Theater der Zeit

Thema

Die Wirklichkeit der Negation

Jenseits von Shakespeare – Boris Nikitins und Julian Medings „Hamlet“ in der Kaserne Basel

von Dirk Baecker

Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)

Assoziationen: Kaserne Basel

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„Es muss möglich sein“, so der Performer Julian Meding beim Publikumsgespräch nach der Vorstellung, „dass ein Publikum den Performer und der Performer das Publikum einen ganzen Abend lang ablehnen. Der Abend müsste auch dann funktionieren.“ Der Auftritt von Meding in einer Wolfsmaske, ein degoutierter Tonfall, eine nachlässig weiche Körperhaltung, die Ankündigung eines Berichts privater Lebensgeschichten, auf den man sich jedoch nicht verlassen könne, der Hinweis auf die künstliche Situation des Theaters, ein erstes Lied über „Blasen auf der Haut“ machen es dem Zuschauer nicht leicht. Der Performer heißt Julian Meding, vielleicht auch Julian Schmidt oder Uzrukki Schmidt (der Komponist der Songs), vielleicht auch Hamlet. Er kommt aus Rücken, einem Dorf zwischen Braunschweig und Hannover, sein Vater ist kürzlich verstorben, der, nicht mehr zu lokalisieren, nun ein Bild, ein Geist sei, der überall auftauche. Das Dorf ist von einem Wald umgeben, von dem der Sohn erst spät entdeckt, dass er in Wirklichkeit ein Forst ist, ein Produkt der Agrarwirtschaft, einer Absicht, nicht etwa absichtslose, fraglos wirkliche Natur.

Damit sind die entscheidenden Fragen gestellt. In welcher Wirklichkeit wächst man auf? Wer hat sie eingerichtet? Was verbirgt sich hinter dem Anschein? Welchen Unterschied macht das eigene Leben? Medings Hamlet gibt diesen Fragen eine spezifische Wendung: Wie kann man in dieser Wirklichkeit wirklich, also wirksam werden, wenn nur Wirksamkeit Macht und nur Macht Glück bedeuten? Muss man einen Stein nehmen und in eine Fensterscheibe werfen, um Wirksamkeit zu erleben? Muss man sich selbst zerstören? Der Performer stimmt ein weiteres Lied an, das Barockensemble Der musikalische Garten tritt auf, begleitet zunächst die Songs, wird jedoch zunehmend eigenständig und entwickelt im Laufe des Abends einen Basso continuo, der Wohlklang mit Bedrohlichkeit und süßen Schmelz mit stürmischer Unruhe verbindet.

Die Wirklichkeit kippt vom schönen Schein in die üble Machenschaft. Shakespeares Leidenschaft für Verwechslungsspiele wird im Hamlet auf die Spitze getrieben – und führt zu der Frage, wer worauf welche Ansprüche erheben kann: Hamlet auf sein Studium in Wittenberg, Ophelia auf Hamlet, Claudius auf Gertrude, Claudius auf Dänemark, Gertrude auf ihren Sohn usw. usf. Und ausgerechnet ein Theaterstück, eine neue Fiktion, soll Klarheit schaffen? Man ahnt die Mausefalle, das Stück im Stück, das Hamlet aufführen lässt, um seinen Stiefvater des Mordes an seinem Vater zu überführen. Er täuscht Wahnsinn vor, um das „System“ der Täuschung mit Wirklichkeit zu untergraben. Er fordert Normalität, vor allem jedoch Solidarität. Eine große Szene, wenn Meding im Gegenlicht der Scheinwerfer auf und ab springt und vergeblich nach Solidarität ruft. Danach ein intimer Moment, in dem Meding sich der Kamera nähert. Er wünscht sich einen präzisen Blick auf die Dinge, um sie unterscheiden und benennen zu können. Er wünscht sich einen Raum, in dem er sich sicher fühlen kann. Er wünscht sich, nicht Ich sein zu müssen: um 10 Uhr morgens sein, um 10 Uhr abends nicht-sein und um 14 Uhr beides zu können. Bei Shakespeare hieß es: „To be, or not to be: That is the question.“ In Boris Nikitins und Julian Medings „Hamlet“ könnte es heißen: „Sein und Nicht-sein, das ist meine Wahl.“ Meding liegt am hinteren Rand des Podests vor der Leinwand. Das Quartett steigert sich zu einer wummernden Drohkulisse. Meding steht auf und verneint: „Dies ist nicht der vierte Akt, dies ist nicht der fünfte Akt“, zählt stockend, rasend, wütend weiter bis: „Dies ist nicht der einhundertfünfte Akt.“ Wirklichkeit und Möglichkeit laufen nicht mehr synchron. Meding zieht sich eine Frankensteinmaske über und singt ein abschließendes Lied: „Ich bin eine Wasserleiche in deiner Gerichtsmedizin.“

Das Thema des Abends ist der Umgang mit einer Wirklichkeit, die ihre eigene Negation enthält: den Mord, die Verrücktheit, den Tod, die mangelnde Synchronisation. Die Faszination des Abends ist die Entdeckung, dass die Negation so wirklich ist wie das, was sie negiert. Aber worauf zielt sie, wohin führt sie, was – außer der Zerstörung – bewirkt sie? Wenn die Wirklichkeit ein Produkt der Täuschung ist, kann die Negation nicht einfach Wahrheit schaffen. Sie verwickelt sich in die Machenschaften, die sie aufdecken will, vergrößert das Unheil der Welt. Wie kann man gelassen bleiben, wenn das Wahre und das Falsche denselben Anspruch auf Wirklichkeit erheben? Ludwig Wittgenstein zeigte, dass der Sinn der Sprache darin liegt, wahr und falsch sein zu können. Erst in der konkreten und immer besonderen Situation kann man fragen und entscheiden, ob etwas wahr oder falsch ist. Dann hat man es nicht mehr mit Sinn, sondern mit Behauptung und Bedeutung zu tun. Behauptungen sind wahr oder falsch; doch um es sein zu können, müssen sie sich auf eine Sprache berufen können, in der beides möglich ist.

Boris Nikitin, der Regisseur des Abends, Julian Meding, der Performer, und das Barockquartett zeigen, dass die Offenheit für die Negation nicht nur eine Sache des Sprachsinns ist. Die Wirklichkeit ist selbst eine Kippfigur zwischen Position und Negation. Das kann man konzeptionell denken, konkret performen und musikalisch untermalen. Es genügt, Elemente der Verweigerung in die Wirklichkeit zu mischen, um zu sehen, dass diese selbst auch negativ ist. Der Metaphysik des Seins, die seit Platon und Aristoteles dominiert, stellen Hegel, Marx, Adorno, Sartre und andere in diesem Sinne eine Physik des Nichtseins gegenüber. Gotthard Günther konnte fordern, den Negativsprachen der Reflexion mindestens so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie den Positivsprachen der Behauptung.

Shakespeares Hamlet konnte zwischen dem einen und dem anderen noch schwanken und zögern. Nikitins und Medings Hamlet ist ab der ersten Minute des Stücks die Figur einer verweigerten Wirklichkeit und wirklichen Verweigerung. Selten sah man eine Ästhetik der geschlechtlich unbestimmt bleibenden Körperlichkeit, wie sie Meding ebenso unaufgeregt wie eindrucksvoll aufzurufen versteht, nicht für die Inszenierung von Marginalität, sondern für die Diagnose einer fruchtbar verunsicherten Gegenwart genutzt. Diese Unbestimmtheit zieht alles andere in ihren Bann, so als hinge jede Weltwahrnehmung letztlich daran, bestimmen zu können, wer Männlein und wer Weiblein ist. Sie zeigt, dass es neben dem Entweder-oder ein Sowohlals-auch gibt, hautnah begleitet, wenn nicht sogar initiiert – das war Wittgensteins Verdacht – vom Weder-noch. Und wenn man gar nichts wäre, weder männlich noch weiblich? Es gibt diese Negativsprache der Reflexion auch auf der Ebene von Gesten und Tonfällen. Die Ablehnung ist Programm und zugleich Methode. Man kann sie persönlich nehmen; man kann sich emotional beunruhigen lassen; man kann aber auch die Präzision und Virtuosität bewundern, mit der winzige Verschiebungen in Körperhaltung, Stimme und Blick Negativität kommunizieren, ohne je an Wirklichkeit zu verlieren.

Medings Ästhetik ist zugleich eine kulturtheoretische Studie. Denn sie führt vor, an welchen normalisierten Gesten und Tonfällen umgekehrt die Wirklichkeit hängt, derer wir uns üblicherweise vergewissern. Die Disziplinierung des Körpers ist kein neues Thema. Aber hier schärfen Theater und Performance unsere Sinne dafür, wie leicht wir zu irritieren sind und wie sehr wir Anlass haben, uns des guten Sinns dieser Irritationen zu vergewissern. Diese Überprüfung beginnt mit Signalen der Männlichkeit, der Weiblichkeit und mit der allzu raschen Bereitschaft, die einen deutlich von den anderen zu trennen. Aber Medings Ästhetik reicht zugleich weit darüber hinaus. Die kulturelle Vielfalt einer globalen Gesellschaft auf Wanderschaft in zunehmender Enge und die digitalen Verschiebungen des Verhältnisses von Mensch und Maschine zwingen dazu, den Mechanismen unserer Wirklichkeitskonstruktion etwas genauer auf die Spur zu kommen. Gefühl und Intellekt, Kultur und Gesellschaft sind feiner verwoben, als man vielfach denkt. Vielfach hat man kaum eine Ahnung davon, worauf man ablehnend reagiert und wo man nach Zustimmung sucht. Die Abstimmungen zwischen Körper und Intellekt, zwischen Kultur und Gesellschaft sind gelaufen, bevor das Bewusstsein ihrer gewahr wird. Um hier nicht zu Automaten zu werden, brauchen wir die Performance.

„Hamlet“ hebt die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im zeitgenössischen Performancetheater auf eine neue Stufe. Es wird nicht mehr das Vertraute mit dem Unvertrauten, das Eigene mit dem Fremden verglichen, sondern es wird die Wirklichkeit selbst als Material entdeckt, das verschieden ausgelegt werden kann, ohne uns der Entscheidung zu entheben. Die Wirklichkeit ist positiv-negativ; sie ist wahr-falsch. Auf der Bühne lässt sich der Blick für die Kippfiguren schärfen und lässt sich einstudieren, wie wir es lernen können, etwas robuster auch selbst zu kippen. //

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