Vorwort
von Anja Dürrschmidt
Erschienen in: Recherchen 22: Das System – Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“ (05/2013)
Sie ist viel diskutiert worden, die Frage nach dem politischen Theater in unserer Zeit. Und einige sprechen ihm die Wirkung, wenn nicht gar die Existenzberechtigung ab. Doch was ist geschehen, dass aus dem lange tradierten und früher leidenschaftlich verfochtenen Verständnis vom Theater als gesellschaftskritischer und moralischer Anstalt eine fast schon mitleidig belächelte Randerscheinung geworden ist? Nicht allein die Problematik der angemessenen Form, der entsprechenden Ästhetik wird in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert. Das Misstrauen ist grundsätzlicher. Jeder, der heutzutage politische Positionen oder Haltungen manifestiert, sieht sich schnell mit allerlei Gegenargumenten konfrontiert, die nicht so einfach von der Hand zu weisen sind. Mit dem historischen Scheitern der gesellschaftlichen Alternativen zum Kapitalismus scheint auch jegliche Form der Kritik an diesem System nicht mehr haltbar. Ganz zu schweigen von der bangen, aber wohl unvermeidlichen Frage nach den sozialen Utopien. Dass die Idee des Sozialismus in der Praxis nicht aufgegangen ist, dass die Bewohner der ehemaligen Ostblockstaaten als hörige und gnadenlose Schüler des Konsumdenkens gelten, und dass die Wirtschaft in den letzten 15 Jahren in einem vorher nicht vorstellbaren Maß global agiert, ist allgemein bekannt. Dass die Strukturen dieses weiter entwickelten Kapitalismus und die dahinter stehenden Interessen und Interessengruppenverbindungen sehr komplex sind, weiß auch jeder. Doch entlastet dieser Umstand die internationalen Intellektuellen, Wissenschaftler und Künstler von einer Position der Kritik? Natürlich ist jegliche geäußerte Position angreifbar und diskutierbar. Natürlich wird sich das behandelte Thema aus einer anderen Perspektive anders darstellen. All dies rechtfertigt jedoch nicht die Vorwürfe, denen sich politische Theatermacher heute oft ausgesetzt sehen. Den Ausweg nicht zu kennen, den »Schuldigen« eines Missstandes innerhalb einer künstlerischen Aussage nicht festmachen zu können, heißt aber nicht, dass die Frage danach und das Formulieren eines Unwohlseins folgerichtig nicht legitim sind.
Zugleich ist festzustellen, dass trotz all der - manchmal durchaus berechtigten Fachkritik - derart politische Theaterabende eine starke Reaktion beim Publikum hervorrufen. Es lässt sich immer wieder beobachten, wie groß der Wunsch nach Austausch und Verständigung von seiten der Zuschauer in den nach diesen Inszenierungen stattfindenden Publikumsdiskussionen ist. Und wie heftig und kontrovers die Diskussionen in diesen Veranstaltungen ablaufen. Zudem haben sich in vielen Theatern Diskussionsräume etabliert, in denen allgemein anerkannte Experten zu den verschiedenen Aspekten unserer Lebens- und Wirtschaftswelt Vorträge halten. Der Informations- und Gesprächsbedarf ist trotz des verbreiteten Argwohns und trotz aller kritischer Auseinandersetzung mit diesen Theaterabenden ungebrochen.
Auch Falk Richter, der zu Beginn seiner Kariere als Theaterautor und -regisseur gern in die Schublade Poptheater gesteckt wurde, hinterfragte in seinen Arbeiten wiederholt die Grundfesten unserer Gesellschaft - sei es in Inszenierungen fremder Texte, wie Caryl Churchill, Mark Ravenhill und Sarah Kane, oder auch in eigenen Theaterstücken (Peace und Sieben Sekunden/In God We Trust). Nach dem 11. September und im Laufe des Afghanistan- und des Irak-Krieges der Regierung Bush entwickelte Richter die Idee zu einem groß angelegten »work in progress«-Zyklus unter dem Titel Das System. Sein Wunsch war es, im Laufe einer Spielzeit mit einem festen Team aus Schauspielern, Dramaturgen, Bühnenbildnern etc. sich der Analyse »unserer Art zu leben« widmen zu können. Als multimediale und interdisziplinäre »Forschungsstelle« verstand sich das Projekt, welchem von der Schaubühne am Lehniner Platz, wo dieser Zyklus in der Spielzeit 2003/04 aufgeführt wurde, große Freiheiten eingeräumt wurden. Richter hatte die Möglichkeit, Experten zu den verschiedenen Themen zu konsultieren, oder auch in einem umfangreichen Rahmenprogramm Fachleute einzuladen und andere Materialien, wie Dokumentarfilme und Ähnliches, zu zeigen. Letztendlich sind vier Theaterabende entstanden, die unsere Gesellschaft aus der Perspektive der Medien, der Wirtschaft und verschiedenartiger Gewalt- und Kriegszustände beschreiben. Vonseiten der Kritik wurde dieses Projekt sehr unterschiedlich aufgenommen. Die eingangs erwähnten Vorwürfe wurden ansatzweise auch für Teile des Systems angeführt - andere Kritiker lobten Richters Ansatz, Feindzuschreibungen zu vermeiden, neoliberale wie auch linke Positionen gleichermaßen der Kritik zu unterziehen und somit unser Denken und Handeln generell in frage zu stellen.
Dieses Buch soll nun, fernab jeglicher Rezeptionshaltungen, die Arbeit am zweiten Teil von Das System - Unter Eis, nachvollziehen.
Unter Eis zeigt die Philosophie und das daraus resultierende Agieren einer Wirtschaftselite. Consulting-Firmen, Wirtschaftsberatungen, bestimmen inzwischen nicht nur die Geschäftspolitik großer Konzerne, sondern werden zunehmend auch von Einrichtungen der öffentlichen Hand oder von Kulturinstitutionen zu Rate gezogen. Das durch das Effizienzparadigma bestimmte Denken der Berater hat sich mittlerweile bis hinein in private Bereiche durchgesetzt. In Unter Eis spielt Falk Richter dieses Phänomen am Beispiel der Macher dieser Wirtschaftsideologie durch. Er zeigt die Vollstrecker der »reinen L ehre der Ökonomie« als Täter und Opfer zugleich - eine Ideologie, die sich von jeglichen humanen Werten gelöst hat und konsequent zu Ende gedacht, die Abschaffung der fehlerhaften Ressource Mensch propagiert.
Ausschnitte aus den verschiedenen Fassungen, das Recherchematerial zum Text und zum Bühnenbild, Einblicke in den Probenverlauf, in die Kommunikation zwischen den beteiligten Künstlern und Gespräche mit Schauspielern, dem Komponisten u. a. sollen die Entstehung von Unter Eis dokumentieren, einen Blick in die sonst für die Öffentlichkeit unzugängliche Entwicklung einer Theaterarbeit transparent machen.
Anja Dürrschmidt
Berlin, Oktober 2004