1 Zwischen Virtuosität und Persönlichkeit
von Julia Kiesler
Erschienen in: Recherchen 149: Der performative Umgang mit dem Text – Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater (09/2019)
Für das Theater der Zukunft haben wir keine fertigen Rezepte – wir kennen weder die Zutaten noch die Zubereitungsverfahren von morgen. Wichtig ist daher, die Arbeitsprozesse, Herangehensweisen und die Frage, was eigentlich „Handwerk“ sei, immer wieder neu zu reflektieren. Theaterstudenten von heute müssen motiviert und ermächtigt werden, kontinuierlich neue Antworten auf die sich verändernden Fragen zu finden und sich nicht mit Gewohnheiten, Konventionen und einem „so ist das aber üblich / so macht man das richtig“ abspeisen zu lassen. (Roesner 2015b, 29 f.)
Die Schauspielerinnen und Schauspieler bewegen sich innerhalb der drei beobachteten und untersuchten Probenprozesse und Inszenierungen dieser Studie und man kann sagen, generell auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters, in einer Spannbreite zwischen Authentizität und Künstlichkeit, zwischen Virtuosität und Persönlichkeit. In der Produktion von Laurent Chétouane begegnet uns ein Sprechen, das keine eindeutige Lesart und Interpretation eines Textes anbietet, sondern Raum für individuelle Deutungen, Assoziationen und Erfahrungen lässt. Texte werden hier nicht auf der Basis einer Situations- und Figurenanalyse erarbeitet, sondern aus einem Zustand des Nicht-Wissens. Im Zentrum steht das Sichtbarwerden der Persönlichkeit des einzelnen Schauspielers bzw. der einzelnen Schauspielerin in der Auseinandersetzung mit einem fremden Text in einem gemeinsamen Raum mit anderen, ausgesetzt dem Blick...