die erste Szene stellt ein fiktives Zusammenkommen von Almas Männern in den sechziger Jahren dar. Mahler schwärmt von Alma, Gropius schimpft über sie und Werfel ist stolz, weil er ihr letzter Gatte sei. Dann verliere ich aufgrund von unüberwindbaren Publikumstrauben in den Gängen Werfel aus den Augen und lande bei jenen, den zweiten Teil dominierenden, Szenen mit Oskar Kokoschka (Paulus Manker), die exponiert in der Halle, z. T. auch in geradezu ›klassisch‹ bestuhlten Bühnensituationen stattfinden. In der ersten Szene, in deren Verlauf Kokoschka Alma sein berühmtes Gemälde Die Windsbraut präsentiert, kreisen er und Alma ausschließlich um sich und ihre Beziehung. Dabei bemerke ich, wie ich immer mehr auf der Wahrnehmungsordnung der Präsenz hängen bleibe. Jenni Sabel als Alma im schwarzen Negligé, der etwas beleibte Manker im geöffneten Bademantel; beide permanent im Modus körperlicher Berührungen. Die Art und Weise, in der Manker das Künstlergenie porträtiert und begleitend zu seinem übertemperierten, geradezu manisch wirkenden Redeschwall von (männlicher) Liebe, Leidenschaft und Eifersucht den Körper Sabels begrabscht, ihr grob ins Gesicht fasst, sie küsst, immer wieder teilweise entkleidet und sich an ihr aufgeilt, beginnt mich massiv zu verärgern und einzunehmen. Auch habe ich den Eindruck, als hätte sich Manker für diese Szene die schauspielerisch schwächste der drei Darstellerinnen ausgewählt, um selbst noch stärker glänzen zu können. In dieses Bild fügt sich, dass er sie einmal sogar unnötigerweise in ihrer (Text-)Schwäche vorführt, indem er aus der Figur tritt und feixt: »Du hast jetzt Text!« Das Bild, das sich hier von Alma vermittelt, hat etwas Erniedrigendes und Erniedrigtes. Und als in der Folgeszene auch noch die lebensgroße Alma-Puppe von der Dienstmagd Reserl (Johanna Hainz) für Kokoschka/Manker ausgepackt und präsentiert wird, und er sich lüstern seinem Fetisch hingibt, während auch Reserl sich ihrerseits ihm noch nackt darbietet, möchte ich die Aufführung am liebsten verlassen.147
Obwohl Alma durchaus in Szenen meiner ersten Aufführungssichtung auftauchte, werde ich bei ihr über die Figurenperspektiven von Werfel und Kokoschka in den Mikrokosmos eingeführt und dabei mit einem Bild von Alma konfrontiert, das nicht nur innerdiegetisch, sondern auch auf der Ebene der Inszenierung ein durch und durch von männlichen Blicken geformtes ist. Sie erscheint als Muse und Reisegefährtin des Schriftstellers Franz Werfel und als Affäre des Malers Oskar Kokoschka. Insbesondere Kokoschka wird sie überdies zur Obsession, zum Objekt sexueller Begierde und wahnhaften Begehrens, das bis zur historisch verbürgten Fetischisierung Almas in Gestalt einer menschengroßen Puppe reicht. Wiederum erst im Vergleich mit meinen Erfahrungen beim zweiten Aufführungsbesuch zeigt sich, dass eben auch jene figurenbezogene Involvierung des Publikums dominante Effekte einer affektiven und kognitiven Desorientierung zeitigt. Diese betreffen vor allem die Emergenz hochgradig divergierender Haltungen zur Alma-Figur und ihren Repräsentationen.
Im Unterschied zur Erstsichtung begann die Zweitsichtung, die mit der Wahl einherging, einer der drei jungen Alma-Darstellerinnen zu folgen, sogleich mit einer eindrücklichen Szene zwischen ihr und ihrer Mutter, in der die Anfang zwanzigjährige Alma beklagt, dass Mahler von ihr verlangt habe, ihr eigenes Komponieren aufzugeben. Aus naiver Verliebtheit und Bewunderung gegenüber Mahler ließ sie sich auf dieses Opfer ein, heiratete ihn, um dann zahlreiche, vornehmlich auch sexuelle Enttäuschungen zu erleben. Beim zweiten Alma-Parcours sah ich sie während ihres ersten Kuraufenthalts, sah, wie sie darunter litt, dass ihr die eigene Kunst genommen wurde, während Mahler mit seinen Symphonien große Erfolge feierte; konnte fast nachvollziehen, dass sie sich auf die leidenschaftliche Affäre mit Walter Gropius einließ, und war erstaunt über die radikale Ehrlichkeit, mit der sie Mahler ihre Verletzungen offenbarte. Es war (zumindest bis zur Pause) eine ganz und gar andere Aufführungserfahrung, die sich nicht nur so einstellte, weil der Ort bereits vertraut(er) war, sondern weil sich die Ereignisse jetzt aus der Perspektive der jungen Alma weitgehend chronologisch entfalten konnten und sich darüber auch ein im Vergleich zum Erstbesuch differenzierteres Bild der streitbaren Titelfigur einstellen konnte.
Mit den bislang beschriebenen Dimensionen affektiver und kognitiver Desorientierung ausgelöst durch die räumliche und figurenperspektivische Involvierung in Alma ist rezeptionsästhetisch die Funktionszuschreibung vom »Zuschauer als Kamera« verbunden. Innerdiegetisch werden die Zuschauer*innen zwar zu Beginn der Inszenierung als Gäste von Almas fiktiver Geburtstagsfeier und zum Pausenbeginn nochmals als Gäste der fiktiven Trauerfeier Mahlers gerahmt, beide Framing-Strategien sind aber für die Erfahrungsdimensionen der Zuschauer*innen für das Gros der Aufführung im Grunde nicht relevant. Viel entscheidender ist die mit der Mobilisierung verbundene Freiheit, selbst wählen zu können, wo man sich wie lange aufhält, welchen Figuren man folgt und wie nah man sich zu ihnen im szenischen Raum positioniert. Mit der Idee, die Zuschauer*innen-Funktion in Analogie zu einer beweglichen Kamera zu denken, ist der Inszenierung eine Relation zwischen Zuschauer*innen und Darsteller*innen eingeschrieben, die vorsieht, dass Letztere um die Existenz der blickenden Instanz(en) zwar wissen, diese aber weder direkt ansehen, noch innerdiegetisch anspielen. Nicht nur aufgrund der physischen Nähe von Zuschauer*innen und Darsteller*innen im szenischen Raum, sondern auch aufgrund der Spielweise, die im Grunde wie im Theaterdispositiv der Vierten Wand vorsieht, so zu spielen, als gäbe es die Zuschauer*innen nicht, werden Letztere permanent und zumeist unfreiwillig in potentiell voyeuristische Konstellationen und Blickregime eingebunden. Diese werden dadurch verstärkt, dass sich fast neunzig Prozent der Szenen Almas mit deren diversen Liebesbeziehungen beschäftigen, in der Regel also Einblick in das intime Gefühlsleben zweier Figuren geben. Ob auf der Kante der Badewanne sitzend, während Werfel sich badet und mit Alma streitet, ob am Esstisch vor der köchelnden Gemüsesuppe verweilend, während sich Zemlinsky und Klimt über die Hämorriden Mahlers lustigmachen, ob in der Türschwelle stehend, während sich Alma und Gropius bei einem Szenenwechsel kurz begegnen und leidenschaftlich küssen – stets korrespondiert mit der Idee der Kamera und der physischen Nähe zum szenischen Geschehen der rezeptions- und wirkungsästhetische Effekt, mit der Anwesenheit gleichsam in eine Privatsphäre eingedrungen zu sein.
»Sie sind eine moderne High-Tech Kamera und bewegen sich so rasch, leise und so unauffällig wie möglich«, so legt es die siebte der im Einladungs-/Programmflyer abgedruckten Regeln fest. Ferner heißt es unter 9.: »Wenn Sie mit einer zweiten Kamera kommen oder mit mehreren Kamera/den, sollten Sie die Ereignisse getrennt voneinander verfolgen.« Mit dem »Zuschauer als Kamera« ist also zugleich auch die Konfiguration einer singularisierten Zuschauer*innen-Position verbunden. Es gilt, die Aufführung wie auch den inszenierten Mikrokosmos entlang des eigenen Interesses, der eigenen Vorlieben und der eigenen Aufmerksamkeitsökonomien und -kapazitäten zu verfolgen. Gefordert ist insofern das zuschauerseitige Engagement und die Bereitschaft, sich selbst zu orientieren. Auf diese Weise werden die eigenen subjektiven ›Voreinstellungen‹ – um im metaphorischen Bild der Kameratechnik zu bleiben – zu relevanten Parametern der Rezeption.
Erfasst man wie Sara Ahmed mit dem Begriff der »Orientierung« nicht nur die kognitive Fähigkeit eines Subjekts, sich in einer Umgebung räumlich, zeitlich oder personenbezogen zurechtzufinden, sondern im Sinne einer sozial-relationalen Ontologie auch die affektiven Weisen, wie Körper und Subjekte von anderen Körpern und Subjekten (z. B. im Hinblick auf Sexualität, gender, Klasse oder race) ausgerichtet werden (vgl. Ahmed, 2006, S. 2)148, öffnet sich die Analyseperspektive über die Selbstbeobachtung der eigenen Orientierungsweisen auch dahingehend, auf die sedimentierten, relationalen Geschichten dieser Ausrichtungen zu schließen.
Meine Sozialisation als regelmäßige und sich nach und nach durch Studium und Praxiserfahrung professionalisierende Theaterzuschauerin begann Ende der neunziger Jahre mit Inszenierungen von Thomas Langhoff, Matthias Langhoff und Carlos Medina im Deutschen Theater Berlin. Dominant war in den Inszenierungen ein psychologisch-realistischer Schauspielstil, bei dem die glaubhafte Darstellung einer dramatischen Figur und der Beweggründe ihrer Handlungen im Mittelpunkt standen. Der Bühnenraum, in dem die Figuren in Erscheinung traten und sich die Weltversion der Inszenierung entfaltete, war dabei vom Zuschauerraum architektonisch getrennt. Theaterzuschauerin zu sein bedeutete, in einem Sessel sitzend, vornehmlich stumm mit dem Blick auf die Bühne ausgerichtet zu sein und das Bühnengeschehen aus dem Dunkel des Zuschauerraums inmitten einer Gruppe mir unbekannter Menschen audiovisuell mitzuverfolgen. Das Publikum nahm ich dabei zumeist als eine ältere, sozial recht homogene Gruppe wahr, die ihren Theaterbesuch durch die Wahl der Kleidung und das Befolgen bestimmter habitualisierter Rituale – wie dem obligatorischen Erwerb eines Pausengetränks oder eines Programmbuchs, der Verwendung eines Opernglases in den Rängen oder der Art und Weise des Gebärdens beim Applaus – zu zelebrieren schien. Von all den vielen denkbaren, historisch verbürgten wie international existierenden Konfigurationen des Zuschauer*in-Seins im Theater war es jenes spezifische bürgerliche Modell eines*einer disziplinierten Zuschauenden mit seiner theaterhistorischen Verankerung im 18. Jahrhundert, das mir seinerzeit zur gewohnten Norm wurde.
Mit der an diese spezifische Institution gebundene, erste Sozialisation als Theaterzuschauerin ist nicht nur ein verinnerlichtes Set an bestimmten sozialen Regeln, Empfindungs- und Verhaltensweisen verbunden, sondern auch ein Repertoire von ästhetischen Geschmackspräferenzen, Dekodierungsstrategien und privilegierten Techniken der Bedeutungsgenerierung. Und es ist diese Gemengelage affektiver und kognitiver ›Voreinstellungen‹, die – so erneut die These – beim Besuch immersiver Theaterformen wie Mankers Alma zu einflussreichen Faktoren singularisierter Aufführungserfahrung und potentieller Selbstreflexion werden.
Dass sich während meines ersten Aufführungsbesuchs beim Betreten des Spielorts so zügig die Empfindung von Desorientierung eingestellt hat, ist als körperlicher, affektiver und kognitiver Ausdruck zu deuten, dass mir das mit der Theaterzuschauer*innen-Rolle eingeübte Orientiert- und Ausgericht-Werden im theatralen Raum gefehlt hat. Als Zuschauer*in von Alma wird man von einer fixierten Position (und damit auch feststehenden Perspektive) im Raum, von einer Darstellung der szenischen Ereignisse, die Kriterien der Chronologie und Sukzession folgt, sowie von der Möglichkeit, einen Überblick über das gesamte Figuren- und Handlungsnetz des Mikrokosmos zu erhalten, befreit. Die raumzeitliche Konstellation simultan stattfindender Szenen über die Dauer der Aufführung hinweg, verunmöglicht so etwas wie eine ›objektive‹ Perspektive auf die Ereignisse. Mit dieser Freiheit von ist Zuschauer*innen zugleich eine Freiheit zu gegeben. Und wie man diese nutzt, hängt davon ab, wie man sich auf diese ungewohnten Spielräume möglicher Perspektivnahmen und Bewegungen einlässt. Es wäre auch ein Aufführungsbesuch denkbar, bei dem ich nicht eine der inszenierten Szenen mitverfolge, sondern mich stets nur jenseits der Zuschauer*innen-Schauspieler*innen-Schwärme zeitversetzt in den szenischen Räumen aufhalte. Ebenso denkbar wäre es, mich einen ganzen Abend lang nur in einem szenischen Raum festzusetzen, z. B. in der Küche, einfach, weil ich mich dort an dem Tag möglicherweise am wohlsten fühle. Und es wäre genauso möglich, eine Aufführung nur in der Halle zu verbringen und den zahlreichen musikalischen Einspielungen verschiedener Sinfonien Mahlers, aber auch Richard Wagners oder Dmitri Schostakowitschs sowie den Werkbearbeitungen Mahlers durch den amerikanischen Jazzmusiker Uri Caine zu lauschen und sie nicht nur als Hintergrundmusik während der Szenen oder Szenenwechsel wahrzunehmen. Entscheidend ist allerdings, dass das mir mit meinen Voreinstellungen eben nicht möglich war. Dass ich all diese Optionen nicht gewählt und in situ auch gar nicht als Optionen wahrgenommen habe, offenbart, inwieweit ich qua meiner Sozialisation als Theaterzuschauerin selbst in einem veränderten Aufführungsdispositiv wie diesem mit bestimmten eingeübten Beziehungsweisen und Weisen des Mich-Ausrichtens reagiere. Meine Fokussierung lag auf dem szenischen Tun, den Dialogen und verhandelten Inhalten. Unterbrochen wurde diese lediglich von dem Bedürfnis, mir Überblick zu verschaffen. Und wem ich auf seinem Szenenparcours folgte, hing situativ von einer Mischung aus Sympathie und (m)einem Geschmacksurteil über die von der Sogwirkung der Präsenz der Schauspieler*innen abgeleiteten Einschätzung ihres schauspielerischen Handwerks ab. Joshua Sobol hat in einem Interview mit Paulus Manker gesagt, dass es für ihn beim Polydrama vor allem darum gehe, dass ein*e jede*r Zuschauer*in »entdecken« solle, was ihn*sie wirklich interessiere, und was ihm*ihr etwas bedeute (vgl. Sobol, 2007). Mir haben meine beiden Aufführungserfahrungen von Alma gespiegelt, dass vor dem Interesse und der bewussten Entscheidung bereits komplexe, affektive Prozesse mit-wirken, die beeinflussen, wo ich mich im Raum aufhalte, wem ich folge, wie ich meine Aufmerksamkeit lenke und Empfindungen des Desorientiert-Seins und -Werdens pariere. Und dass diese mit der von mir verkörperten Institutioneiner bestimmten, sozialisierten Theaterzuschauer*innen-Rolle verknüpft sind.
Hier adressiere ich mit Brüggmann kein »topologisch-materielles«, sondern »erweitert-immaterielles« Verständnis von »Institution« (vgl. Brüggmann, 2020, S. 36). Geoffrey M. Hodgson bezeichnet Institutionen in diesem erweitert-immateriellen Sinn als »systems of established and prevalent social rules that structure social interactions« (Hodgson, 2006, S. 2). Institutionen sind in diesem Verständnis nicht nur bestimmte Organisationen, sondern viel breiter gedacht alle sozialen, auf Regeln, Konventionen und Habitualisierungen beruhenden Einrichtungen wie Sprache, Geld, Gesetze etc. Für den Bereich der Künste hat Andrea Fraser im Kontext des Diskurses um Institutionskritik herausgestellt, dass die Institution Kunst im erweitert-immateriellen Sinne zu keinem Zeitpunkt als etwas von den in dem Feld handelnden Akteur*innen Äußerliches gedacht werden kann. Sondern, dass es vielmehr anzuerkennen gilt, dass alle Akteur*innen mit ihren eingeübten Verhaltens-, Umgangs-, Arbeitsund Bewertungsweisen selbst die Institution bilden, ergo selbst verkörpern: »It is because the institution is inside of us, and we can’t get outside of ourselves. […] [T]he institution of art is internalized, embodied, and performed by individuals […]« (Fraser, 2005, S. 104f.). Die Institution der ›klassischen‹ (Theater-)Zuschauer*in-Rolle mit ihren Regeln, Codes, Erwartungshaltungen und eingeübten Orientierungsweisen wirkt bei der Rezeption von Alma entscheidend mit – und zwar ex negativo, indem die gewohnten Weisen des Orientiert- und Ausgerichtet-Werdens unterwandert und herausgefordert werden und die räumliche und figurenperspektivische Involvierung Zuschauer*innen primär Erfahrungen der Desorientierung aussetzt.
Und hier sehe ich eine wichtige Korrelation von Desorientierung, die ja bereits Freydefont und Sermon als dominante Wirkung immersiver Aufführungsdispositive hervorgehoben haben, und Vereinnahmung. Denn ich konnte während meiner beiden Aufführungsbesuche die Erfahrung machen, dass ich als desorientierte Zuschauer*in viel anfälliger für Prozesse der Vereinnahmung war. Fehlt einem, wie mir seinerzeit, beim ersten Aufführungsbesuch das Vorwissen zu Alma Mahler-Werfel und ihrer Biografie, dann kann einen eine figurenperspektivische Involvierung über eine der Ehemänner-Figuren für eine bestimmte Perspektive auf Alma einnehmen und damit die eigene Sichtweise beeinflussen. Und das gilt im Hinblick auf die Singularisierung der Aufführungserfahrung für alle möglichen figurengebundenen Perspektiven auf den fiktionalisierten biografischen Mikrokosmos. Bei mir brauchte es zwei Besuche bei Alma und die analytische Auseinandersetzung, um zu erkennen, dass Zuschauer*innen qua Involvierung nicht nur in die repräsentierten Ereignisse aus dem fiktionalisierten Leben Alma Mahler-Werfels einbezogen werden, um sich von diesem ein möglichst polyperspektivisches Bild zu machen. Vielmehr wird das Publikum auch in eine Wirklichkeitssimulation integriert, die für eine bestimmte bürgerliche Klasse eingerichtet ist und auf diese Weise auch von einer bestimmten Weltsicht und einer bestimmten Weise, Körper und Subjekte im Raum zu orientieren, vereinnahmt.
137 Hierin wird den Besuchenden mitgeteilt, dass es »45 parallel ablaufende Szenen« durch »das Leben der berühmten Künstlermuse Alma Mahler-Werfel« zu sehen geben werde, die auf verschiedene Schauplätze im Gebäude verteilt sind. Es gelte, den Figuren »durch Zeiten und Räume« zu folgen, wobei man selbst wie »eine Filmkamera […] die Distanz zum Objekt« ebenso wie den »Bildausschnitt« und den jeweiligen »Hauptdarsteller« selbst auswählen könne. Gewünscht sei, dass man sich »so rasch, leise und so unauffällig wie möglich« bewege, nicht rauche, nicht fotografiere sowie von der Benutzung von Handys während der Aufführung Abstand nähme, vgl. Programmflyer Alma 2018.
138 Bei SIGNA deckt das Publikum in der Regel ein breites Spektrum an Altersgruppen ab; die Mehrheit bildet allerdings die Gruppe der Zuschauer*innen zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Bei Sleep no more und 3/Fifths habe ich das ähnlich wahrgenommen. Daten zur Altersstruktur, die das bestätigen könnten, habe ich nicht erhoben.
139 Diese Einordnungen in die Chronologie der Ereignisse konnte ich im Anschluss meines Besuchs beim Erstellen des Erinnerungsprotokolls über den auf der Website der Produktion verfügbar gemachten Dramentext rekonstruieren, https://www.alma-mahler.at/text_deutsch/roles.html, letzter Zugriff 29.1.2021.
140 Auszüge aus dem Erinnerungsprotokoll meines ersten Besuchs von Alma am 18.8.2018 in Wiener Neustadt.
141 Die Unterscheidung von theatralem und szenischem (sowie ortsspezifischem und dramatischem) Raum geht zurück auf Christopher Balme. Mit dem theatralen Raum ist der architektonisch gegebene Spielort angesprochen und mit dem szenischen Raum der jeweilige (szenografierte) Spielraum der Akteur*innen, vgl. Balme, 2008, S. 142.
142 Diese Reibung scheint mir ein Spezifikum des Spielorts der Roigkhalle zu sein. Denn das Kurhaus Semmering, das niederösterreichische Schloss Petronell oder auch das Kronprinzenpalais in Berlin, Orte, die gleichfalls als Spielorte innerhalb der 25-jährigen Aufführungsgeschichte dienten, schmiegen sich mit ihrer Architektur und Geschichte dem im Mikrokosmos der Aufführung repräsentierten, bürgerlichen und kunstaffinen Milieu von Almas Lebenswelt deutlich stärker an.
143 Der Vergleich mit den Räumen der Alma-Version im Sanatorium Pukersdorf in der Filmversion offenbart, dass Lazarett, Redaktion und Schreibstube szenische Räume sind, die erst in der Roigkhalle dazugekommen sind. Er zeigt zudem, dass sich jeder Orts- und Raumwechsel in der Aufführungsgeschichte von Alma stets auch auf die Inszenierung auswirkte.
144 Im Kontext einer globalisierten, digital vernetzten Welt beschreibt FOMO das affektiv hoch komplexe, gesellschaftliche Angstsyndrom, angesichts der Überfülle und hohen Frequenz von Nachrichten in den Netzwerken sozialer Medien etwas zu verpassen, was insbesondere bei jüngeren Generationen zu problematischen Abhängigkeitsverhältnissen im Mediennutzungsverhalten führen kann, vgl. u. a. Poser, 2018. Im Programmbuch ist von einer »Unruhe des Versäumens« die Rede (S. 28). Dass es zu diesem Phänomen auch in anderen Aufführungsbeispielen kommt, belegt u. a. eine Äußerung einer interviewten Zuschauerin zu ihrem Besuch bei SIGNAs Söhne & Söhne: »Ich wollte einfach nicht rausgehen [aus der Abteilung für Kindheitsangelegenheiten], weil ich immer Angst hatte, irgendetwas zu verpassen. Es war für mich also keine Option, auch wenn ich nicht mitmachen wollte bei dem Spiel (OW 2016)«.
145 Melanie Unseld zufolge verstehe es das Polydrama, »das Problembewusstsein gegenüber biographischer Darstellbarkeit, dem Einfluss biografischer Modelle und dem hohen Eigenanteil der Rezipienten am Zustandekommen biografischer Bilder [zu] schärfen« (Unseld, 2011, S. 161) – und zwar, indem es zum »individuellen Verstehen und Kombinieren einzelner biographischer und autobiographischer Bestandteile« (ebd., S. 160) und damit zu einem Nachdenken über Identitätskonstruktion und »Polyperspektivität« (ebd., S. 161) in der Biografik und über diese hinaus anrege. Die Stärke des Polydramas liege darin, dass es nicht nur die Idee einer vermeintlichen »Wahrheit«, sondern auch die einer geschlossenen, erzähl- oder darstellbaren Identität dekonstruiere.
146 Die dritte Perspektive nimmt vor allem die Biografin Francoise Giroud ein, vgl. Giroud, 2000.
147 Auszug aus dem Erinnerungsprotokoll meines Besuchs von Alma am 18.8.2018 in Wiener Neustadt.
148 Mit Merleau-Ponty setzt Ahmed den Körper als Orientierungszentrum und entscheidenden »point of view« sämtlicher Wahrnehmungsprozesse an (vgl. Ahmed, 2006, S. 53), der in allen Momenten situierten In-der-Welt-Seins nicht nur intentional, sondern auch affektiv stets auf bestimmte Weise(n) von seinem Umfeld orientiert und damit auch geformt wird, vgl. ebd., S. 16. Was Körper tun, wie sie sich bewegen oder einen Raum einnehmen, ist das Ergebnis ihrer Geschichte des Ausrichtens und Ausgerichtet-Werdens, vgl. ebd., S. 56.