Theater der Zeit

Theorien der Immersion

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

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Das deutsche Substantiv »Immersion« leitet sich vom spätlateinischen Nomen »immersio« ab; »immergere« ist die dazugehörige Verbform. Sowohl der Duden als auch Meyers Großes Konversationslexikon und der Brockhaus verzeichnen unter den jeweiligen Einträgen von »Immersion« das deutsche Wort »Eintauchung« als primäre Bedeutung. Die Lexika unterscheiden Begriffsverwendungen in den Bereichen Medizin (»teilweises oder vollständiges Eintauchen des Körpers in ein Teil- oder Vollbad«, Brockhaus, 2006, S. 134f.), Physik (»die Verwendung eines Mediums zwischen Objekt […] und einem abbildenden optischen System«, ebd.), Geologie (»Überflutung eines Festlandes«, ebd.) und Astronomie (»Eintritt [eines Planeten in den Schatten des anderen]«, Meyers Großes Konversationslexikon, 1908, S. 772). Zudem verweisen alle – zum Teil mit separatem Eintrag – auf die kulturelle Praxis der Immersionstaufe bei den Baptisten. Wiederkehrend ist auch der Verweis auf den Gebrauch des Begriffs »Immersion« im Zusammenhang mit Techniken des Spracherwerbs: wenn man eine Fremdsprache dort lernt, wo man von ihr durch die sie sprechenden Muttersprachler*innen umgeben ist (vgl. PONS Großwörterbuch, 2006, S. 474; The Oxford English Dictionary, 1989, S. 684).8

Während in den französisch- und deutschsprachigen Lexika vor allem das Substantiv »Immersion« geführt wird, scheint im englischen Wortschatz insbesondere die Verbform »to immerse« arriviert zu sein.9 Die am häufigsten verzeichneten, aktivischen Synonyme sind »to dip«, »to plunge«, »to merge« oder »to baptize« sowie – passivisch – »to become absorbed«. Die primäre Verwendung des Tätigkeitsworts anstelle des Substantivs lenkt den Fokus auf die Rolle des Subjekts: Wer oder was taucht in was ein? Das Oxford English Dictionary unterscheidet die Einträge a) »[to] immerse«, b) »immersed« und c) [to] »immerge«, wodurch eine Präzisierung und Differenzierung von a) Aktion (des Eintauchens von X in Y), b) Zustand des Subjekts X im Moment der Immersion, c) Zustand der Verschmelzung XY im bzw. nach dem Akt der Immersion möglich wird.

Vor allem im Französischen und Englischen wird »Immersion« auch vielfach im übertragenen Sinne verwendet. So beschreiben Formulierungen wie »to plunge into a state of action or thought« (The Oxford English Dictionary, 1989, S. 683), »to involve deeply« (ebd.) oder reflexiv »se plonger dans les livres« (Dictionnaire culturel en langue française, 2005, S. 1839) weniger den konkret materiellen Prozess des Eintauchens von Körper X in Substanz oder Umgebung Y als vielmehr das metaphorische Eintauchen des Subjekts in einen Prozess gedanklichen »Vertiefen[s]« (Oxford Duden – German Dictionary, 1990, S. 1176).

Lexika mit Erscheinungsdaten in den nuller Jahren verzeichnen unter »Immersion« eine weitere – dritte – Bedeutungsebene, nämlich »das Eintauchen in eine computergenerierte ›künstl[iche] Welt‹« (Brockhaus, 2006, S. 134f.) oder »Immersion dans l’image: expérience de réalité virtuelle […]« (Dictionnaire culturel en langue française, 2005, S. 1839). In dieser Verwendungsweise wandert der Immersionsbegriff dann auch als disziplinär konturiertes Konzept in Fachlexika der Kunst- und Medienwissenschaften sowie Game Studies ein. Weil für Immersion in eine virtuelle Realität neuere Technologien, Apparaturen und Interfaces entscheidend werden, bekommt der Immersionsbegriff in diesen Kontexten eine stark medienorientierte Ausrichtung, wodurch die Bedeutungsdimensionen von Immersionsprozessen in materiellen, analogen Zusammenhängen (wie bei der Taufe oder dem Spracherwerb) überlagert werden (vgl. Dogramaci/Liptay, 2016, S. 1).

Mit dem Aufkommen der Diskurse zur virtuellen Realität (VR) seit Ende der neunziger Jahre hat der Immersionsbegriff auch Einzug in die deutsch- und englischsprachige Kunst- und Literaturwissenschaft – und damit ins Feld der Ästhetik – gehalten. Eine beachtliche Vielzahl an Wissenschaftler*innen aus der sich Mitte der nuller Jahre herauskristallisierenden, transdisziplinären Immersionsforschung rekurriert dabei entweder auf die Studie Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart (2001) von Oliver Grau oder auf Janet Murrays Hamlet on the Holodeck (1997) als Einsatzpunkte für ein (neues) Relevantwerden des Immersionsbegriffs. Der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Oliver Grau begreift Immersion als eine »sinnliche und rezeptive Verbindung [des Betrachtenden] zum Bild« (Grau, 2001, S. 23f.), die dadurch gekennzeichnet sei, dass der Betrachtende aufgrund der Suggestionskraft des jeweiligen Bildes einen »möglichst hochgradige[n] Eindruck von Anwesenheit am Bildort« (ebd., S. 14) erfahre. Das Anliegen seiner Monografie besteht darin, aufzuzeigen, dass von einer Kontinuität immersiver Bildräume auszugehen sei (vgl. ebd., S. 19). So setzt er die »geschichtliche Verwurzelung des Konzepts der VR« (ebd., S. 26) bereits bei antiken Bildräumen wie der Villa dei Misteri (60 v. Chr.) an. Barocke Landschaftsräume, Deckenpanoramen des 16. sowie Schlachtpanoramen des 19. Jahrhunderts, der Einsatz des Kinos um 1900, avantgardistische Raumexperimente der Futuristen und Dadaisten Anfang des 20. Jahrhunderts, Simulatoren in Vergnügungsparks der fünfziger Jahre und Expanded Cinema-Formate der sechziger Jahre – sie alle ermöglichen nach Grau das »Prinzip Immersion« (ebd., S. 25). Je nach technischem Entwicklungsstand seien sie im Stande, die Distanzierungskraft der Rezipierenden zu vermindern und dadurch eine temporäre »Verschmelzung« (ebd., S. 30) von Betrachter*in und Bild/-raum im Akt der Rezeption zu erzeugen.

Die Studie Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace der Literatur- und Medienwissenschaftlerin Janet Murray interessiert sich vor allem für neue Erzählweisen, die durch den Einsatz von Computern möglich werden. Murray fokussiert Immersion nicht als visuelle Strategie der Bildwahrnehmung, sondern als ein zuvorderst psychologisches (bzw. imaginäres) Eintauchen der Lesenden oder Spielenden in eine distinkte, fiktionale Welt. Für sie ist Immersion – neben agency und transformation – ein dominantes »ästhetisches Prinzip« (Murray, 2017, S. 223, dt. TS) des Geschichtenerzählens (storytelling) mit neuen Medien, für das – deutlich expliziter als bei Grau – das konkrete, aktive Mit-Wirken der Rezipierenden von Bedeutung sei, weshalb zu ihrem Beispielkorpus auch Fun Houses, LARP-Formate oder dinner theatre zählen.

Wo Grau eine »anthropologische Konstante« (Grau, 2001, S. 213) im Wunsch eines Verschmelzens von Betrachter*in und Bild(sujet) ausmacht, spricht Murray von einem Begehren des rezipierenden Subjekts, welches in dieser Form von den neuen Medien erst hervorgebracht werde (vgl. Murray, 2017, S. 223). Murray vertritt damit innerhalb der Immersionsforschung die »Diskontinuitätsthese« (Wiesing 2005, S. 110), während Graus Studie komplementär für die »Kontinuitätsthese« (ebd.) steht. Beide adressieren eine spezifische, (potentiell und temporär) distanzminimierende Beziehung zwischen Medium, Dargestelltem und Rezipient*in, die sie begrifflich und konzeptionell als Prinzip Immersion fassen. Ihre Arbeiten markieren den take off für einen Immersionsdiskurs, der sich Mitte der nuller Jahre in den Kultur- und Bildwissenschaften (u. a. Wiesing, 2005; Sloterdijk, 2006; Neitzel/Nohr, 2006; Bieger, 2007) und Game Studies (u. a. Thon, 2008; Calleja, 2011; Ermi/Mäyrä, 2011) etabliert und auch in die Filmwissenschaft (u. a. Schweinitz, 2006; Curtis, 2008b; Voss, 2008) einwandert. Dieses interdisziplinäre Diskursgefüge geht den Überlegungen zu Immersion und »immersive theatre« in der Theaterwissenschaft voraus und prägt sowie bedingt damit einige Vorannahmen, wie der Immersionsbegriff auf die Rezeption von Aufführungen des Gegenwartstheaters übertragen wird (u. a. Machon, 2013; Biggin, 2017).

In vergleichender Gesamtschau besagter transdisziplinärer Forschungspositionen wird deutlich, dass Immersion entweder a) als Modus ästhetischer Rezeption – von Literatur, Film oder Game – zuvorderst von der Erfahrung des rezipierenden Subjekts her zu spezifizieren versucht wird oder b) von den Mechanismen und Wirkweisen der Apparaturen und medialen Gefüge her gedacht wird. Im Folgenden werde ich entlang eines schlaglichtartigen Einblicks in jene Forschungspositionen, die Immersion als Rezeptionsmodus konturieren, zeigen, dass Immersion hochgradig kontext-, medien- und subjektabhängig ist und sich die transdisziplinäre Applizierung des Begriffs auf die Rezeption unterschiedlichster Kunstformen nicht zuletzt der Geräumigkeit der »Eintauch«-Metapher verdankt (1.1). Mit einem zweiten, kursorischen Einblick in diejenigen ausgewählten Positionen, die zuvorderst Medien und Apparaturen der Immersion aus einer historisierenden Perspektive wie auch jenseits ästhetischer Konfigurationen betrachten, möchte ich einen roten Faden im Immersionsdiskurs herauspräparieren, der das Verhältnis von Selbst und Welt bzw. die Fabrikation und Modulation dieser Relation durch immersive Medien und Apparaturen betrifft und für mein Verständnis von Immersion in dieser Studie entscheidend werden wird (1.2).

Ein dritter Forschungsüberblick zu dominanten theaterwissenschaftlichen Positionen im Immersionsdiskurs legt dar, auf welche Weisen Immersion und Theater – vor allem vor dem Hintergrund der Sammelbezeichnung »immersive theatre« bzw. »théâtre immersif« für neue partizipative Theater-, Performance- und Installationsformate – bereits zusammengedacht wurden. Ich werde argumentieren, dass das Übertragen von Immersionstheorien zum Zwecke einer rezeptionsästhetischen Theoretisierung von subjektiven Zuschauer*innen-Erfahrungen im Gegenwartstheater unzureichend bleiben muss. Demgegenüber schlage ich – mit Rekurs auf den frankophonen Diskurs um »théâtre immersif« – vor, von immersiven Theaterdispositiven auszugehen (1.3).

8 Die konsultierten Artikel geben keine Auskunft zu einer Datierung der Wortverwendung von »Immersion« im Deutschen; im entsprechenden Band des Grimmschen Wörterbuchs (1877) fehlt der Eintrag »Immersion« z. B. noch. Im Englischen belegt das Oxford English Dictionary die Verwendung der Verbform »to immerse« bzw. »to immerge« vermehrt seit dem 17. Jahrhundert (S. 684); im Dictionnaire culturel en langue française wird für den Einsatz des französischen Substantivs »immersion« sogar das 14. Jahrhundert vermerkt (S. 1839), sodass man davon ausgehen kann, dass der Begriff und seine Verwendung aus den romanischen Sprachen wohl erst mit ein paar Jahrhunderten Verspätung in den englischen und deutschen Sprachraum eingewandert ist. Eine Begriffsgeschichte von Immersion steht derzeit noch aus.

9 Ich betrachte die Etymologie von »Immersion« hier im Englischen, Deutschen und Französischen, weil die künstlerischen Beispiele aus meinem Korpus und dominanten Immersionsdiskurse gleichfalls aus dem deutsch-, englisch- und französischsprachigen Raum kommen.

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