Wort und Zeit
Theaterverlage in Mexiko
von Edgar Chías
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Mexiko (03/2015)
Assoziationen: Nordamerika
Seit zehn Jahren durchlebt Mexiko eine heftige Krise, deren Widersprüchlichkeit faszinierend ist. Öffentliche Diskurse und politische Repräsentationssysteme waren noch nie so schwach wie heute. Die Wirklichkeit scheint auseinanderzubrechen. Auf Stellungnahmen und Reden der Regierungsvertreter antwortet fast unmittelbar ein riesiger, anwachsender Stimmenchor, der aus allen Gesellschaftsbereichen dringt und seinem Misstrauen gegenüber politischen und auch kulturellen Vorgaben Ausdruck verleiht. Paradoxerweise scheint die mexikanische Dramatik gerade jetzt eine ihrer Sternstunden seit den Avantgardebewegungen des letzten Jahrhunderts zu erleben.
Seit dem Jahr 2000 und mit der Entstehung des von Carlos Nóhpal geleiteten unabhängigen Verlags Anónimo Drama (Drama Anonym) ist die Art und Weise, Theatertexte in Mexiko zu publizieren, deutlich in Bewegung geraten. Zu jenem Zeitpunkt besagte die Statistik der Inszenierungen in den wichtigsten Produktionsstätten des Landes – Festivals eingeschlossen –, dass zu 80 Prozent ausländische Autoren und zu 20 Prozent mexikanische Autoren aller Epochen gespielt wurden. Zählt man heute die Premieren in mexikanischen Produktionsstätten, so hat sich dieser Prozentsatz bis 2014 exakt umgekehrt. Das ist auf den nationalen und internationalen Erfolg einer vielköpfigen Autorengruppe zurückzuführen, aber auch und vor allem auf Plattformen, die Öffentlichkeit schaffen. Dazu zählen das Festival de la Joven Dramaturgia (Festival für junge Dramatik, 2003 gegründet), die Website dramaturgiamexicana. com (Mexikanische Dramatik, 2006 gegründet) und die Etablierung der zwei wichtigsten Verlagsprojekte auf mexikanischer und lateinamerikanischer Ebene: Ediciones El Milagro (Verlag Das Wunder), 1992 von David Olguín gegründet, und Paso de Gato Ediciones (Verlag Auf Katzenpfoten), 2001 von Jaime Chabaud gegründet.
Der Verlag Ediciones El Milagro entstand aus einer Initiative, in deren Rahmen ein mexikanischer und ein ausländischer Autor verlegt wurden. „Bald fiel uns auf, wie unterschiedlich die Erfolgsaussichten eines mexikanischen Autors und eines Autors aus einem Land sind, das der dramatischen Literatur von jeher größere Bedeutung beimisst. Deshalb machten wir den Vertrieb unserer eigenen Autoren zu einem Schwerpunkt des Projekts. Wir wollen die Arbeit von Autoren begleiten, die uns wichtig erscheinen. Wir vier Lektoren entscheiden, wer bei El Milagro publiziert wird“, so David Olguín. Der Verlag Paso de Gato arbeitet auf ähnliche Weise. Jaime Chabaud: „Die Komposition von Gesamtbildern, die als Ganzes Sinn ergeben, rechtfertigt vermeintliche Fehlentscheidungen. Die Realität zwingt uns dazu, einige Auftragswerke miteinzubeziehen, die der Wirtschaftlichkeit des Verlags zugutekommen. Wenn unser aus sieben Augenpaaren bestehender Herausgeberrat einen Text für mangelhaft hält, wird er nicht veröffentlicht.“
Beide Verleger sind der Meinung, dass Erfolg und Bestehen ihrer Verlage auf deren Einmaligkeit zurückzuführen sind. In diesem Sinne beschreibt Olguín: „El Milagro soll ein Schaufenster mexikanischer Texte sein, umfassend und vielfältig. Die Anthologiereihe, für die wir bekannt sind, und die Sammlung Teatro Emergente (Aufstrebendes Theater), bei der wir auf junge Autoren setzen, erfordern viel Verlagsarbeit im engeren Sinne. Aber was El Milagro wirklich ausmacht, ist die Art der Publikationen. Wir machen sehr hochwertige Produkte, die es mit denen bester Literaturverlage aufnehmen können.“ Chabaud sagt: „Wir versuchen, Theatertexte aus unserer fernen, mittleren und jüngsten Vergangenheit zusammenzustellen, die verschiedenste regionale und generationsspezifische Eigenheiten aufweisen. Was die Theorie betrifft, so wollen wir den Dialog zwischen dem in unserem und in anderen Sprachräumen entstehenden Gedankengut fördern. Darüber hinaus gibt es einen eigenen Bereich, der jungen Menschen gewidmet ist. Bücher aus dem Kinderund Jugendtheater erschienen zuvor nur vereinzelt, bis wir unsere Reihe herausbrachten – die neben den theatertheoretischen Publikationen übrigens die erfolgreichste ist.“
Auf die Frage, ob die Verlage den mexikanischen Autoren mehr Geltung im Ausland verschaffen könnten, sagt Olguín: „Den Zusammenhang gibt es natürlich, aber dieses Phänomen hat hauptsächlich mit der Entwicklung und der Qualität der Autoren zu tun. Wir brauchen größere Produktionen, mehr Sichtbarkeit und langfristige Projekte, die Ausbildungs-, Forschungs- und Schreibprozesse verbinden. In Lateinamerika ist es schon vorgekommen, dass ein Ensemble oder ein Regisseur ein Stück inszeniert, weil ihm das Buch in die Hand gefallen ist.“ Chabaud dazu: „Seit Verlagsgründung hat es unseres Wissens wenigstens 40 Inszenierungen mexikanischer Autoren im Ausland gegeben, weil die Bücher in die richtigen Hände gelangt sind.“ //