Theater der Zeit

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Auftritt

Theater Rudolstadt: Der Koloss

„Herscht 07769“ von László Krasznahorkai (UA)– Regie Alejandro Quintana, Bühne und Kostüme Andrea Eisensee, Musik Uwe Steger

von Michael Helbing

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Laszlo Krasznahorkai Alejandro Quintana Theater Rudolstadt

Uwe Steger als ramponierter Engel in „Herscht 07769“ nach dem gleichnamigen Roman von László Krasznahorkai am Theater Rudolstadt. Regie: Alejandro Quintana. Foto: Anke Neugebauer
Uwe Steger als ramponierter Engel in „Herscht 07769“ nach dem gleichnamigen Roman von László Krasznahorkai am Theater Rudolstadt. Regie: Alejandro QuintanaFoto: Anke Neugebauer

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Da steht er also: Florian Herscht, „dieser riesig gewachsene Koloss, dieses Kind“, eine überragende Figur allein schon der Körpergröße wegen. Ein Waisenknabe, im direkten wie übertragenen Sinn. Sorgenvoll zwar, aber im Grunde seines Herzens arglos. Für den Boss, der ihn aus dem Heim holte, ihm eine Wohnung im Plattenbau und Stütze vom Staat besorgte, während er ihn schwarz bei seiner Fassadenreinigung beschäftigt, würde er durchs Feuer gehen. Bis der Boss mit seiner „Einheit“, einer Nazitruppe, tatsächlich ein Feuer legt, eine Tankstelle explodiert und eine Welt zusammenbricht. 

Noch aber schaut Florian auf zu ihm, obwohl der eineinhalb Köpfe kleiner und ein cholerischer Giftzwerg ist. Der turnt auf Florians Rücken rum, verpasst ihm Nackenschläge und hat insgeheim Angst vor diesem bärenstarken Jungen. Dem fällt auch, wenn’s drauf ankommt, die Hotelbetreiberin schutzsuchend in die Arme, auf die er aber lieber den pensionierten Lehrer Köhler nimmt. 

So einen muss man erst einmal im Ensemble haben. Und das Theater Rudolstadt hat ihn. Franz Gnauck ist, seiner Statur wegen und dem, was er daraus macht, schon einmal ein Grund, weshalb man es wagen kann, „Herscht 07769“ auf die Bühne zu wuchten, den jüngsten unter den elf Romanen von László Krasznahorkai, der darin vorzugsweise Apokalypsen auslöst, von begrenzter Reichweite, aber pars pro toto. Nicht zum ersten Mal hob der in Berlin und Triest lebende Ungar hier zu einer über Kaskaden fließenden atemlosen Suada an: in einem 400 Seiten langen absatzlosen Textkoloss – ohne Punkt, aber mit vielen Kommata (sowie einigen Frage- und Ausrufezeichen). 

Darin erzählt Krasznahorkai uns was aus der thüringischen Kleinstadt Kana, die unschwer als das literarische verschobene Kahla auszumachen ist, zwanzig Kilometer westlich von Rudolstadt gelegen, an der B 88. Postleitzahl 07768. Von hier aus sendet Florian heilige Panikbriefe an Kanzlerin Angela Merkel, weil er im Quantenphysik-Volksschulkurs von Herrn Köhler was falsch verstanden hat. Er fürchtet die „Annihilation zwischen Materie und Antimaterie“ und somit das Ende des Universums. „Die Menschen fürchten sich nicht vor dem, vor dem sie sich fürchten müssten, sondern vor dem, vor dem sie sich nicht fürchten müssten“, schreibt er ihr einmal. Und weiß noch nicht, dass das auch ihn betrifft. Und dass auch er gefürchtet werden wird, in ganz Thüringen, durch das er als Rächer zieht. 

Menschen verschwinden, Wölfe erscheinen, Johann Sebastian Bach-Stätten werden geschändet, Anschläge geschehen. Und: „Hier sind fast alle Nazis, selbst die, die nichts davon wissen.“ Die Angst geht um. Allgemeiner Rückzug ins Private. Die unerhörtesten Ereignisse tauchen frappierend beiläufig aus einem gleichförmig dahinfließenden Textstrom auf und gehen wieder darin unter. Fließend auch die Übergänge von einer zur nächsten der vielen Figuren. 

Diese surreal anmutende Stimmung auf die Bühne zu holen, gelingt der Rudolstädter Uraufführung nicht. Alejandro Quintanas Inszenierung konzentriert sich mit mehr als zwanzig Schauspielern auf die Mühe, diesen verästelten Stoff zu bewältigen und szenische Schneisen ins Dickicht der Geschichte zu schlagen. Er inszeniert mehr Inhalt als Form. Und er forciert in den drei gar nicht mal so langen Stunden zunächst eine unterschwellig komödiantische Spielweise, die wenig Raum für das Geheimnisvolle und das Unheimliche lässt. Ja, das sieht alles sehr gespielt aus, mit begrenzter Glaubwürdigkeit und einigermaßen überraschungsfrei. Fürs große Sterben im Finale wechselt er dann erwartbar in eine chorische Erzählung, um überhaupt zu einem Ende finden zu können. 

Das findet in einer verwitterten und belaubten Ruine mit eckigen Säulen statt, die Ausstatterin Andrea Eisensee als Einheitsraum erfand: irgendwas zwischen Tempel, Gewölbekeller und Abstellkammer einer zunehmend vom Leben abgehängten kleinen Stadt. So müssen wir gar nicht mehr zusehen, wie Kana, „diese kleine Perle“ an der Saale, zu bröckeln beginnt. Das ist sinn- und bühnenbildlich längst geschehen. Und während es bei Krasznahorkai heißt, man habe hier „nachts den Eindruck eines Ortes, aus dem man schon weggezogen ist“, haben sie hier „nachts“ gestrichen. Es gibt keine Veränderungen, es gibt keine Unterschiede, es schleicht sich nichts ein. Alles schon da. 

Erfunden haben sie, als Symbol, einen Engel, der laut Programmheft ein ramponierter sein soll, was man aber nicht sieht. Als solcher tritt der Musiker Uwe Steger auf und bald an die Seite, um auf dem Digitalakkordeon unter anderem Bach zu intonieren: „Toccata“, „Goldberg-Variationen“, „Air“… Denn Thüringen ist „nationales Bachgebiet“, so der Boss, der aus Tanzmusikern vergeblich die Kanaer Symphoniker machen will, die die Brandenburgischen Konzerte spielen. Florian hat erst kein Ohr für Bach und dann für nichts anderes mehr. 

Es gibt aber auch andere Musik. Sie singen das Pionierlied „Unsre Heimat“, während die „Einheit“ dem „Thüringer Heimatschutz“ hinterhertrauert: jenem Neonazi-Netzwerk, das in Rudolstadt-Saalfeld eine starke Bastion hatte. Sie tanzen zu Bärbel Wachholz‘ DDR-Schlager „Damals“ und träumen sich in eine Vergangenheit zurück, die es so nie gegeben hat. Die „Einheit“ träumt vom Vierten Reich. Und alle hier werden keine Zukunft haben, in dieser sterbenden Stadt. 

Franz Gnaucks Florian ist das freundliche, etwas schwerfällige Riesenbaby im Blaumann, das sich in seiner Gedankenwelt verstrickt. Dann lässt er das Tier raus: als er erkennt, dass der Boss und die Seinen die Tankstelle mitsamt ihren brasilianischen Betreibern abfackelten. Ein Rachefeldzug beginnt. Und die Verwilderung. Gnauck stellt der körperlichen nun eine innere Kraft zur Seite, die er bislang schlummern ließ. Gnauck spielt überzeugend: Metamorphose. 

Zu diesem Riesen gesellt sich Benjamin Petschke als Rumpelstilzchen: ein Boss, dem schnell der Kamm und die Halsschlagader schwillt. Alles in allem aber übersetzen sie hier zu oft überspannte Charaktere in überspielte Figuren. Es gibt Ansätze von antiker Tragödie; Ute Schmidt und Verena Blankenburg könnten darin als ungleiche Nachbarinnen die Erinnyen an der Fensterbank geben, doch solche Setzungen verbietet sich der Abend. Er setzt, mit großem Aufwand, ganz auf die Fabel. Und die zumindest erzählt er konsequent durch. 

Erschienen am 8.12.2022

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