Thema
Möglichkeiten einer Insel
Stephan Märki über Schweizer Kultur und Kennzahlendiskussionen im Gespräch mit Ute Müller-Tischler und Harald Müller
von Harald Müller, Stephan Märki und Ute Müller-Tischler
Erschienen in: Theater der Zeit: Freude verdoppelt sich, wenn man sie teilt – Geld nicht. – Lukas Bärfuss (01/2017)
Assoziationen: Bühnen Bern
Stephan Märki, Sie sind seit fünf Jahren Intendant am Konzert Theater Bern. Davor haben Sie zwölf Jahre das Deutsche Nationaltheater in Weimar geleitet. Jetzt sind Sie in Ihre Heimat zurückgekehrt. Was heißt es für Sie, in der Bundeshauptstadt der Schweiz Theater zu machen?
Es bedeutet erst mal nichts anderes als in jeder anderen Stadt auch, nämlich zu versuchen, ein Theater zu machen, das etwas will. Eins, das etwas mit der Lebenswirklichkeit der jeweiligen Stadt und ihren Menschen zu tun hat und trotzdem einen Bogen zu den Wurzeln europäischen Denkens schlägt. Jede Stadt hat ihre eigene kulturelle Identität und ihre eigenen Fragen. Erst recht in der Schweiz, deren kulturelle Eigenständigkeit in den anderen deutschsprachigen Ländern oft nicht in Gänze wahrgenommen wird.
Nun hat dringliche Kunst, besonders Theater, mit einem Mangel zu tun, einem Missstand – gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Art –, der Anlass zu Auseinandersetzung gibt. Die Schweiz hingegen ist vielleicht das reichste Land der Welt. Und wenn das nun mit dem Mangel in der Kunst auch umgekehrt gilt, ist es hier nicht ganz einfach, gesellschaftliche Dringlichkeit zu formulieren. Aber überall gibt es Mangel, nur eben nie denselben, und in der Schweiz ist er etwas verborgener, gerade in der Hauptstadt Bern, dem Sitz der Bundesregierung. Denn es gibt eine kulturelle Schweizer Eigenheit, die in Bern herausragt, sicher aber auch Grundlage für den Schweizer Wohlstand ist. Das ist der Interessensausgleich: immer alle mitzunehmen, alle Interessen zu berücksichtigen, keinen Mangel entstehen zu lassen. Das ist eine der Lehren aus der extrem kriegerischen Historie der Schweiz und zu einem kulturellen Prinzip politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Handelns geworden. Es gilt für alle Lebensbereiche, auch für die Kunst, für die sogenannte Off-Kultur und für die sogenannte Hochkultur. Übermäßige Konkurrenz ist deshalb tabu, weil, wenn Exzellenz entsteht, andernorts ein Mangel oder ein Ungleichgewicht der Interessen droht. Beides gibt es natürlich, aber ehrgeiziger Wille zur Exzellenz wird nicht goutiert. Entsprechend gibt es eine starke kulturelle Regulierung und Breitenförderung. Damit läuft man wiederum Gefahr, künstlerische Maßstäbe zu relativieren bzw. andere Maßstäbe zu etablieren. Man muss damit umgehen können, um beides, Ausgleich und Exzellenz, zu erreichen, zumal in der Bundesstadt, die sehr selbstbewusst ist, aber den Pelz lieber nach innen trägt und den auch nicht so gerne wäscht. Wir haben nach der Fusion von Theater und Orchester eine lange Grundlagenarbeit absolviert, um Künstlerisches so umzusetzen, wie wir uns das vorstellen. Es gibt ein anderes Schweizer Prinzip: C’est le provisoire qui dure – es ist das Provisorium, das überdauert. Das wollen wir vermeiden.
Die Sanierung des Stadttheaters wurde kürzlich abgeschlossen und der Kubus als temporäre Spielstätte auf dem Platz abgebaut. Dafür beginnt nun die Modernisierung des Kultur Casinos, der Spielstätte des Berner Symphonieorchesters. Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, sich zu viel zuzumuten?
Im Grunde habe ich mir immer Orte gesucht, die nicht einfach waren, an denen ich mir sozusagen zu viel „zugemutet“ habe. Denn an allen Orten musste man etwas entwickeln oder verteidigen, am Teamtheater in München, am Hans Otto Theater Potsdam nach der Wende und am Deutschen Nationaltheater Weimar. Jetzt also Bern, meine Geburtsstadt, aus der ich fünfzig Jahre weg war, die nicht den Ruf hat, eine Theaterstadt zu sein. Ich bin damals im Sommer hergefahren, habe alles angeguckt und gedacht, dieses Theater mitten in der Stadt schlummert so vor sich hin wie ein trauriger grauer Elefant, der seinen Rüssel in die idyllische Aare hängt; da muss doch was zu machen sein.
Was haben Sie angestellt, um dem Theater zu einem neuen Selbstbewusstsein oder Selbstverständnis zu verhelfen?
Lukas Bärfuss hat dazu einen wundervoll provokanten Satz geprägt: „Die Natur ist unsere Kultur.“ Damit hat er in fast boshafter Beiläufigkeit recht. Es gibt eine Zufriedenheit mit dem Gegebenen – das ja in Wirklichkeit nie gegeben ist, auch die Natur lässt sich nicht einfach was nehmen. Dass die Künste, dass Theater gesellschaftlich existenziell wichtig ist, ist also nicht selbstverständlich. So ist es ein kontinuierlicher Arbeitsprozess, ein Geben und Nehmen, Diskutieren, Vermitteln, Verwerfen und Neuerkunden auf allen Seiten, damit es „mit Bedeutung auch gefällig“ wird. Mit motivierend zunehmendem Erfolg, bei dem man aber nicht nachlassen darf, denn man erwartet nicht vom Theater, dass es unbequem ist und zu politischen Fragen Stellung bezieht.
Trotzdem wirken die Theater der Schweiz finanziell sehr gut ausgestattet. Kann man das nicht als ein Bekenntnis zur Stadtkultur gelten lassen?
Ja und nein. Nein, weil die finanzielle Ausstattung im Verhältnis zum Lebensniveau gesehen werden muss, das einfach extrem hoch ist. Die Schweizer Subventionen in absoluten Zahlen mit deutschen Subventionen zu messen, macht keinen Sinn. Insofern ist eine bestimmte finanzielle Ausstattung in einem Land mit einem Mindestlohn von 4000 CHF einfach die Bedingung, unter der man ein Stadttheater nicht bekommt.
Trotzdem kann man es als Bekenntnis zur Stadtkultur lesen, aber wir müssen uns immer wieder neu darüber einigen, von welcher „Stadtkultur“ wir reden. Evident ist, dass in der Schweiz in allen größeren Städten der Bildungsgrad in Schule und Familie flächendeckend ausgewogen ist – wiederum ein Ergebnis des Interessensausgleichs. Das ist sicher auch ein Grund, wieso bis jetzt noch fast alle Bevölkerungsabstimmungen zur Kulturfinanzierung mehrheitlich zugunsten der Kulturinstitutionen ausgehen, die sich ja alle vier bis fünf Jahre der Zukunftsfrage per Volksabstimmung stellen. Noch sind die Stadttheater gut ausgestattet. Trotzdem gibt es enorme Unterschiede zwischen Basel, Zürich und allen anderen Häusern. Basel hat im Vergleich zu Bern im künstlerischen Bereich in etwa das Doppelte an finanziellen Mitteln, Zürich noch mehr. Das heißt, dass ein Haus wie Bern mit einem künstlerischen Anspruch, wie wir ihn haben, immer auch Opfer seines Erfolges wird sein müssen. Je erfolgreicher wir sind, desto mehr steigen die Ansprüche an Arbeitsbedingungen und künstlerische Gagen. Wir bewegen uns also immer in einer gewissen Konfliktzone zwischen den Möglichkeiten, die das Haus bieten kann, und den Ansprüchen, die die Künstler mitbringen.
Aber das ist in Deutschland genauso. Wer will nach Leipzig, wenn man in Berlin lebt und spielt? Es gibt keinen Grund, nach Leipzig zu gehen. Oder nach Hannover. Es sei denn, man macht ein spannendes Programm. Welche Rolle spielen da die Vidmarhallen?
Die Vidmarhallen, die unter meinem Vorgänger 2008 eröffnet wurden, haben den eigentlichen Startschuss zu einem künstlerischen Aufbruch im Berner Theater gegeben. Das sind die Bühnen, um den heterogener gewordenen Publikumserwartungen und künstlerischen Bedürfnissen zu entsprechen und Theaterformen weiterentwickeln zu können. Dahingehend hat die ganze Schweiz erst mit Verzögerung nachgezogen, auch der Zürcher Schiffbau ist erst 2000 eröffnet worden, während andere Theater schon früher kleinere Bühnen gesucht haben. Aber wenn es eine große gesellschaftliche Stabilität gibt, ist es auch kein Wunder, dass sich das Theaterverständnis langsamer wandelt.
Sie sagen, dass der Interessensausgleich auch an den Theatern der Schweiz ein genereller Trend ist. Sie gehen dagegen an, weil er die inhaltliche Angleichung zur Folge hat, ein eigenes Repertoire verhindert und aus Theatern Bespielhäuser macht. Was bedeutet das konkret?
Was mal der Grund war für Theatergründungen, nämlich das gesellschaftliche Zur-Verfügung-Stellen eines Freiraumes für die Kunst, droht sich umzudrehen. Die Theater geraten immer mehr unter Rechtfertigungsdruck. In der Kultur entwickelt sich, parallel zum wachsenden Misstrauen gegenüber der Politik, der Presse und Eliten allgemein, ein „Institutionen-Bashing“. Wachsendes Misstrauen bedingt größer werdende Kontrolle, oft unter dem Deckmantel der Transparenz. Das zeigt die Kennzahlendiskussion: „Wie effizient muss ein Theater sein?“, „Wieviele Zuschauer muss es haben?“ Fragen, die selbst in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) diskutiert und natürlich auch in Stadträten zur Mode werden – wobei es bislang noch die schweigende Mehrheit gibt, die von einer Minderheit übertönt wird. Ganz schnell aber werden nicht mehr Inhalte hinterfragt, sondern es wird, wie im Fall des Theaters Neumarkt in Zürich, das Theater als Ganzes zur Disposition gestellt. Als unmittelbare Reaktion auf ein missglücktes Projekt („Schweiz entköppeln“ des Zentrums für Politische Schönheit“, Anm. d. Red.) wurde die Subvention empfindlich gekürzt. Dagegen muss man kämpfen, weil der Druck und das Bewusstsein dafür, dass das Programm unter einer Prüfung steht, die eher weniger mit Kunstfreiheit als mit verkürzten Rechenmodellen zu tun hat, spürbar sind und in Vertragspolitiken umgesetzt werden.
In der Schweiz ist es üblich geworden, die Eigenwirtschaftlichkeit der Häuser ständig zu erhöhen – darin keimt eine kulturelle Kehrtwende. Das kann zu solchen Perversionen führen, dass man Kassenschlager-Produktionen für Besserverdienende anbieten muss, um sich Produktionen für Jugendliche oder sogenannte Risikoproduktionen für neues Publikum leisten zu können. So werden schleichend politische Bedingungen gesetzt, die die Produktion nach eigenen künstlerischen Maßstäben zunehmend erschweren. Das kuratorische Prinzip wird sich dann über kurz oder lang durchsetzen, weil damit schneller zu reagieren ist. Künstlerische Entwicklungen mit identitätsstiftenden Ensembles und Repertoires dauern einfach länger. Kaufen alle nur noch Produktionen ein, ist statt eines vermeintlichen Interessensausgleichs nur die Homogenisierung der Kunst erreicht. Dem entgegenzuwirken bedeutet, dass die Theater immer mehr Energien aufwenden müssen, um die Aufgabe, für die sie eigentlich da sind, in alle gesellschaftlichen Ebenen zu vermitteln. Diese Energien fehlen dann zwangsläufig für die eigentliche Raison d‘Être, die Kunstproduktion.
Ist die Renovierung des Kultur Casinos überhaupt noch eine Herausforderung für Sie?
Aktuell natürlich. Nun müssen wir auch für das Orchester neue Spielorte suchen und Wege finden, das Konzertpublikum dabei nicht zu verlieren, wie es uns glücklicherweise mit dem Opern-, Tanz- und Schauspielpublikum im Großen Haus gelungen ist. Aber es geht noch weiter. Das nächste Projekt ist ein Theatercafé als öffentliche Kantine, um eine Lebendigkeit um und mit diesem Theater zu schaffen, die es bisher so noch nicht hat. Die Sanierung der Häuser ist aber ein Schritt in die Zukunft und auch für das Publikum enorm wichtig – das kann man nach der äußerst erfolgreichen Wiedereröffnung des Stadttheaters sagen. Es sind öffentliche Räume, die es zu behaupten gilt, in denen wir uns wirklich noch frei begegnen und austauschen können.
In der NZZ war vor einiger Zeit zu lesen, dass das Schauspielhaus in Zürich und das Theater Basel scharf dafür kritisiert wurden, kaum noch Rücksicht auf urschweizerische Bedürfnisse des Publikums zu nehmen. Deutet sich hier eine konservative Wende für das Theater an? Wie würden Sie als Intendant und Präsident des Schweizerischen Bühnenverbandes diese Frage kommentieren?
Man muss die Leute vor Ort mitnehmen, dabei aber immer wieder darauf hinweisen, dass eine Stadt über sich hinauswachsen muss. Wir vergessen schnell, welch ein Reichtum die kulturelle Vielfalt und die Multinationalität ist, auf denen die Schweiz gründet. Es ist eine Aufgabe von Theater, das zu verteidigen und zu behaupten. Um das im öffentlichen Bewusstsein zu halten, müssen sich die Theater besser zusammenschließen. Das ist Teil meiner Aufgabe als Präsident des Schweizerischen Bühnenverbandes: für die reichhaltige und lebendige Schweizer Theaterszene zu streiten. //