Theater der Zeit

Vorwort der Kunststiftung NRW

von Ursula Sinnreich und Fritz Behrens

Erschienen in: Recherchen 150: Wenn keiner singt, ist es still – Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019) (09/2019)

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Der Künstler trägt die Zeit nicht, zwischen zwei Deckel gelegt, bei sich an einer Kette; er richtet sich nach dem Zeiger des Universums, weiß darum immer was die Urkuckucksuhr geschlagen.

(Else Lasker-Schüler, Das Hebräerland, 1937)

In seinem 1999 uraufgeführten Solo Lettere amorose zitiert der 1949 in Wuppertal geborene Raimund Hoghe nicht zum ersten Mal seine geistige Weggefährtin – die 1869 ebenfalls in Wuppertal gebürtige deutsch-jüdische Autorin Else Lasker-Schüler.
Lasker-Schüler schrieb 1919 einen Brief an einen Schweizer Freund mit der Bitte, er möge sie doch bei ihrem Visumsgesuch in die Schweiz unterstützen. Die Zeitachse 1869–1919–1949–1999–2019 ist eine von vielen in dem im Mai in Düsseldorf wiederaufgeführten Stück Lettere amorose, die auf eine grundlegende Methode in Hoghes Arbeit als Choreograf und Autor verweist: Raimund Hoghe ist nicht nur ein Meister der sparsamen und in ihrer Verdichtung umso eindringlicher wirkenden Gesten auf der Bühne, sondern auch ein Meister der Verschränkung von Geschichten auf vielen zeitlichen Ebenen.
So, wie die Präsenz der vor 150 Jahren geborenen Lasker-Schüler in ihrem vor 100 Jahren verfassten Brief in die Performance hineinruft, entwirft der ‚Autorenjournalist‘ Hoghe seine Interview-basierten Porträts ganz bewusst als Echokammern der Erinnerungen und der Bilder.
Sein methodischer Ansatz besteht im Zuhören und Aufzeichnen; Gesagtes wird unkorrigiert und in größtem Respekt gegenüber dem gesprochenen Wort veröffentlicht, sodass die porträtierten Personen in all ihrer situativen Befindlichkeit und in ihrem Eigensinn leuchten können. Ob von hohem oder niedrigem Bildungsstand, berühmt oder am Rande der Gesellschaft, sprachmächtig oder sprachlos, für Raimund Hoghe sind all das unerhebliche Kriterien – ihn interessieren Menschen, ob sogenannte Starschauspieler oder Autoren von Weltrang, Taxifahrer oder Reinigungskräfte.
Im Sinne seiner transluziden, existenziellen Interpretation dessen, was Menschsein bedeutet, und aus seiner tiefen Überzeugung, dass jeder Mensch ein fragiles Wesen, reich an Geschichten ist, die es wert sind, gehört zu werden, interessiert er sich für sein jeweiliges Gegenüber mit der größtmöglichen Nähe, die ihm sein forschend distanzierter und zugleich der jeweiligen Situation sich öffnender, verstehender Blick erlaubt.
Jedes Interview bleibt ein in der Konsequenz der Veröffentlichung ungeschliffener Rohling, eine aus der jeweiligen Lebenssituation seines Gegenübers festgehaltene Momentaufnahme, übersetzt in Sprache und Fotografie.
In seinen Bühnenarbeiten schafft Hoghe als Choreograf Erinnerungsräume durch minimalistische und ritualisierte Gesten, Musik und Sprache, die ein symmetrisch angeordnetes Beziehungsnetz in und mit der Architektur des Raumes weben.
In seinen Porträts ist er weniger Autor als Medium; er erschließt die Stimmen und Erinnerungsräume anderer, indem er Lebenswege von Menschen und deren Biografien sichtbar macht, die er nicht klassifiziert, sondern mit aller Sorgfalt, Hingabe und Aufmerksamkeit nebeneinander existieren lässt – in all ihren jeweiligen Daseinsverfasstheiten: Künstler mit erfolgreichen Karrieren bzw. solche, die zur Zeit der Veröffentlichung auf den Vorstufen des Erfolgs standen – wie z. B. Rose Ausländer, Elisabeth Bergner, Kazuo Ohno, Heiner Müller oder Peter Handke.
Gleichzeitig widmete Hoghe seit seinen journalistischen Anfängen seine Porträts den weniger Erfolgreichen der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft und spürte Menschen auf, die abgekämpft, aber stolz, in ihren Lebensplanungen gescheitert, aber selbstbewusst waren. Bereits in seinen frühen Texten porträtierte er versehrte, von der Gesellschaft abgehängte Menschen am Existenzminimum wie z. B. die Toilettenfrau Maria Rüb und die Prostituierte Annemarie Slovik oder Sterbenskranke wie Andreas M., die Abschied nahmen von einer Welt, die gerade mit HIV infiziert worden war.
Das Leid der Welt – so z. B. Flucht, Vertreibung und Existenzvernichtung, gestern wie heute – lässt ihn nicht los und macht ihn zu einem ‚mit-teilenden‘, mitfühlenden Künstler und Archäologen allzu schnell verdrängter Realitäten.
Hoghe ist nicht nur Liebhaber, sondern auch im politischen Sinne engagierter Vertreter des sogenannten ‚Queeren‘ – durch seine Zuwendung stärkt er diejenigen, die gesellschaftlich als Wesen außerhalb der Norm eingestuft werden.
Seine Protagonistinnen und Protagonisten werden durch seine Aufmerksamkeit zu schönen Menschen; sie fallen nicht durchs Raster der Geschichte, sondern sie erzählen von Abnormität und Abweichung; ungeraden, weit verzweigten Lebenslinien; feingliedrigen, porösen, unsicheren, nicht abgesicherten Existenzen. Von ihrem Neuanfang, ihrer Hoffnung und ihrem Abschied vom Leben, ihrer Entblößung, ihrem Abgrund, ihrer Angst und ihren Träumen.
Hoghes Erinnerungsarbeit ist auch Trauerarbeit. Und dann plötzlich entsteht ein Witz, eine Situationskomik macht aus Weinen Lachen. Und immer wieder nimmt er sich Zeit; gibt der Empfindsamkeit für Zeit als wertvolles Gut Raum. Seine Echokammern erzeugen eine innere Zeit, die anders vergeht als die äußere Zeit. Und Zärtlichkeit.
Um einige seiner Geschichten und Porträts, die seit Mitte der 70er Jahre u. a. für DIE ZEIT und Theater heute entstanden und teilweise vergriffen sind, nicht der Geschichtsvergessenheit anheimfallen zu lassen, hat die Kunststiftung NRW sich freudig entschieden, diese gemeinsam mit dem Verlag Theater der Zeit neu zu verlegen – und dies vor einem weiteren Zeithorizont: In NRW feiern wir in diesem Jahr nicht nur den 150. Geburtstag von Else Lasker-Schüler, sondern auch den 70. Geburtstag von Raimund Hoghe sowie das 30. Jubiläum der Kunststiftung NRW, die mit diesem wunderbaren Künstler seit vielen Jahren fördernd verbunden ist.
Seinem Wirken verdanken wir Momente voller unnachahmlicher Poesie, die in seinem Tanz ebenso zum Ausdruck kommt wie in seiner Sprache. Genauigkeit und Emotion, Durchlässigkeit und Entschiedenheit verschränken sich in seinem Denken wie in seinem künstlerischen Tun auf eine Weise, die aus den Brüchen des Lebens eine Schönheit gewinnt, die alles umfasst wie eine Umarmung: das Große im Kleinen, die Ruhe in der Bewegung, die Zeit im Raum.

Wir überreichen Raimund Hoghe dieses Buch mit einer kleinen Verbeugung, ähnlich der, wie wir sie aus seinen Aufführungen kennen, und sagen: Merci.
Den Leserinnen und Lesern dieser Preziose wünschen wir eine bereichernde und inspirierende Lektüre.

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