thema II: theaterland baden-württemberg
Am Ende der Saturiertheit
Der Heidelberger Stückemarkt 2017 geht den Gefährdungslagen unserer Zeit nach
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Baden-Württemberg
Wir leben zweifelsohne in einer Komfortzone. Unsere Theater können selbstbewusst in eine freie Gesellschaft hineinwirken. Man darf und will politisch sein. Gerade wer die Beiträge der Ukraine, des diesjährigen Gastlandes des Heidelberger Stückemarkts, Revue passieren lässt, weiß die Errungenschaften einer liberalen Demokratie ganz neu wertzuschätzen. Freie Kunst muss man sich erst einmal leisten können. An kämpferischer Verve fehlt es den Schauspielern und Regisseuren des von Krieg und Korruption erschütterten Landes glücklicherweise nicht. Im Gegenteil: Selten hat man so forcierte Bühnenkunst sehen können. Während die osteuropäischen Gäste die saturierte Universitätsstadt am Neckar aufrütteln, mangelt es Teilen der deutschsprachigen Produktionen hingegen sichtlich an Dringlichkeit. In dem Stück „Der blaue Würfel“ von David Gieselmann ringt eine neureiche Familie mit ihrer Nachbarschaft um den Besitzanspruch auf den titelgebenden Kubus, der auf wundersame Weise Zeitreisen zu ermöglichen scheint. Schauspielerisch liefert das Ensemble zwar eine Glanzleistung, der Text erinnert jedoch mehr an das schlechte Skript eines Austin-Powers-Films. Na ja, aus einem klamaukigen, schwachen Text über die vermeintliche Sorglosigkeit unserer westlichen Welt, die sonst nichts antreibt, als ihren Materialismus zu verteidigen, hat das brillante Stadttheater das Beste gemacht.
Und wie verhält es sich mit den großen Playern, die man in die Metropolregion Rhein-Neckar einladen konnte? Auch hier fällt die Bilanz gemischt aus. Enttäuscht die Wiener Burgtheater-Inszenierung von Ferdinand Schmalz’ „Der Herzerlfresser“, ein Mixtum compositum aus Krimi, Volksstück, Liebesgeschichte und Globalisierungskritik, auf ganzer Linie, setzt Milo Raus „Empire“, der Abschluss seiner Europa-Trilogie, schon wesentlichere Akzente: Gefilmt von einer Kamera, erzählen die vier Protagonisten in einem kleinen Wohn- und Esszimmer abwechselnd von ihren Erfahrungen zwischen Flucht, Gewalt und dem Versuch, sich nicht selbst zu verlieren. Statt auf Fiktion setzt „Empire“ auf Wahrhaftigkeit, obgleich das Werk das artifizielle Setting durch die Anwesenheit des Aufnahmemediums zugleich stets mitreflektiert.
Eines steht nicht zuletzt nach dieser ergreifenden Realisierung fest: Der Trend geht augenscheinlich in Richtung Dokumentartheater, einer Geburt eigentlich der sechziger Jahre. Ganz besonders gilt dies wohl für das diesjährige Gastland: „Man muss ja verstehen, dass die meisten staatlichen Theater in der Ukraine immer noch die alten Pfade beschreiten. Das Dokumentarische, wofür eher die freie Szene steht, kann hingegen die Probleme im Land ganz klar benennen. Es ermöglicht schlichtweg auch, die Krisen in der Gesellschaft und Politik erst einmal für die breite Bevölkerung verständlich zu machen“, so der Intendant Holger Schultze. Was man in jener zerklüfteten Nation zwischen russischer und europäischer Einflusssphäre tatsächlich denkt, erfahren die Zuschauer etwa in „Wo ist Osten?“ von Natalia Vorozhbyt und Alik Sardarian. In zwei ironisch gebrochenen Monologen geben sie den Stimmen aus dem Osten der Ukraine infolge der Krim-Besetzung Ausdruck.
Während die Künstler sich hier zumindest noch ihren Sarkasmus bewahren, zeugt das Drama „Haus der Hunde“ vom Dakh Theater in Kiew in der Regie von Vladislav Troitsky, der wohl stärkste Beitrag dieses Stückemarkts, von einer beklemmenden Finsternis. Wir werden eines Alltags im Gefängnis gewahr, wo sich ganz eigene Hierarchien herausgebildet haben. Man isst oder besser: frisst Brot mit Milch. Archaische Triebe lassen den Menschen zum Tier werden. Es wird mit Blechschalen gegen das Eisen der Gitter geknallt. Wer nicht an der Einsamkeit zugrunde geht, den hält die Angst wach – ein Unbehagen, das sich von Anfang an direkt auf das Publikum überträgt. Mal sitzt es um den halbhohen Käfig herum, mal obendrauf oder auch mittendrin. Kaum auszuhalten sind die Schreie, Schläge und Erniedrigungen. Eine Ahnung von Freiheit gibt es allein im Gesang des zweiten Teils der Aufführung. Nun findet sich die Gruppe der Schauspieler zu einer Art Oratorium zusammen. Als würden ihre Lieder in einen anderen, fernen Raum weisen, vermögen sie der Enge zumindest imaginär zu entkommen.
Dies berührt den Kern des Stückemarkts. 1984 gegründet, hat sich das Festival nicht nur immer mehr als ein Garant für Uraufführungen und damit als wichtiger Impulsgeber für die deutschsprachige Dramatik etablieren, sondern seit 2001 auch als Förderer und Spiegel der internationalen Theaterszene bewähren können. Holger Schultze hat dafür seit Beginn seiner Intendanz 2011/12 ein gutes Gespür bewiesen: 2013 erhielt man beispielsweise intensive Einblicke in das gesellschaftliche Innenleben eines finanziell und politisch gebeutelten Griechenlands, in diesem Jahr kam mit der Ukraine der Krieg an den Grenzen unseres Kontinents ganz nah an uns heran, 2018 verspricht nicht minder spannungsvolle Auseinandersetzungen, da Nordkorea in Heidelberg gastieren wird. „Es geht uns keineswegs darum, von oben auf andere Kulturräume zu blicken, die vielleicht in der Theaterentwicklung noch nicht so weit sind wie wir. Wir wollen vielmehr ins Gespräch kommen. Dies setzt voraus, dass wir das Fremde zunächst einmal zulassen. Das ist doch Theater: die Konfrontation mit dem Anderen“, so Schultze.
Offenbar hat die diesjährige Jury das ähnlich gesehen und mit Maryam Zarees „Kluge Gefühle“ einen herausragenden Text gewürdigt: Was als Satire auf die Dating-App-Generation beginnt, entpuppt sich im weiteren Verlauf als Annäherung an eine mehrschichtige Mutter-Tochter-Beziehung im Lichte der Repressionen im Iran. Man muss sagen: eine durch und durch richtige Entscheidung, nicht nur aus politischen Erwägungen heraus. Dem Text wohnt ein ungemeines Sentiment inne, ohne aufdringlich zu sein. Es ist die Balance, die ihn hält: zwischen Rückschau und Gegenwartsanalyse, intimer Familienstory und Geschichtsbewältigung.
Selbst wenn all die Beiträge dieses insgesamt erfreulichen Szene- und Werkpanoramas heterogener kaum sein könnten, eint sie eine Signatur. Sie alle loten auf irgendeine Weise das Verhältnis von Macht und Autonomie aus. Theater generiert Bewegung und fordert gleichzeitig Abgrenzung oder Identifikation. Man muss Position beziehen, ob mit revolutionärer Gebärde, galligem Humor oder Melancholie. Die Zweitaufführung von Maria Milisavljevics Parabel „Beben“ in der Regie von Erich Sidler nimmt sich diesbezüglich keineswegs zurück. Dass die Tektonik der gesättigten westlichen Mediengesellschaft nicht ewig halten kann, wird dem Zuschauer spätestens klar, wenn die ominöse Gottesfigur „Der Mann an der Kante von Ulro“ ihre Muskeln spielen lässt und das heitere Treiben zwischen Playstation-2-Konsum und Social-Media-Voyeurismus in einen Menschheitskrieg kippen lässt. Man mag dieser Aufführung vorwerfen, dass sie die Ironie und mythische Qualität des Textes nicht ausreichend ausspielt. Sei’s drum. Eine mächtige Wirkung kann man der Inszenierung nicht absprechen. Allmählich überträgt sich die zunehmende Bedrohung, die von der Chimäre jenes äußeren Riesen ausgeht, auf die Körper der Akteure, die bald – wie in einem epileptischen Anfall gefangen – über den Bühnenboden zucken.
Leben wir also in einer Blase? Haben wir uns zu lange im Wegsehen und Verdrängen der Realitäten geübt? Der Stückemarkt 2017 hat vor Augen geführt, welchen inneren wie äußeren Bedrohungen sich unsere Gesellschaft ausgesetzt sieht. Während in unserer Mitte Passivität und Selbstzufriedenheit – man denke an „Der blaue Würfel“ oder ebenso „Beben“ – sicherlich die größte Gefahr darstellen, fassen um uns herum totalitäre Regime Fuß. Die Ukraine ist dafür nur ein Beispiel. So bleibt am Ende dieses Festivals das Bewusstsein, dass sich vermeintliche Gewissheiten in der Spätmoderne längst aufgelöst haben. Das Stadttheater hat damit unsere Wahrnehmung nachhaltig verunsichert. Und ganz ehrlich: Was wäre eine Schauspielkunst wert, die schnell gefundene Antworten komplexen Fragen vorzöge? //