2.2. Barocker Zickzack
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Versucht man einen direkten Vergleich zwischen Galileis Tasso-Kritik und Goethes Bericht, die immerhin knapp 200 Jahre trennen, so zeigen sich also erstaunliche Ähnlichkeiten: In beiden Fällen wird ein Wahnsinn diagnostiziert, eine Raserei, eine Tollheit, ein Wunderlich-Sein, ein Zustand des »Außer-sich-Seins«, der das Betrachtete als Überschuss kennzeichnet und nun den Betrachter affiziert. In beiden Fällen geht dem Überschuss eine Armut, ein ursprünglicher (Bild-)Mangel, eine Begrenztheit der Vorstellungskraft voraus. Dieses Amalgam aus Überschuss und Mangel wird jedes Mal restlos in ein architektonisches Phänomen übersetzt, in einen Innenraum, der betreten werden muss und der gleichermaßen metaphorisch wie real scheint: Das Studierstübchen wird als Metapher gebraucht, zugleich dient es Galilei zur Polemik gegen eine reale architektonische Tendenz der Zeit; und umgekehrt ist die Villa Pallagonia ein reales Gebäude, das Goethe selbst zur erschöpfenden Metapher des barocken Wahnsinns wird. Trotz oder gerade wegen dieser totalen Metapher erleidet der Betrachter eine zeitweilige Sprachlosigkeit. Angesichts des trivialen, geschmack- und wertlosen Krempels, der sich im Inneren massenhaft anhäuft, gerät er in Definitions- und Begriffsnot. Der Versuch, dieser Sprachlosigkeit zu entkommen, stellt sich dann als Suche nach einem oder mehreren Einheitskriterien dar, in das sich die Häufung übersetzen oder wenigstens bündeln lässt: die Intarsie und die Anamorphose bei Galilei,...