1.1. DIE VERMESSUNG DER HÖLLE, ODER: DIE IDIOTEN DER PRÄZISION
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Im Jahr 1587 betraute die Florentinische Akademie, die sich seit ihrer Gründung im Jahr 1540 darum bemühte, das »Volgare«, die italienische Sprache also, gegenüber dem gelehrten Latein aufzuwerten und zu verbreiten, den vierundzwanzigjährigen Physiker Galileo Galilei mit der Aufgabe, in einen (Wett-)Streit um jenes Werk einzugreifen, das bis heute vielfach als entscheidende literarische Manifestation des »Volgare« angesehen wird: Dantes »Göttliche Komödie«. Der Streit, zu diesem Zeitpunkt bereits über hundert Jahre alt, war durch den Florentiner Antonio Manetti ausgelöst worden, einen Mitarbeiter und Schüler Filippo Brunelleschis, der als dessen Biograph die erste schriftliche Darstellung des berühmten Spiegelexperiments vor dem Baptisterium von Florenz gegeben hatte und zudem als Verfasser der »Novella del Grasso«, der »Novelle vom dicken Holzschnitzer«, bekannt ist:2 In den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts hatte Manetti versucht, die Topographie des Infernos entlang der Dante’schen Beschreibungen zu berechnen und zu vermessen. Er war dem spätmittelalterlichen Epos (Dante verfasste es zwischen 1307 und 1320) also mit den neu entwickelten Erkenntnisinstrumenten der Renaissance begegnet: mit Maßen, Proportionen und Perspektivgesetzen. Nicht hinreichend abgeschlossen, hatte Manettis Unterfangen zahlreiche Nachfolger gefunden, so dass die Bemühung, Dantes Inferno mit den Mitteln der Geometrie nachzubilden und darzustellen, im Florenz des frühen 16. Jahrhunderts geradewegs zum intellektuellen Sport...