Anja Nioduschewski: Per Leo, Sie sind von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser, den Verfassern des „Appells für freie Debattenräume“, der sich gegen eine identitätspolitische Cancel Culture aufstellt, angefragt worden, diesen zu unterzeichnen. Sie haben abgelehnt und das öffentlich begründet. Sie sähen zwar die dort angesprochenen Probleme, die die Strategie des Deplatforming für den öffentlichen Diskurs bedeuten, teilten aber nicht den Befund: die Gefährdung der Demokratie. Sie zitierten indirekt Alexis de Tocquevilles „Tyrannei der Mehrheit“ als tendenziell immer gegebene Gefahr in einer Demokratie. Allerdings haben wir es bei der Cancel Culture ja mit der öffentlichkeitswirksamen Macht von Minderheiten zu tun, im doppelten Sinne: sozial und bezogen auf den Umstand, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung Twitter nutzen: ein Ort, an dem die Konflikte ausgetragen werden. Wie bringen Sie das zusammen?
Per Leo: Tocqueville hat am Beispiel Amerikas die Tendenz der demokratischen Öffentlichkeit beschrieben, in eine Tyrannei der Mehrheit zu verfallen. Mit ihm berufe ich mich bewusst auf die revolutionskritische, aber nicht reaktionäre Perspektive eines altliberalen Adligen. Dass es eine Minderheit ist, die diese Öffentlichkeit herstellt, ist bei ihm schon mitgedacht. Da unterscheidet sich das Amerika des 19. Jahrhunderts nicht so sehr von den demokratischen Gesellschaften der Gegenwart. Mir ging es darum,...