Zur Frage der Nation
Ein Brief (30. Oktober 1974)
von Adolf Dresen
Erschienen in: Recherchen 93: Der Einzelne und das Ganze – Zur Kritik der Marxschen Ökonomie (05/2012)
A. Dresen /1017 Berlin / Singerstr. 83/14/6 Berlin 30.10.74
Sehr geehrter Herr Gosselck!
Meine Absage haben Sie hoffentlich in Hinblick auf Ihre Dispositionen rechtzeitig bekommen. Ihr Thema interessiert mich durchaus, eine Klarheit in den zur Debatte stehenden Fragen erscheint mir sehr wichtig. Zur Zeit der Gründung der beiden deutschen Staaten schloß Brecht eine programmatische Rede mit den Worten: „Die Losung der deutschen Klassik gilt immer noch: Wir werden ein nationales Theater haben oder keins.“174 Ist dieser Satz, der am Kopf seiner „Theaterarbeit“ steht, nach 25 Jahren falsch geworden?
In der DDR hat der Begriff der Nation, soweit ich sehe, immer eine größere Rolle gespielt als in der BRD. Der schnelle westliche Kosmopolitismus war vielleicht eine Flucht vor der nationalen Vergangenheit. Die Gegner des Nationalsozialismus, die aus Emigration oder KZ in die DDR zurückkehrten, verwarfen den Begriff Nation nicht, im Gegenteil: sie hatten den Nationalismus nie als Äußerung, sondern als Schändung der Nation verstanden. „Deutschland meine Trauer, Land im Dämmerschein“ hatte Becher, „Deutschland, bleiche Mutter“ Brecht im Exil gedichtet. Sie begriffen nach der Rückkehr ihre Aufgabe als nationale, Nation wurde ihnen synonym für radikale Bewältigung der Vergangenheit.
Während der Konfrontation des Kalten Krieges war „Nation“ beidseitig die Flagge der Offensive....