Theater der Zeit

4.1.2 Zur Einbettung der Zuschauenden in die Wirklichkeitssimulation

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: Paulus Manker

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Immersives Theater wie Alma stellt auf der Ebene der Weltverhältnisse gegenüber angewandten, interventionistischen oder dokumentarischen Theaterformen eine »Abwendung« von der Welt im Sinne der sozialen und politischen Realität dar (vgl. Warstat, 2012, S. 195). Mit dem Aufstellen einer multisensorisch wahrnehmbaren, fiktionalisierten Wirklichkeitssimulation sind involvierte Zuschauende aufgerufen, sich gleichfalls ein Stück weit von der Realität ab- und anstelle dieser der Welt des gestalteten Mikrokosmos zuzuwenden. Im Falle von Alma repräsentiert dieser Mikrokosmos die Lebenswelt der Komponistin Anna Mahler-Werfel zwischen Wien, Venedig und New York in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie ein lebendes Museum werden Wohnstuben, Klavierzimmer, Bad- und Küchenräume gestaltet, um dem mobilisierten Gast wie auf einer Zeitreise die Lebenswelt Almas und das Milieu, in dem sie sich bewegte, erfahrbar zu machen.

Sich als Theaterzuschauer*in auf die theatralische Reise durch das Leben der fiktionalisierten Protagonistin begeben zu können, setzt gewisse Privilegien voraus: Mit einem Kartenpreis von 125 Euro weist Mankers Almaden höchsten Preis aller von mir besuchten Aufführungen immersiven Theaters auf. Hinzu kommt, dass der Spielort in Wiener Neustadt nicht an die öffentlichen Verkehrsmittel angeschlossen ist. Man benötigt also ein eigenes Auto, eine Mitfahrgelegenheit oder einen Leihwagen, um zur Roigkhalle zu gelangen. Um sich durch die Weite der Halle und vor allem auch über die Aufführungsdauer von insgesamt vier Stunden durch die verschiedenen szenischen Räume zu bewegen, braucht es zudem eine gewisse körperliche Unversehrtheit. Mankers Alma hat sich nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen über die Jahre zu einem zielgruppenspezifischen »Theater-Event«149 für eine gut situierte, bürgerliche und mobile Mittelschicht entwickelt.

Zum Theater-Event wird Alma u. a. auch durch das gemeinsame Dinner. In der letzten Sequenz vor der Pause führen alle Szenenstränge das verstreute Publikum zurück in den Haupthallenteil, um sich am Trauermarsch für den verstorbenen Gustav Mahler zu beteiligen. Dieser verläuft einmal der Länge nach durch die Halle. Auf einem der beiden fahrbaren, auf den Gleisen sitzenden Gestelle ist oben der Sarg Mahlers für alle weithin sichtbar montiert. Hinter dem Wagen formieren sich die Alma-Darstellerinnen, dahinter der Rest des Ensembles. Almaniac und Reserl begleiten den Wagen seitlich mit Fackeln in den Händen. Ersterer entzündet auf seinem Weg einen in die Seitenwand eingelassenen Schriftzug. »MAHLER« flackert daraufhin in der verdunkelten Halle hell und feierlich auf. Dazu wird ein Auszug aus Mahlers 5. Sinfonie gespielt.150 Das Publikum findet sich als fiktionalisierte Trauergemeinde am Ende der Halle zu einem als Leichenschmaus gerahmten Pausen-Dinner zusammen. Etwa zwanzig runde Tische sind eingedeckt und mit Kerzenleuchtern versehen. Menü-Karten, die drei verschiedene Vor-, drei Haupt- und zwei Nachspeisen ausweisen, liegen für jede*n bereit. Überdies werden sieben unterschiedliche Weine zur Auswahl gestellt. Das äußerst schmackhafte und hochwertige Menü-Buffet wurde in der von mir besuchten Aufführung vom Wiener Restaurant Hebenstreit, das auf österreichische und mediterrane Küche spezialisiert ist, ausgerichtet. Zuschauer*innen können sich an Roastbeef im Kräuterbett mit mariniertem Gemüse, Garnelen in Tempurateig und Mangovinaigrette, hausgemachten Erbsen-Rucola-Ravioli, Jungschwein-Medaillons in Eierschwammerl-Sauce, ausgelöstem Backhuhn mit Erdäpfel-Vogerlsalat, Tiramisu und Marillenkuchen mit Vanillesauce und Beerenragout satt essen.

Für die Dauer des Essens können Zuschauer*innen ihre »Kameras« beiseite und aus dem Modus der Vereinzelung zurück in die Gemeinschaft anderer Zuschauer*innen treten. Das gemeinsame Abendessen besetzt eine Zwitterstellung zwischen konventioneller Theaterpause und innerdiegetischem Aufrechterhalten der Weltversion des Mikrokosmos, welches durch die Rahmung des Dinners als Leichenschmaus suggeriert wird. Gespräche mit anderen Zuschauer*innen über ihre jeweiligen, bislang miterlebten Szenenfolgen und figurenbezogenen Perspektiven auf Almas Leben können an dieser Stelle eine ob der raumzeitlichen Desorientierungen entstandene Irritation oder Frustration nicht nur unterbinden, sondern sie mit gustatorischen Freuden zugleich auch besänftigen. Zur Auflockerung der Atmosphäre ertönen aus den Lautsprechern nun nicht mehr leitmotivische Passagen der zuweilen sehr schwer und getragen wirkenden Mahler-Sinfonien, sondern Balkan-Pop von Shantel.

Nach etwa dreißig Minuten wird mit einer Bahnhofsszene zwischen Alma und Gropius die Fortsetzung des szenischen Spiels eingeläutet, die Zuschauer*innen werden aufs Neue mobilisiert und verteilen sich selbstständig auf die verschiedenen Figuren und Schauplätze – jetzt allerdings mit dem Unterschied, dass zahlreiche Gäste ihre gefüllten Weingläser mit sich führen. Abgesehen davon, dass das Dinner den Eintrittspreis ein Stück weit rechtfertigt, trägt es innerdiegetisch trotz der Tatsache, dass sich Zuschauer*innen beim Essen über die Aufführung unterhalten, zugleich auch zur weiteren Involvierung des Publikums in die Wirklichkeitssimulation bei. Beide Rahmungen – die der Zuschauer*innen als Gäste der fiktiven Geburtstagsfeier und auch jene als Gäste der fiktiven Trauerfeier – laufen der mit dem Konzept des »Zuschauers als Kamera« verbundenen Idee der individualisierten Rezeption im Grunde zuwider. Denn sie heben dramaturgisch stärker auf ein vergemeinschaftendes denn vereinzelndes Moment ab: Jeder Gast ist auf der innerdiegetischen Ebene zugleich Teil der Feiergemeinschaft. Und diese Feiergemeinschaft gehört in der Fiktion zum sozialen Intellektuellen- und Künstler*innen-Milieu der wohlsituierten, im Stück als »U.S. Alma« bezeichneten Witwe Alma Mahler-Werfel, die nach dem Tod Werfels 1943 bis 1964 allein in New York lebte und sich um den Nachlass ihrer Künstlergatten kümmerte. Das Framing markiert hier innerdiegetisch also auch eine fiktionalisierte Gruppenzugehörigkeit.

Während des Dinners habe ich zum ersten Mal die Gelegenheit, meine Aufmerksamkeit auf die bewusste Wahrnehmung der anderen Zuschauer*innen zu lenken. Jenes Publikum, das auf mich zu Aufführungsbeginn angesichts des sporadischen Komforts bei Transport, Ankunft und Sanitäranlagen noch den Eindruck machte, irgendwie ›fehl am Platze‹ zu sein, fügt sich in das opulente Dinner bei Kerzenlicht-Arrangement nun nahtlos ein. Spätestens mit dem gemeinsamen Pausen-Dinner wird fühlbar, dass in der Wirklichkeitssimulation der miteinander geteilten Alma-Aufführung eine bestimmte soziale Klasse zu Gast ist, die einerseits innerdiegetisch räumlich und figurenbezogen porträtiert und andererseits im Aufführungsraum gleichermaßen mit- und voreinander versammelt wird.

Die Wirklichkeitssimulation, die in Alma-Aufführungen auf der Basis der inszenierten Weltversion hervorgebracht wird und alle involvierten Zuschauer*innen um- und einschließt, ist dabei inner- wie außertheatral nicht nur klassen-, sondern auch geschlechtsspezifisch eingerichtet. Die in Alma repräsentierten Geschlechterverhältnisse sind heteronormativ, die weiblichen Rollenbilder hochgradig stereotyp (z. B. das männliche Künstlergenie versus die weibliche Muse) und auf der Ebene der Aufführung wird zuweilen ein latenter Sexismus spürbar.151 Wie im Auszug meines Erinnerungsprotokolls dargelegt, führt die Inszenierung die drei jungen Almas über die (Selbst-)Darbietung eines Spottliedes ein, das fiktional als Geburtstagsständchen gerahmt wird. Im dreistrophigen 1964/65 posthum entstandenen Lied »Alma« vom US-amerikanischen Satiriker und Musiker Tom Lehrer wird Alma als klug und attraktiv, vor allem aber als männerverschlingend, sexsüchtig, berechnend und exzentrisch besungen. Ihre bei anderen Frauen Neid auslösende »Lebensleistung« sei es gewesen, derart viele verschiedene, erfolgreiche und bekannte Künstler des beginnenden 20. Jahrhunderts an sich zu binden. Die drei jungen Alma-Darstellerinnen tragen dabei schwarzweiß gestreifte Kleider, deren mädchenhafter Eindruck verfliegt, wenn die schwarzen Strumpfhalter an ihren Oberschenkeln sichtbar werden. Im Fortgang der Szenen erlebt man die drei Almas häufig nur sehr spärlich mit einem schwarzen Negligé bekleidet. Verführung wird in Alma primär sexuell gedacht, was dazu führt, dass die Körper der Darstellerinnen permanent vor ihren männlichen Schauspielkollegen wie auch vor dem Publikum in z. T. äußerster, physischer Nähe zur Schau gestellt werden.152 Basierend auf meinen beiden teilnehmenden Sichtungserfahrungen komme ich zu dem Schluss, dass es aufgrund der Kombination von voyeuristischen Zuschauer*innen-»Kameras« in physischer Nähe zu den Schauspieler*innen im geteilten Aufführungsraum und der Darbietung hochgradig klischierter Frauenbilder sowie heteronormativer, pornografischer, z. T. gewaltverherrlichender Darstellungen von Sex dazu kommt, dass Zuschauer*innen qua Involvierung auf ein patriarchales Blickregime hin orientiert und von dieser Weltsicht auch ein Stück weit vereinnahmt werden (können). In der Wirklichkeitssimulation wird die repräsentierte Herrschaftsstruktur, in der Ehemänner über ihre Frauen und Künstlergenies über ihre Musen Macht ausüben, indem sie ihnen Lebens- und Liebesmodelle vorschreiben, nicht in ihrer Historizität markiert oder gar dekonstruiert, sondern vielmehr aktualisiert, normalisiert und fortgeschrieben.

Zuletzt ist es die Tatsache, dass szenisch überhaupt so stark das Liebesleben von Alma Mahler-Werfel und ihren Ehemännern und Affären fokussiert wird, die dafür sorgt, dass andere für ihre Biografie entscheidende Themen wie ihr eigenes künstlerisches Schaffen als Komponistin, private Tragödien wie der Verlust ihrer Kinder, ihre ambivalente Haltung zum Judentum, die zuweilen bis ins Antisemitische ausschlug, vor allem aber auch die gesellschaftlichen Umbrüche während und in Folge der beiden Weltkriege weitestgehend ausgeblendet bleiben. Mit dieser Fokussierung auf das Liebesleben geht auch einher, dass das Verhältnis vom szenischen Raum zur tatsächlichen Geschichte des Spielorts mit all seinen blutigen Spuren in die NS-Zeit im Modus der eingangs erläuterten »Abwendung« verharrt. An dieser Stelle scheitert auch der Anspruch einer Polyperspektivierung.

Es zeigt sich am Beispiel der Analyse der räumlichen und figurenperspektivischen Publikumsinvolvierung in Alma, wie Zuschauer*innen zunächst von der Raumwirkung und Unübersichtlichkeit des Spielorts qua Überwältigung, Vereinzelung und damit verbundener Desorientierung vereinnahmt werden. Zur Desorientierung trägt maßgeblich die Struktur des Polydramas bei, die vorsieht, dass Zuschauer*innen permanent zwischen verschiedenen, simultan stattfindenden Szenen und den jeweils repräsentierten Orten, Zeiten und Figurenkonstellationen hin- und herspringen. Das macht sie anfälliger dafür, sich auch inhaltlich von einer bestimmten Perspektive auf Alma Mahler-Werfel (und ihr Leben) vereinnahmen zu lassen. Die Bewegungs-, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, die rezeptionsästhetisch an das Modell des vereinzelten »Zuschauers als Kamera« geknüpft ist, wird zum einen von einem neun Punkte umfassenden Regelkatalog, der gleich zu Beginn ausgegeben wird, als auch von komplexen, reziprok mit-wirkenden Affizierungsdynamiken konterkariert. Dies wird deutlich, wenn bestimmte individuelle Anti- oder Sympathien, Assoziationen, Erinnerungen oder Geschmackspräferenzen aktive Entscheidungen vorwegnehmen. Zudem konnte gezeigt werden, in welchem Maße die qua Sozialisation eingeübte Rolle, Theaterzuschauer*in zu sein, bestimmte Weisen des Reorientierens im Aufführungsraum mitbedingt. Zuschauer*innen werden bei Alma trotz Polyperspektivität von einer bestimmten Perspektive auf den Stoff und die Welt vereinnahmt. Und diese Form der Vereinnahmung kann im Modus der Affirmation dieser Weltsicht entweder unentdeckt bleiben oder aber zum Gegenstand reflexiver Aushandlung werden.

149 Von einem »Theater-Event« oder auch »Theater-Spektakel« ist in der Presse zu Alma immer wieder die Rede, vgl. u. a. https://www.österreich.at/nachrichten/alma-liebt-sich-heuer-durch-wiener-neustadt/148955884oder Rosenberger (o. J.).

150 Diese Information verdanke ich Teresa Loefberg, die zeitweise als Regieassistentin bei Alma angestellt war.

151 Allein die Tatsache, dass von Alma Mahler-Werfel immer nur degradierend mit dem Vornamen die Rede ist, deutet schon einen problematischen Gestus männlicher Überheblichkeit an, vgl. dazu auch Unseld, 2011, S. 159. Ungünstig wirkt sich auf die Rezeption von Alma in meinen Augen auch aus, dass sich Paulus Manker als »Enfant Terrible« der österreichischen Theaterszene selbst in der Tradition großer männlicher Künstlergenies inszeniert.

152 In der Filmversion von Alma sind einige Sexdarstellungen wie eine Szene zwischen Werfel und Alma in der Badewanne sogar als Vergewaltigungen lesbar. Mit Blick auf die Presse scheint Alma seinen Ruf als »Sex-Spektakel« Ende der neunziger Jahre vor allem der Nacktheit der Darsteller*innen, der Explizitheit der Liebesszenen und der Tatsache, dass Zuschauer*innen den Schauspieler*innen physisch dabei so nahe kommen, zu verdanken, vgl. http://www.alma-mahler.com/images/zeitungsausschnitte/berlin/bild_berlin_21_04_2006.jpg, letzter Zugriff 7.3.2021.

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