Theater der Zeit

Kunst ist nicht erlaubnispflichtig

von Simone Sterr

Erschienen in: Kunst ist nicht erlaubnispflichtig – Das Landestheater Tübingen in der Intendanz von Simone Sterr (06/2014)

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100 Menschen laufen mit Radios am Ohr durch die Stadt. Auf einer Bauruine steht ein chinesischer Investor und ruft Tübingen als neue Hochburg der Textilindustrie aus, inklusive Dumpingpreise und Kinderarbeit. Im Neckar droht ein Ensemblemitglied zu ertrinken, und die Menge wird aufgefordert, doch im wahrsten Sinne des Wortes einzuspringen für ihr Theater. Das Wasser des Stadtbrunnens wird an Passanten verkauft, und ein Demonstrationszug (ungenehmigt!) rauscht über die Hauptverkehrsader der Innenstadt. So geschehen beim „Radiospaziergang“ zur Eröffnung der Spielzeit 2005/06. „Wenn wir das alles anmelden, kriegen wir das nie durch“, fürchteten wir. „Kunst ist nicht erlaubnispflichtig“, sagte der Leiter des Ordnungsamtes Rainer Kaltenmark. Das war mehr als ein Willkommen. Es war ein Bekenntnis zur Freiheit, eine Einladung, die anarchische Energie und die subversive Kraft des Theaters zu nutzen.

Das haben wir getan. Neun Jahre lang. Dieses Buch soll ein unaufdringlicher Rückblick sein, eine leichte Erinnerung an das, was wir versucht und erforscht haben.

Neben der theatralen Intervention und dem direkten Dialog ging es uns immer um die Fähigkeit des Theaters, komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen, die Vernetzung von Themen zu beschreiben. Deshalb ist dieses Buch in thematische Blöcke aufgeteilt. Deshalb haben wir es so vielstimmig und disparat gestaltet, wie das Theater es auch ist.

Das Wesen des Theaters ist seine materielle Flüchtigkeit. Die wahren Glücksmomente, die zwischen Bühne und Publikum entstehen, sind in ihrer Einzigartigkeit nicht zu dokumentieren. Dennoch haben wir es für angemessen gehalten, dieses Buch zu machen.

Es soll mehr sein als eine Chronik und weniger als eine Selbstbespiegelung.

Lesen, stöbern, schauen Sie. Ärgern Sie sich über das, was Sie verpasst haben, und freuen Sie sich daran, dabei gewesen zu sein.

Allen, die für dieses Buch gearbeitet haben, die Texte geschrieben, im Archiv gestöbert, korrigiert und redigiert haben, an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für die unsentimentale und schöne Arbeit.

Nicht alle uns zugesandten Beiträge konnten wir aufnehmen. Auch das gehört zum Theater: Am Ende gibt es immer zu viel kreatives Material, als zu wenig.

 

Simone Sterr
LTT-Intendantin

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