Theater der Zeit

Ankunft Badischer Bahnhof

Desorganisationen im öffentlichen Raum

von Malte Ubenauf, Stefanie Carp und Christoph Marthaler

Erschienen in: Arbeitsbuch 2014: Christoph Marthaler – Haushalts Ritual der Selbstvergessenheit (07/2014)

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Malte Ubenauf: Bevor 1988 deine Produktion „Ankunft Badischer Bahnhof“ in Basel gezeigt wurde, hattest du bereits einige freie Projekte außerhalb des Stadttheaters beziehungsweise im öffentlichen Raum inszeniert.

Christoph Marthaler: Eine der ersten freien Produktionen, die im Rahmen des Theaterspektakels entstanden und öffentlich gefördert wurden, fand in der Roten Fabrik in Zürich statt. Dieser Ort existierte damals noch gar nicht in der heutigen Form, und den Raum, in dem wir unsere Aufführung zeigten, gibt es jetzt nicht mehr. Die Inszenierung trug den Titel „Indeed“ und war eine neodadaistische Unternehmung. Es ging unter anderem darum, dass jeder Mitwirkende von seiner Anreise etwas mitbringen sollte, ein Fundstück, das dann in der Aufführung thematisiert werden würde. Norbert Schwientek zum Beispiel brachte eine Information über Brezeln mit, Jean Schlegel schriftliche Reiseangebote der Deutschen und der Schweizerischen Bahn. Er hat sich dann, als er diese in unserer Inszenierung vortrug, derart in diese Texte hineingesteigert, dass er schließlich weinend abbrechen musste. Begleitet wurde er dabei von einem seitenverkehrt spielenden Streichquartett. Eine unglaublich sentimentale Angelegenheit. Graham F. Valentine wiederum hatte einen mehrsprachigen Hotelprospekt dabei, in dem es unter anderem um Parkplatzsituationen ging. Er hat diesen Prospekt dann in der ihm sehr eigenen Art interpretiert, und ich habe ein Lied der Geschwister Schmid dazu eingespielt. „Indeed“ bestand also im Wesentlichen aus Abfallmaterial, Musik und Liedern. Allerdings spielten auch Walter Serners „Lockerungslied“ und die „Ursonate“ von Kurt Schwitters eine Rolle. Letzterer war dann auch wesentlich für eine Produktion, die ich wenig später gemeinsam mit Graham F. Valentine und der damals ganz jungen Schauspielerin Anne Tismer im Keller des Zürcher Schauspielhauses realisierte. Diese hieß „Ribble Bobble Pimlico“ nach einem englischen Gedicht von Schwitters. Valentine saß an einem riesigen Schreibtisch, um ihn herum lagen Schachteln und Munitionskisten, auf denen immer wieder Anne Tismer Platz nahm und Schwitters-Gedichte rezitierte. Valentine hingegen hat den „Ribble Bobble Pimlico“- Text von Schwitters auf absurde Weise psychologisiert und wurde dabei von Martin Schütz und Ruedi Häusermann musikalisch begleitet, die, anfänglich verborgen hinter Vorhängen, einige unglaubliche Töne produzierten. Für diese kleine Produktion waren Graham F. Valentine, Anne Tismer und ich zur Vorbereitung nach London gereist, um den Stadtteil Pimlico kennenzulernen, nach dem das Gedicht von Schwitters benannt ist. Dort angekommen, haben wir eine Stadtteilbesichtigung gemacht und unter anderem einen Waschsalon besucht, eine öffentliche Toilette, die Rolltreppen der anliegenden Subway-Station, und alles, was wir dort hörten, mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet. Das floss dann später ein in unsere Inszenierung.

Ubenauf: Einige andere freie Produktionen in den 1980er Jahren bezogen sich auf Werke des französischen Komponisten Erik Satie.

Marthaler: Ich hatte 1979 in „Peter Brogles Schaubude“ in Zürich Harald Szeemann kennengelernt. Ihm gefiel, was wir dort machten, und er fragte mich, ob ich nicht mitwirken wolle bei einer von ihm geplanten Ausstellung mit dem Titel „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Es kam dann zu der Entscheidung, dass ich etwas „desorganisieren“ würde. Dieser Begriff kam von Erik Satie, der unter eine seiner Kompositionen geschrieben hatte: „désorganisé par Erik Satie“. Die Vorstellung von Desorganisation gefiel Szeemann und mir sehr. Wahrscheinlich deshalb, weil vollkommen unklar war, was das genau bedeutet … Unter Saties mittelalterlichen Stücken gab es eines, dem der Komponist die Tempobezeichnung „Blanc et immobile“ vorangestellt hatte, eine Komposition, in der sich Musik auf wunderbare Weise in die Länge zieht bis hin zur absoluten Zustandslosigkeit. Genau dies sollte der Ausgangspunkt der Inszenierung werden und „Blanc et immobile“ der Titel unseres Vorhabens. Zu der Zeit, als wir die Inszenierung planten, gab es in Zürich ein altes Kolpinghaus, das, statt es unter Denkmalschutz zu stellen, abgebrochen werden sollte. Was wir dort erfunden haben, war wesentlich ein Spiel mit der Zeit, entlang von Saties geradezu bildhauerischer Musik und einigen anderen Motiven, die mit der Person Satie und seinen Texten zu tun hatten. So schrieb Satie einmal, dass er nur weiße Lebensmittel essen würde. Entsprechend servierte Giuseppe Reichmuth im Verlauf des Abends einem allein am Tisch sitzenden Schauspieler ein mehrgängiges Menü, das nur aus weißem Essen bestand: weißer Fisch, Blumenkohl, Weißburgunder. Und weil Satie stets eine Melone auf dem Kopf trug und diese mit einem Regenschirm schützte, spielten auch bei uns diese Objekte eine wichtige Rolle. Es ging so weit, dass die Figuren auf der Bühne unter ihren Melonenhüten echte Melonen auf dem Kopf trugen.

Um ein Bild zu haben für das sehr langsame Vergehen der Zeit, hatten wir auch überlegt, eine Galapagos- Schildkröte auftreten zu lassen. Ein schwieriges Unterfangen, letztlich haben wir dann tatsächlich eine gefunden. Allerdings war diese alles andere als langsam und darüber hinaus erstaunlich laut. Schweren Herzens haben wir uns dann gegen ihre Mitwirkung entschieden und einfach einen großen Schildkrötenpanzer auf die Bühne gestellt. In einem Text von Satie, der auch in unserem Abend vorkam, spricht dieser davon, was für eine schwierige Arbeit es sei, Musik zu reinigen. Theo Hauser (der für die Inszenierung Teile des Brancusi- Ateliers nachgebaut hatte), Guiseppe Reichmuth und Christoph Ausfeld haben dann für „Blanc et immobile“ einen Teil des Merzbaus von Kurt Schwitters nach- und umgebaut, in dessen obere Öffnung der Schauspieler Norbert Schwientek Wagner-Partituren hineinwerfen konnte. Am unteren Ende der eigenartigen Maschine kam dann eine fangoartige Masse heraus, die Reichmuth mit Eimern auffing, durch den Raum trug und in eine Tonne (in welcher zu Beginn der Vorstellung bereits die Eintrittskarten der Zuschauer gesammelt wurden) auskippte. Währenddessen sprach Schwientek den berühmten Faust-Monolog „Habe nun, ach! …“, verwendete aber lediglich die Vokale des Textes.

Stefanie Carp: Ein weiteres Satie-Projekt fand 1985 in einer Zürcher Apotheke statt …

Marthaler: Ja, und zwar im Rahmen des von dem Mitbegründer des Zürcher Theaterspektakels Jürg Woodtli organisierten sogenannten Minimal Festivals. Ein Teil dieses Festivals war die Aufführung von „Vexations“, einer Klavierkomposition von Erik Satie, die 840 Mal wiederholt wird. Um dies zu schaffen, so schreibt Satie, sei es notwendig, „sich ernsthaft darauf vorzubereiten, in größter Stille, mit ernsten Regungslosigkeiten“. Wenn man das vorgeschriebene Zeitmaß ungefähr einhält, kommt man bei 840 Wiederholungen auf eine Spielzeit von cirka 24 Stunden. Und einer der wenigen öffentlichen Orte, die in Zürich 24 Stunden geöffnet haben (vielleicht der einzige), ist die Bellevue-Apotheke. Also haben wir dort ein Klavier installiert, mehrere Pianisten versammelt (unter ihnen Jürg Kienberger und Irène Schweizer), die sich im Abstand von 45 Minuten abgewechselt haben, und erst am Tag der Aufführung, und zwar bereits nach Beginn der Veranstaltung, eine schriftliche Ankündigung herausgegeben.

Ubenauf: Die meisten Besucher hatten also keine Ahnung, was sie beim Betreten der Apotheke erwarten würde?

Marthaler: Nein. Für viele Besucher war das Erlebnis von Saties „Vexations“ ein für sie zufälliges Ereignis. Insofern war diese „Inszenierung“ eigentlich eher eine künstlerische Intervention im städtischen Alltag. Interessant war, dass das Schweizer Fernsehen in der Apotheke mitschneiden wollte. Ich war sehr dagegen, dass dies geschieht, aber die Festivalleitung bat mich, es zumindest für einen kurzen Moment zuzulassen. Die Fernsehleute haben dann sehr umständlich Licht installiert, was überhaupt nicht zu dem Ereignis passte, und schließlich 30 Minuten aufgenommen. Gesendet wurde von „Vexations“ allerdings nicht eine Sekunde, vermutlich war es denen zu minimalistisch … Das war damals meine erste Begegnung mit dem Schweizer Fernsehen.

Ubenauf: Eine andere Desorganisation von dir wurde im Zürcher Stadthaus aufgeführt. Sie trug den schönen Titel „Grosse Worte. Hymne“.

Marthaler: An dieser Inszenierung waren ziemlich viele Menschen beteiligt. Unter anderen einige Schauspieler, die alle ein einziges berühmtes Zitat der Weltliteratur vortrugen, sowie ein Chor von der Schauspielakademie, wo ich damals unterrichtete. Die haben vierstimmig das Lied „Luegit vo Bärg und Tal“ gesungen, aber so langsam, dass eine Strophe genau eine Stunde dauerte. Es gab auch eine Blasmusik, die dieses Lied auf ähnlich langsame Weise spielte, allerdings immer im Stakkato. Das war wirklich gedehnte Zeit. Im Zürcher Stadthaus gab es übrigens diese Besonderheit, dass im großen Eingangsatrium eine Polizeiwache untergebracht war; so durchquerten also regelmäßig richtige Polizisten unsere Inszenierung ... Mit den Leuten von der Schauspielschule haben wir noch einige andere Aktionen im öffentlichen Stadtraum organisiert, zum Beispiel in einem Tramwagen der Linie 4. An der Starthaltestelle Tiefenbrunn stieg jemand ein und hat einen Ton gesungen. Bei der nächsten Station stieg dann jemand zu und sang die Terz, bei einer weiteren Station der nächste Sänger. So entstanden während der Fahrt durch die Stadt verschiedene Akkorde, die immer wieder verändert wurden. Zuerst waren es „schöne“ Dreiklänge, dann wurde es ein bisschen komplizierter, bis schließlich die absolute Atonalität den Tramwagen ausfüllte.

Ich habe wirklich am liebsten in der Stadt und im öffentlichen Raum Projekte initiiert. Und ich denke, wenn nicht irgendwann Frank Baumbauer auf mich zugekommen wäre, der damals kurz davorstand, Intendant am Theater Basel zu werden (und mich später auch mit Anna Viebrock zusammenbrachte) – ich wäre wohl niemals Regisseur am Theater geworden. Ich hatte auch gar nicht diesen Ehrgeiz; und deshalb fand ich es gut, als Baumbauer einfach sagte, dass er sich freuen würde, wenn ich an seinem Basler Projekt „beteiligt“ wäre. Was das genau heißen könnte, blieb erst einmal unklar. Ich habe dort dann auch Musik gemacht für Inszenierungen von anderen Regisseuren. Zum Beispiel war ich als Theatermusiker für Frank Castorfs Inszenierung von „Wilhelm Tell“ engagiert. Ich fragte ihn, wann ich denn mal auf eine Probe kommen soll. Und Castorf: „Nee, Christoph, heute, nee, jetzt nicht, nächstes Mal …“ So ging das immer weiter, bis zum Schluss überhaupt keine Musik in der Inszenierung zu hören war, bis auf ein ganz kurzes Lied … Castorf hat dann so etwas gesagt wie: „Na ja, mhmm …“ und ich habe vom Theater Geld bekommen. Ziemlich gut …

Carp: Frank Baumbauer hat dich dann gefragt, ob du für einen sehr politischen Zusammenhang – 50 Jahre Reichspogromnacht – einen Beitrag erfinden würdest.

Marthaler: Es ging um die Rolle der Schweiz im Nationalsozialismus. Und kaum ein Ort in Basel war besser geeignet, über diesen Zusammenhang zu erzählen, als der Badische Bahnhof. Ein deutscher Bahnhof auf Schweizer Boden. Am Bahnhofsturm gab es in den 1930er und 1940er Jahren eine große Uhr, an der Hakenkreuzfahnen hingen. An diesem Ort wurden viele Juden, die den Weg aus Deutschland hinaus suchten, zurückgewiesen. An diese Katastrophe wollten wir erinnern. Zu dem Zeitpunkt, als wir „Ankunft Badischer Bahnhof“ planten, waren die Kontrollen dort immer noch sehr streng. Man musste durch eine Grenzkontrolle und sich ausweisen. Auch die mitgebrachten Taschen wurden manchmal überprüft. So musste schließlich auch das Publikum seine Pässe vorweisen, um in den Bahnhof zu gelangen. Aus den Lautsprechern erklang anstatt „Hier Badischer Bahnhof“ immer wieder das Lied „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“.

Ubenauf: Was für eine Struktur hatte das Projekt im Badischen Bahnhof?

Marthaler: Die Inszenierung fand im gesamten Areal des Bahnhofs statt. Es gab Bilder und einzelne Szenen in dem gelb gekachelten Tunnel zu den Bahnsteigen, sich wiederholende Sequenzen mit Musikern und Akteuren sowie vorproduzierte Klänge aus Lautsprechern und Schließfächern, die von Christoph Renfer und Martin Schütz mit großem Aufwand eingerichtet worden waren. Die Schauspielerin Marion Reuter schrieb an verschiedenen Stellen des Tunnels Teile aus Gedichten von Gertrud Kolmar an die Wände, zum Beispiel den Satz: „Und bin eine kleine Speise in einem Becher von Nacht.“ Diese Texte vergilbten später übrigens nur sehr langsam, und man konnte sie noch Jahre nach unserer Produktion dort lesen … Im Bahnhof gab es damals diese zwei Buffets, die nicht mehr gebraucht wurden. Das eiförmige Buffet auf der Schweizer Seite und das Badische Buffet, wo unglaublich viel verstaubtes Geschirr in den Regalen herumstand. In diesem deutschen Buffet konzentrierte sich zum Ende hin das Geschehen.

Carp: Ich erinnere mich, dass man ziemlich auf sich gestellt war als Zuschauer von „Ankunft Badischer Bahnhof“. Das gab einem die Möglichkeit, einen sehr eigenen Weg zu gehen. Man konnte die Texte lesen, die an die Wände des Tunnels geschrieben wurden, und sich Zeit lassen, Klängen nachzuspüren, die man zunächst nicht zuordnen konnte. Es war insgesamt eine Atmosphäre von Menschen, die extrem verloren schienen an diesem Ort. Plötzlich war dann aus vielen verschiedenen Richtungen des Bahnhofs Musik zu hören, die etwas sehr Trauriges und gleichzeitig Euphorisches hatte, und diese Klänge haben dann alle Zuschauer im Badischen Buffet versammelt.

Marthaler: Solche Ereignisse gab es immer wieder während der Vorstellung. Es waren ja Musiker dabei wie Martin Schütz, Ruedi Häusermann und Jürg Kienberger. Die haben sich plötzlich irgendwo getroffen, eine Wahnsinns-Klezmer-Musik gespielt, dann sind sie wieder auseinandergegangen und haben sich irgendwo im Bahnhof vereinzelt.

Carp: Im Badischen Bahnhof hast du dann später noch zwei weitere Produktionen herausgebracht, diesmal im Schweizer Buffet.

Marthaler: Es gab damals eine Volksabstimmung, die darüber befinden sollte, ob die Schweizer Armee abgeschafft werden sollte, und es kam der Gedanke auf, wir könnten doch auf dieses Ereignis mit einer Inszenierung reagieren. Es entstand dann eine Produktion, in der viel gesungen wurde und die deshalb „Liederabend“ genannt wurde. Auf jeden Fall war dort Monika Koch, eine Schauspielerin, mit der ich sehr viel gearbeitet habe, die in Anwesenheit einer Gruppe von ziemlich traurigen Soldatengestalten als eine Art Oberbefehlshaberin agierte. Sie hat Befehle gegeben, und die Soldaten haben alles ausgeführt. Das war ziemlich befremdend. Es gibt ja in der Schweizer Nationalhymne den Satz: „Wenn der Alpenfirn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet.“ Wir haben das dann umgedichtet und der Produktion folgenden Titel gegeben: „Wenn das Alpenhirn sich rötet, tötet, freie Schweizer, tötet.“ So ähnlich hatte ich es immer im Geschichtsunterricht empfunden, wenn von der Schweizer Armee die Rede war: tapfere Schweizer Waden, und wie diese die Habsburger und alle anderen ferngehalten und in heldenhaften Schlachten vertrieben haben aus unserem Heimatland … Es war damals übrigens nicht ganz auszuschließen, dass unsere Umdichtung der Schweizer Nationalhymne Folgen haben könnte für den Intendanten des Theaters – immerhin handelte es sich bei der Armee um ein echtes Heiligtum des Staates. Frank Baumbauer sagte dann sinngemäß Folgendes: „Wenn man mich deswegen rausschmeißt, dann weiß ich, dass ich nicht hätte herkommen dürfen. Der Titel bleibt.“ Das war mutig. Frank Baumbauer war wirklich ein echter Impresario, der sich vor seine Künstler gestellt hat.

Carp: Die Premiere fand dann auch unter Polizeischutz statt …

Marthaler: Es waren zwei Polizisten in Zivil bei der Vorstellung. Aber es ging alles blendend. Und als dann die Abstimmung über die Abschaffung der Armee kam, stimmten die Schweizer dagegen. Allerdings sehr viel knapper als erwartet; die Stadt Basel zum Beispiel hätte damals die Armee abgeschafft …

Carp: Viele Zuschauer haben ja damals erzählt, dass es in der Armee tatsächlich so zuging wie in deinem „Alpenhirn“.

Marthaler: Zum Beispiel kam der damalige kaufmännische Direktor des Theaters, der früher Offizier gewesen war, in die Vorstellung und sagte anschließend: „Genau so ist es, dieser ganze Leerlauf.“ Später hat er dann seine Offiziersfreunde eingeladen und ist mit denen noch mal in die Aufführung gegangen – die fanden es alle toll. Und auch Frank Castorf, der in der DDR eine Zeit lang als Grenzsoldat verpflichtet gewesen war, beschrieb mir, wie sehr ihn unser „Alpenhirn“ an seine Armee-Erfahrungen erinnerte.

Ubenauf: Die zweite Produktion im Schweizer Buffet des Badischen Bahnhofs hatte, wie „Ankunft Badischer Bahnhof“, ebenfalls ein historisches Datum zum Anlass.

Marthaler: „Zum 700. Jahr des Rütli“ hieß das Jubiläum. Und eigentlich sollte die dazugehörige Inszenierung in einer riesigen leeren Brauereihalle stattfinden. Die Besitzer sind dann allerdings von ihrer anfänglichen Zustimmung abgerückt, und dann zeigten wir „Stägeli uf, Stägeli ab, juhee!“, so hieß die Produktion nach dem gleichnamigen Lied des Gesangstrios Geschwister Schmid, wiederum im Badischen Bahnhof. Dieses Projekt, bei dem ich zum ersten Mal mit dem Schauspieler Ueli Jäggi zusammenarbeitete, begann mit einer ewig langen Pause. Anders gesagt: Als die Zuschauer hereinkamen, lief ganz leise das Lied „S’isch ja nur es chlises Träumli gsi“, dann wurde es dunkel und die Musik ging ganz langsam weg. Und dann war sieben Minuten lang nichts. Absolut nichts.

Carp: Ich weiß noch, wie eine Delegation eines tschechischen Theaters, das eine Partnerschaft zum Theater Basel aufbauen wollte, in zwei Endproben zu Gast war. Hinterher kamen sie mit großen Augen aus der ersten Probe und sagten, dass dieses Theater nicht nur für die Schweiz sei, sondern ein europäisches Theater, das alle verstünden. Die waren vollkommen elektrisiert, unter anderem hatte sie die siebenminütige Pause am Anfang sehr beeindruckt. Als sie an einem der nächsten Abende erneut eine Probe besuchten und besagte Pause nur fünf statt sieben Minuten dauerte …

Marthaler: … das hatten wir ausprobiert, weil wir nicht sicher waren, ob sieben Minuten möglicherweise eine absurde Zumutung darstellten …

Carp: … sagten die tschechischen Theaterleute: Schade, schade, schade.

Marthaler: Ab dann dauerte die Stille zu Beginn wieder volle sieben Minuten. Fünf Minuten waren eindeutig zu lang. Bei sieben Minuten löst sich jede Zeitwahrnehmung auf.

Carp: Nach „Stägeli uf, Stägeli ab“ kam dann irgendwann der Moment, wo Frank Baumbauer dich fragte, ob du nicht auf einer Theaterbühne inszenieren wollen würdest …

Marthaler: Ich wollte das eigentlich überhaupt nicht. Und wusste auch nicht, was ich da inszenieren sollte. Und mit was für einem Bühnenbild. Ich hatte ja bis dahin immer an Orten gearbeitet, die eine originäre Atmosphäre hatten.

Carp: Wir suchten einen Regisseur für Labiches Komödie „Die Affäre Rue de Lourcine“ und es sollte jemand sein, der auf wirklich besondere Weise inszenierte. Ich habe dann Christoph vorgeschlagen. „Der ist doch kein richtiger Regisseur“, hieß es dann zunächst.

Marthaler: Voilà.

Carp: Was ein richtiger Regisseur ist, war damals noch deutlich klarer definiert … Dennoch hat sehr bald allen eingeleuchtet, dass wir Christoph fragen sollten. Dadurch kam es auch zu deiner ersten Begegnung mit Anna Viebrock.

Marthaler: Die es ja zunächst gar nicht machen wollte. Ich traf dann einige andere Bühnenbildner, aber das war alles unvorstellbar. Ich ging also noch einmal zu Anna und habe ihr von einem Konzept erzählt, das ich überhaupt nicht hatte. Unzählige Ideen, und beim Reden wurde alles immer noch skurriler und absurder. Da hat sie plötzlich Feuer gefangen. Bei unserem nächsten Treffen konnte ich mich an nichts mehr erinnern von dem, was ich als Konzept aufgetischt hatte, und habe das auch zugegeben. Aber Anna blieb trotzdem dabei!

Carp: Anna hat dir Ersatzräume gebaut für das, was du sonst im öffentlichen Raum vorgefunden hast.

Marthaler: Anna hat Bühnen gebaut, in denen ich jene Räume wiedergefunden habe, in denen ich sonst am liebsten gearbeitet und mich aufgehalten habe. Mehrzweckräume mit eigenartigen Geheimnissen und verschobenen Dimensionen; Außenräume, die gleichzeitig Innenräume waren, ausgestattet mit Aufzügen, die nur wenige Meter fahren konnten, oder Bootsanlegestellen in unerreichbaren Höhen.

 

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Ankunft Badischer Bahnhof Mit Gottfried Breitfuss, Monika Koch, Barbara Lotzmann, Judith Melles, Marion Reuter, Siggi Schwientek, Jürgen Stössinger, Nikola Weisse – Musiker Ruedi Häusermann, Jürg Kienberger, Christoph Renfer, Martin Schütz – Regie Christoph Marthaler – Künstlerische Mitarbeit Barbara Mundel – Dramaturgie Matthias Lilienthal – Kostüme Anja Kathmann, Bettina Walter – Licht Christoph Ausfeld, Markus Küry – Ton und akustische Installationen Christoph Renfer – Produktion Theater Basel – Premiere am 5. November 1989 im Badischen Bahnhof.

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