Theater der Zeit

4 Kompositionsprozesse

von Julia Kiesler

Erschienen in: Recherchen 149: Der performative Umgang mit dem Text – Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater (09/2019)

4.1 Der Text als Partitur

Literarische Texte können immer auch als Partitur für das Sprechen und gestische Verhalten gelesen werden. „Ihre Interpunktion ebenso wie andere textuelle Zeichen (Typographie, Absätze, Versmaße und Strophen etc.) geben Hinweise auf Sprechhaltung und Vortragsart, auf Gliederungen und Prosodie des Vortrags.“ (Meyer-Kalkus 2001, 464) In jedem Dramentext, so auch im Stück Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch finden sich derartige „Indikatoren der Oralität“ (Paul Zumthor zit. nach: Meyer-Kalkus 2001, 463) oder, wie Neuber es formuliert, spezifische Gestaltungspotentiale, „die in der Zeichenstruktur angelegt sind und bestimmte gestalterische Realisationen nahe legen“ (Neuber 2013b, 209). Es obliegt den Schauspieler/-innen, Sprecher/-innen oder Regisseur/-innen, solche Anweisungen zu berücksichtigen oder sie zu ignorieren bzw. zu transformieren. Einen Text als Komposition bzw. Partitur aufzufassen, ist demnach nicht neu. Ein Charakteristikum des zeitgenössischen Theaters ist es jedoch, bestehende (dramatische) Texte durch Musikalisierung und Rhythmisierung zu überformen oder aber Texte, die speziell für eine jeweilige Inszenierung generiert werden, in eine musikalische Partitur bzw. Notation zu setzen.

Diese Entwicklung, in der (post-)dramatische Texte als „Partituren“ wahrgenommen werden, drückt sich entsprechend in der Schreib- und Aufführungspraxis aus, die sich ästhetisch polyphoner äußert, Stimmen stärker orchestriert und sich dafür interessiert, wie sich Sprache z. B. durch Stimmentransfers,...

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