Theater der Zeit

Die Form der Kunst im Medium der Öffentlichkeit

von Dirk Baecker

Erschienen in: Recherchen 99: Wozu Theater? (01/2013)

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Das Öffentliche fasziniert umso mehr, je gefährdeter es immer schon scheint. Wir wissen vom Öffentlichen im Modus seiner ‚Krise‘ (Reinhart Koselleck), seines ‚Strukturwandels‘ (Jürgen Habermas), seines kulturindustriell beschlagnahmten ‚Erfahrungshorizonts‘ (Oskar Negt und Alexander Kluge), so als könnten wir uns auf genau das nicht mehr verlassen, worauf einzig wir uns verlassen können. Ausgerechnet dort, wo der Bürger aus seinem privaten Raum heraustritt, um mit anderen Bürgern zu einem offenen Gespräch zu kommen, findet eine Gesellschaft bereits statt, die durchzogen ist von politischen Kalkülen, wirtschaftlichen Interessen, ästhetischen Empfindlichkeiten und moralischen Ansprüchen, von religiösen Rücksichten und wissenschaftlichem Zweifel ganz zu schweigen, und ihm diktiert, was er von wem unter welchen Umständen zu erwarten hat. All das, was nach der Aufklärungsversion des Öffentlichen Gegenstand des Gesprächs und dann sogar der Entscheidung der Bürger sein sollte, ist schon da und strukturiert vorab, wie das Gespräch stattfindet, wer es führt und wer von ihm ausgeschlossen ist.

Es ist daher nur konsequent, wenn die Stadt Duisburg ein Forum zur Vorbereitung auf die Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010 sowohl auf den Begriff der ‚Paradoxien‘ als auch der ‚Selbstorganisation‘ des Öffentlichen bringt. Vom Anspruch auf das Öffentliche und an das Öffentliche verabschiedet sich die Gesellschaft auch dann nicht, wenn sie beobachten muss, wie dieser Anspruch immer wieder unterlaufen und in sein Gegenteil verkehrt wird. Was ist das Öffentliche anderes als ein Raum der Begegnung mit Werbeflächen? Was ist ein öffentlicher Raum anderes als eine Erleichterung der Möglichkeit, den Arbeitsplatz zu erreichen, seine Konsumwünsche zu erfüllen und dann auch wieder nach Hause zu finden? Und was sind das denn für Gespräche, die in diesem öffentlichen Raum noch stattfinden, ganz zu schweigen von den Entscheidungen, die dort noch nie gefällt worden sind? Und dennoch: Laufend bedroht, entsteht das Öffentliche doch immer wieder neu. Wenn jemand zuhört, genügt es, dass jemand es zitiert.

Jürgen Habermas hatte das schöne Wort von den ‚oikosdespoten‘, den ‚Hausherren‘ in einem sehr drastischen Sinne geprägt, die sich auf der griechischen Agora treffen, um dort durchweg streitlustig über die Belange der Polis zu beraten.1 Dem entsprach empirisch und nicht ganz im Einklang (aber doch in loser Kopplung) mit seinem von Anfang an arg normativ gefärbten Begriff wohl schon bei den alten Griechen, geschweige denn danach, ein öffentlicher Raum, den die Jungen nutzen, um herumzulümmeln und darauf aufmerksam zu machen, dass es sie auch noch gibt; den die Alten nutzen, um ihren Kaffee zu trinken und alte Zeiten wieder aufleben zu lassen; und den die Rüstigen nutzen, um entweder zur Ordnung zu rufen oder geschäftig vorüberzueilen und sich um Wichtigeres zu kümmern. Und dennoch, keine Frage, würde niemand darauf verzichten wollen, diesen Raum zur Verfügung zu haben. Die Shopping Mall, die die Familie aufsucht, um die Kinder ins Kino zu schicken, die Alten ins Café und die Jungen in die Boutiquen, bevor man sich zum gemeinsamen Essen trifft, ist für diesen öffentlichen Raum schon deswegen kein Ersatz, weil sie nicht dazu taugt, abweichende Befindlichkeiten zu registrieren. Die Shopping Mall wird nur von Kaufleuten beobachtet, die die Bewegungen und Kaufentscheidungen der Kunden verbuchen. Und die Kunden sind vollauf damit beschäftigt, herauszufinden, welche Waren auf ihre Entscheidung warten.

Im öffentlichen Raum hingegen registriert die Gesellschaft ihren eigenen Zustand: Wer hat was zu tun? Wer protestiert wogegen? Wer erinnert sich woran? Diesen Raum als Leerstelle vorzuhalten, in der Eintragungen jeweils erst vorgenommen werden können und die auch als Leerstelle ihren Informationswert hat – in der Gesellschaft sind auch Nicht-Ereignisse Ereignisse –, ist eine Leistung der Gesellschaft, die man in der Tat nicht geringschätzen sollte.

Dennoch bedarf die Überlegung auf diesem Forum, ausgerechnet Künstler damit zu beauftragen, sich mit dem Zustand des Öffentlichen, mit seinen Paradoxien und seiner Selbstorganisation zu beschäftigen, einer besonderen Begründung. Warum fragt man nicht Architekten und Städteplaner, die sich mit Fragen der Raumplanung auskennen, Politologen und Philosophen, die Prozesse der Meinungsbildung beobachten, oder Juristen und Polizisten, die darüber Auskunft geben können, welche Konflikte im Öffentlichen wie geregelt werden? Warum schickt man Künstler ins Feld, die Busfahrten organisieren, Spazierwege anlegen, Autobahnen und Datenräume kartografieren, handygestützte Parallelgesellschaften inszenieren und wie weiland William Burroughs die Bilder und Töne des Geschehens aufnehmen und ins Geschehen wieder einspielen, um es über seine eigene Widerholung ins Stolpern zu bringen?2

Auf diese Fragen gibt es eine einfache und eine etwas kompliziertere Antwort. Die einfache Antwort ist, dass der Einsatz von Künstlern die Sache publikumsfreundlicher macht. Und die etwas kompliziertere Antwort ist, dass diese publikumsfreundliche Bestandsaufnahme der Paradoxien des Öffentlichen mit künstlerischem Beistand bereits ein Teil der Lösung des Problems wie auch des Problems selber ist. Sie ist ein Teil der Lösung des Problems, weil die künstlerischen Aktionen einen Beitrag dazu leisten können, dass das Publikum wieder damit anfängt, einen Blick auf sich selbst, auf die Gesellschaft und auf deren aktuelle Zustände zu werfen, so dass bei der Suche nach dem Status des Öffentlichen dieses bereits stattfindet und man sich schon ‚in der Bewegung‘ befindet, von der das Öffentliche lebt. Und sie ist ein Teil des Problems, weil das Öffentliche, bearbeitet durch die Kunst, schon diese Leerstelle nicht mehr ist, in der sich die sich selbst in den Blick nehmende Selbstorganisation des Öffentlichen ja zuallererst ereignen soll. Wenn das Publikum etwa auf der Rundfahrt durch ‚Duismülsen‘, die das raumlaborberlin organisiert hat, so oft mit sich alleingelassen wird, ist das deswegen zwar künstlerisch und ästhetisch ein Problem, weil die konsequente Dramaturgie zu fehlen scheint, aber doch zugleich sozial ein Beitrag zur Lösung des Problems, weil die Leerstellen geschaffen werden, auf die es ankommt. So war denn auch zu beobachten, dass es auf dieser Rundfahrt zu den charmantesten Formen der Selbstorganisation kam. Gerade hier war zu lernen, dass man den Paradoxien des Öffentlichen nur dann auf die Spur kommt, wenn man sich eine Dramaturgie überlegt, in der nicht nur die Personen auf der Suche nach einem Autor sind (Luigi Pirandello), sondern auch die Rollen auf der Suche nach den Personen und die Plätze auf der Suche nach den Ereignissen sowie diese Ereignisse auf der Suche nach ihrer Bedeutung. Die Kunst kann auf den öffentlichen Raum nur referieren, nutzen müssen wir ihn, unbehindert durch die Kunst, dann selber.

Ein Ausflug in die Geschichte

Was also hat es mit diesen Paradoxien, mit dieser Selbstorganisation des Öffentlichen im Feld der eigenen Unwahrscheinlichkeit, wenn nicht Unmöglichkeit auf sich? Ich möchte einen kleinen Ausflug in die Geschichte der Gesellschaft vorschlagen, um zum einen das Gefühl dafür zu wecken, was sich in diesem Raum des Öffentlichen aus einer soziologischen Perspektive abspielt, und zum anderen danach zu fragen, wie es der Kunst gelingen kann, hier eine Funktion zu übernehmen, die die Leerstelle respektiert, aber auch weiß, was in ihr jeweils auf dem Spiel steht.

Vier Formen der Gesellschaft kann man unterscheiden, wenn man sich an der von Marshall McLuhan, Manuel Castells, Niklas Luhmann und anderen formulierten These orientiert, dass es jeweils die von Verbreitungsmedien der Kommunikation geschaffenen Probleme sind, deren dauernde Bearbeitung die Form einer Gesellschaft, ihre Struktur und ihre Kultur definieren. Dann haben wir es mit einer Stammesgesellschaft zu tun, die den Schock der Einführung der Sprache verarbeitet (noch einmal William Burroughs: „Language is a virus from outer space“), mit der antiken Hochkultur, die zusätzlich zur Sprache mit der Schrift fertig werden muss (Platon beklagt ihre Kälte, die dem Menschen sein lebendiges Gedächtnis raubt, lobt aber auch, dass sie das gesprochene Wort anhält und so den Menschen aus der Mimesis befreit, die diesen in den Fluss der Rede bannte), mit der modernen Gesellschaft, die sich mithilfe des Buchdrucks in eine höchst ungewohnte Dynamik getrieben hat (Montaigne und Descartes entdecken, dass jetzt nur noch der Zweifel Bestand hat), und mit einer ‚nächsten Gesellschaft‘ (Peter F. Drucker), die gerade damit begonnen hat, sich auf die neuartigen Kontrollprojekte einzustellen, die im Medium des Computers und seiner Vernetzung entstehen.

Die These von der Dominanz eines Verbreitungsmediums hat ihren archäologischen und heuristischen Wert auch dann, wenn man berechtigterweise danach fragt, welche Rolle die Fotografie, der Film, das Telefon, der Rundfunk, das Fernsehen und das mobile Telefon in diesem Drama der Evolution der Gesellschaft spielen. Zusätzliche Tiefenschärfe lässt sich leicht gewinnen, wenn die Problemstellung erst einmal hinreichend deutlich ist. Wenn man die Buchdruckgesellschaft als eine Gesellschaft versteht, die sich im Medium ihrer Kritik laufend selbst kommentiert und variiert (in der Moderne ist die Gesellschaft nur ein Modus ihrer selbst), wird man die Fotografie und den Rundfunk als Verbreitungsmedien beschreiben können, die ein Mehr desselben nach sich gezogen haben, wenn auch mit erheblichen zusätzlichen Effekten der Beanspruchung von Wahrnehmung, die nicht zu vernachlässigen sind.

Dramatischer jedoch ist der Schritt vom unbewegten zum bewegten Bild, der mit Film und Fernsehen vollzogen wird, weil hiermit, wie Luhmann beobachtet hat,3 die Kommunikation insgesamt zum Gegenstand der Wahrnehmung wird und damit eine Negationsresistenz gewinnt, der nur mit einem großen Aufwand der kritischen Medienkunde begegnet werden kann, und dies ähnlich wie im Fall der Sprache erst dann, wenn es bereits zu spät ist. Lesen und Schreiben lernt man nur, indem man lernt, zu lesen und zu schreiben. Hier sind, mit weitreichenden Folgen für das ‚analytische‘ Selbstverständnis von Antike und Moderne, die kritischen und damit ‚rationalen‘, die Welt an ihre Brüchen kenntlich machenden Kompetenzen in den Umgang mit dem Medium gleich mit eingebaut. Für die Sprache, das unbewegte und das bewegte Bild gilt das nicht. Hier hat man schon gehört und gesehen und muss dann mühsam lernen, was das heißt und wie sich aktive und passive Rollen auf den Prozess der Produktion von Wörtern und Bildern zurechnen lassen. Die Alphabetisierung und Literalisierung verstehen sich hier deswegen nicht von selbst, weil sie denen, die schon können, was sie nicht beherrschen, überflüssig scheint.

Diese Komplikationen unserer These sind interessant, müssen uns hier jedoch nicht beschäftigen. Wichtiger ist es uns hier, nach dem Status des Öffentlichen und der Kunst in diesen vier Gesellschaften zu fragen, wohl wissend, dass das Öffentliche eine emphatische Kategorie ist, die erst für das athenische (im Unterschied zum mykenischen) Griechenland4 und die demokratische (im Unterschied zur feudalen) Moderne5und somit nicht für die Stammesgesellschaft und auch nicht, da ist man sich nicht sicher, für die nächste Gesellschaft in Anspruch genommen wird, und ebenso in Rechnung stellend, dass auch unser Begriff von Kunst Schwierigkeiten hat, die Produktion und Rezeption von Kunst in der Stammesgesellschaft und in der nächsten Gesellschaft wiederzuerkennen. Die ritualisierte Stammesgesellschaft scheint die autonome Kunst auszuschließen, die ökologisierte nächste Gesellschaft ihrer überdrüssig zu sein. Aber wir werden sehen, dass diese Einschätzung in beiden Fällen ein Fehler der Optik ist, der auf die moderne und sehr bürgerliche Überschätzung der Autonomie der Kunst zurückzuführen ist.

Unsere These ist, dass das Öffentliche wie das Private wie auch die Kunst und ihr Publikum so genannte Einmalerfindungen sind, die in unterschiedlichem Gewand in jeder bekannten Form von Gesellschaft auftreten und ihre Wiedererkennbarkeit wie auch damit ihre Reproduzierbarkeit aus ihrem funktionalen Stellenwert im Rahmen der Autopoiesis, der Selbstherstellung der Gesellschaft im Ganzen erhalten. Unter einer ‚Funktion‘ verstehen wir hier ganz mathematisch und ganz im Sinne der Kulturtheorie von Bronisław Malinowski6 einen Interdependenzzusammenhang von Variablen, keine teleologische Struktur der Erfüllung letzter Zwecke. Und wenn wir davon reden, dass eine Institution wie die des Öffentlichen oder der Kunst ihre Funktion ‚im Ganzen‘ der Gesellschaft erfüllt, so unterstellen wir hier einen Begriff des Ganzen, der nur in dem Sinne holistisch gemeint ist, als jedes Einzelne mit Blick auf dieses Ganze mit einer Struktur der Ergänzung konfrontiert ist, die nicht vom Ganzen, sondern nur vom Einzelnen und damit auch immer nur als Einzelnes erbracht werden kann. Diese Struktur der Ergänzung hat Martin Heidegger in seiner Vorlesung über Die Grundbegriffe der Metaphysik freigelegt.7

In einer Gesellschaft, die sich hier schon und im Anschluss an die biologische Theorie von den Organismen in ihren Umwelten radikal ökologisch denkt,8 kann das Ganze als solches nicht auftreten, sondern nur vom Einzelnen ‚repräsentiert‘ werden, das dieses Ganze nicht ist. Kein Supersystem und erst recht kein ‚Ökosystem‘ (schon der Begriff ist widersinnig, siehe dazu die Arbeiten von Joseph H. Reichholf)9 hält dieses Ganze zusammen, sondern nur der funktionale Bezug auf dieses Ganze im Zuge der Ergänzung jedes Einzelnen im Kontakt mit anderem. Dass dabei eine ‚Kultur‘ entsteht, die ihrerseits autoritäre Ansprüche stellt, der sich das Einzelne mehr oder minder freiwillig unterwirft, wenn es Anschluss an anderes sucht, soll damit nicht bestritten werden und ist für den Fall der „Weltkultur“ überzeugend von John W. Meyer aufgezeigt worden.10

Was also sind wir bereit, in diesem Zusammenhang ein Öffentliches zu nennen, und welche Rolle spielt im Umgang mit diesem Öffentlichen die Kunst?

Das Öffentliche, so sein weniger emphatischer als vielmehr soziologischer Begriff, wie ihn Harrison C. White im Anschluss an Erving Goffman entwickelt hat,11 ist jene Leerstelle in der Gesellschaft, in der sich ein Wechsel zwischen den Stellen der Gesellschaft ereignen kann. Das Öffentliche ermöglicht den Switch zwischen den Kontexten: vom eigenen Haus an den Arbeitsplatz, von der Freizeit in den Konsum, von der Kultur in den Sport. Gäbe es diese Leerstelle nicht, an der sich zunächst nichts anderes ereignet als der Switch selber, könnte dieser Switch nicht stattfinden und wäre man auf immer in den jeweiligen Kontext eingebunden, in den man vielleicht hineingeboren wurde und den man dann als immerhin wählbaren ‚Kontext‘ nie kennenlernen könnte, weil er mit der Welt schlechthin verschmelzen würde. Das Öffentliche ist die Garantie der Fragmentierung des Sozialen, der Pluralität der Kontexte des Sozialen und damit der Wählbarkeit dieser Kontexte und jeden Freiheitsverständnisses, das nur daran anknüpfen kann. Nur der Switch befreit, wenn auch nur zum nächsten Kontext.

Wenn sich dieser Begriff des Öffentlichen bewährt, könnte man die Kunst als Markierung der Leerstelle begreifen, als Offenlegung der Paradoxie, dass die Fülle der Gesellschaft nur dort zum Vorschein kommt, wo nichts anderes stattfindet als die Wahl zwischen ihren Möglichkeiten, eine Wahl immerhin, die selbst nicht unter dieses Mögliche fällt, sondern in der Gesellschaft und von der Gesellschaft für so notwendig gehalten wird, dass sie in der nächsten Paradoxie nur dem zwecklosesten aller Funktionsbereiche, der Kunst, überantwortet werden kann. Mit „interesselosem Wohlgefallen“ (Immanuel Kant) bestehen wir darauf, dass wir die Wahl haben, und verlangen wir von der Kunst immer aufs Neue, dies und nur dies zu dokumentieren. Die Kunst will nichts außer dem Eigensinn, der überraschenden Wendung. Sie ist Poiesis im Auftrag der Praxis: Hervorbringung von Werken, die nichts anderes wollen als sich selbst, dies aber als Markierung nicht von Vollkommenheit, Perfektion, sondern der Möglichkeit einer Wahl als Notwendigkeit einer Entscheidung.

Vier Formen der Gesellschaft

Trifft es zu, dass man die Stammesgesellschaft etwa mit Claude Lévi-Strauss12 als Struktur von Ritualgemeinschaften verstehen kann und dass diese Ritualgemeinschaften nicht zuletzt zur Kontrolle des Referenzüberschusses des gesprochenen Wortes eingerichtet werden (Wer darf zu wem wann worüber sprechen und wovon etwas hören?), dann hat das Öffentliche in dieser Gesellschaft die Gestalt der Grenze zwischen diesen Ritualgemeinschaften. Der Platz in der Mitte des Dorfes, der Zaun zwischen Garten und Wildnis, der Pfad auf dem Weg zum Nachbarstamm sind deswegen Räume des Öffentlichen in unserem Sinne, weil hier Entscheidungen getroffen und Kontexte gewechselt werden können.

Diese Räume sind strikt kontrolliert. Sie bekommen ihrerseits eine rituelle Funktion, die davor warnt, die falsche Entscheidung zu treffen und einen Kontext zu wählen, der einem nicht zukommt oder für den man die passende Initiation noch nicht vorzuweisen hat. Nichts ist zufällig an den Bewegungen von Männern und Frauen, Kindern und Alten, Häuptlingen und Schamanen in diesem von Grenzen durchzogenen und mit Geheimnissen aller Art ebenso indizierten wie geschützten Raum. Deswegen haben diese Räume nichts mit dem zu tun, was wir unter einer Öffentlichkeit zu verstehen gelernt haben. Wir sehen die Freiheit nicht, die die Privaten hier zur Bestimmung ihres nächsten Schrittes in Anspruch nehmen könnten. Aber damit täuschen wir uns. Die Freiheit ist da. Sie besteht darin, an jeder Grenze des eigenen Status ansichtig zu werden und für einen Moment, einen winzigen Moment, den Status der anderen als einen anderen Status zu erleben und mit dem Gedanken zu spielen, die Grenze zu kreuzen. Und das genügt. Damit ist die Gesellschaft als Differenz der verschiedenen Status markiert, und mehr braucht man nicht, um sich der Möglichkeit des Wechsels auch dann zu vergewissern, wenn man ihn nicht vornimmt.

Schaut man genauer hin, wird man feststellen, dass all das, was wir am ehesten mit ‚Kunst‘ in Verbindung bringen, weil es zum Beispiel einen ornamentalen, also ‚überflüssig‘ sich selbst markierenden Charakter hat, in Stammesgesellschaften an diesen Grenzen stattfindet. Amulette, Totems und Masken, Verzierungen an Häusern und von Plätzen sind ebenso viele Markierungen von Grenzen, die zu überschreiten grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise, also sozial konditionierbar, gestattet ist. Wir nennen Kunst, was in diesem Sinne zugleich zu faszinieren und abzuschrecken vermag. Man weiß, dass sich hinter der Maske etwas abspielt, dass die Totems ein Geheimnis bewachen und dass die Amulette eine Person vor den bösen Blicken anderer schützen, aber man weiß auch, dass man nur im Ausnahmefall die Maske abnehmen, das Geheimnis offenlegen und die Amulette entfernen darf. Was wir Kunst nennen, markiert diese Möglichkeit und hegt sie zugleich ein in eine Reflexion der ganzen Gesellschaft, die in dieser einen Grenze, in jeder Grenze, mit auf dem Spiel steht.

Ganz anders die Schriftgesellschaften der antiken Hochkulturen in Ägypten und Griechenland, in China und bei den Inkas. Hatte die Sprache die Stammesgesellschaften mit einem Referenzüberschuss konfrontiert, so bekommen es die Hochkulturen dank der Einführung der Schrift mit einem Symbolüberschuss zu tun, der deswegen problematisch ist, weil die Gesellschaft es dank dieses Überschusses, wie dies jeder Schriftbegriff seither nachzuzeichnen versucht, damit zu tun bekommt, dass jetzt die Abwesenden und das Abwesende mitkommunizieren. Über ihre Symbole (Inschriften, Botschaften, Urkunden, Gutschriften) sind sie in Situationen präsent, die zuvor noch in der Lage waren, ausschließlich unter den Anwesenden ihren Sinn und Zweck zu verhandeln. Die Kultur der Gesellschaft springt um von einer Kultur der Geheimnisse auf eine Kultur der Zwecke, die es erlauben, dem Symbolüberschuss mit Selektionsfähigkeit, das heißt mit der Möglichkeit der Ablehnung wie, profiliert durch diese, der Annahme zu begegnen. Andernorts werden diese Zusammenhänge genauer ausgeführt.13

Das Öffentliche behält in dieser Gesellschaft seinen Stellenwert, erhält jedoch ein neues Gewand. Es tritt jetzt zum einen auf als Schwelle, als Übergangsbereich zwischen Haus (oikos) und Stadt (polis), und zum anderen als Versammlungsort und Marktplatz (agorá, forum), auf dem und um den herum versammelt wird, was in dieser Gesellschaft Anspruch darauf erhebt, perfekt zu sein, und damit immer mitlaufend als korrupt beobachtet werden kann. Die Unterscheidung von Perfektion und Korruption ist das Supplement der Unterscheidung der Zwecke (teloi) untereinander. Am Dialog Politeia von Platon kann man studieren, dass das eine nicht ohne das andere zu denken, die Frage nach der gerechten Ordnung der Stadt nicht von der lebendigen Beschreibung ihres tatsächlichen und höchst ungerechten Durcheinanders abzulösen ist. Das Öffentliche versammelt daher das Perfekte und das Korrupte, um im Streit über die Zwecke aushandeln zu können, wer welchen moralischen Kredit eingeräumt bekommt und wer nicht.

Die Kunst macht diesen Gewandwechsel mit. Sie ist nicht mehr Maske und Totem, sondern Plastik und Bild. Sie steht herum auf der Agora und sie findet sich auf den Vasen und Schalen des festlichen Gebrauchs. Sie zeigt perfekte, schöne Körper von Göttern, Helden und Athleten und sie zeigt das pralle Leben, Lust und Trunkenheit, komische und tragische Momente der Wahl, in denen die Korruption lockt und das Perfekte dennoch möglich bleibt. Sie markiert den Wechsel zwischen dem einen und dem anderen, indem sie beides kopräsent hält. Und sie zelebriert als wahrhaft vollkommen jene Leerstelle, in der gerade eben möglich wird, was gerade noch ausgeschlossen schien, die perfekte Bewegung, die schöne Geste, das sinnvolle Wort. Dank Eric A. Havelocks Studie Preface to Plato glaubt man zu wissen, warum Platon die Kunst (Homers und Hesiods) aus seiner gerechten Stadt zu vertreiben versuchte.14 Sie war ihm zu wenig Schrift (trotz seiner Warnung vor der Kälte der Schrift), zu sehr bloßes Wort im Sinne eines Wahrnehmungsmediums, das Hörer und Sprecher eher emotional als analytisch, eben mimetisch oder ‚heiß‘ (McLuhan) in Anspruch nimmt. Aber damit hätte er verkannt, dass die Kunst nicht etwa Partei ergreift, sondern noch in der Mimesis diese mitinszeniert und in eine Bewegung des entweder Tragischen oder Komischen versetzt, die ohne ihre ‚Verknotung‘ (Aristoteles) im Medium kontingenter Entscheidungen schlechterdings nicht zu denken sind. Doch das gilt nur für Platons Aussage, wie Carol Jacobs im Anschluss an John Sallis gezeigt hat, nicht jedoch für seine Argumentation:15 Die Bewegung seines Arguments ist so angemessen widerspruchsvoll, wie seine Aussage alle Widersprüche hinter sich lassen will. Keine schlechte Voraussetzung, um Klassiker zu werden.

Die moderne Gesellschaft lässt im Medium des Buchdrucks die Struktur und Kultur der Schriftgesellschaft hinter sich, wobei der Charakter dieses Hintersichlassens darin besteht, dass die ältere Struktur und Kultur erst jetzt zum Bewusstsein der Selbstbeschreibung der Gesellschaft kommen und Herz und Verstand der Menschen in dieser Gesellschaft beschäftigen, während ihr Handeln und ihre Kommunikation längst woanders sind. Die aristotelische Teleologie begleitet die moderne Gesellschaft als Traum und Philosophie ihres eigenen Ethos bis heute, während sich dank der mithilfe des Buchdrucks massenhaft verbreiteten Schriften (Flugblätter, Zeitungen, Bücher, Akten, Zeugnisse, Geldscheine) eine Struktur herausbildet, die nicht mehr vom Symbolüberschuss, sondern vom Kritiküberschuss geprägt ist. Jeder hat gelesen (oder fällt gerade daran auf, dass er nicht gelesen hat) und jeder muss unterstellen, dass alle anderen gelesen haben (oder eben nicht gelesen haben), so dass es keine Meinung zu nichts mehr gibt, die nicht mit der Möglichkeit ihres Gegenteils, mit der Möglichkeit einer Abweichung, zuweilen auch mit der Möglichkeit ihrer Begründung mit unwillkommenen Motiven konterkariert werden kann. Gleichgültig, ob man unternehmerisch investiert oder politisch entscheidet, ob man die eine oder die andere Schule besucht, sich jetzt oder später verheiratet, an diesen oder jenen Gott glaubt, seine Kinder so oder anders erzieht, diese oder jene Sexualtechniken präferiert, lieber die Erdbeeren aus der Region oder die Ananas aus Übersee isst, zu jeder dieser Möglichkeit gibt es gute Gründe und kritische Gegenmeinungen. Schon deswegen muss man laufend wählen. Wie sonst könnte man sich der Kritik würdig erweisen? Das hat der vielzitierte Bartleby des Herman Melville mit seiner Standardantwort, „I would prefer not to“, messerscharf erkannt und ex negativo auf den Punkt gebracht.

Die moderne Gesellschaft stabilisiert sich beziehungsweise restabilisiert sich auf der Ebene einer Dynamik der Beobachtung zweiter Ordnung, auf der jedermann laufend mit Kritik rechnet und genau dafür Vorkehrungen trifft. Unternehmer sind offen für Konkurrenz, solange die Politik nachhilft; Politiker sind offen für Neuwahlen, solange der Rest der Gesellschaft dafür Sorge trägt, dass es auch für abgewählte Politiker eine Zukunft gibt; Liebhaber fühlen sich nicht nur an die eigene, sondern auch an die Lust der Geliebten gebunden; Wissenschaftler lassen sich fragen, ob sie auch empirisch zeigen können, was sie theoretisch behaupten; sogar die Priester fühlen sich daran gebunden, ob ihnen die Seele der Gläubigen folgen kann oder nicht. Jeder beobachtet die Beobachtungen der anderen und in fröhlichster und hartnäckigster Rekursivität entstehen die Eigenwerte dessen, was wir dann die Institutionen der Moderne nennen, Demokratie und Markt, romantische Liebe und empirische Wissenschaft, säkulare Religion und positives (‚gesetztes‘) Recht.

Das Öffentliche verdünnt sich hier zum Switch schlechthin. Die Plätze und Räume von einst ‚symbolisieren‘ nur noch, worum es eigentlich geht. Die Einrichtungen des Verkehrs, des Ortswechsels, der Erreichbarkeit der verschiedenen Stellen der Gesellschaft sind wichtiger als die Versammlung der Symbole der Perfektion im öffentlichen Raum des Durcheinanders. Und der Mobilität zwischen den Stellen der Gesellschaft entspricht eine erst jetzt entwickelte Kultur der Geselligkeit, die ihrerseits und in striktem Sinne leer ist, weil es in ihr nur darum geht, ausprobieren zu können, mit welchen Themen man wem gegenüber wie weit kommt. Überall, wo diese Geselligkeit stattfindet, findet Öffentliches statt, seien es die großen Feste, die privaten Einladungen, die Stammtischgespräche, das Plaudern in den heißen Bädern der Wellnesscenter oder auch die Cafés der Shopping Malls. Überall, wo das Publikum noch nicht definiert ist, sondern erst gefunden werden muss, und die Akteure deswegen noch zwischen ihren Rollen schwanken können, findet Öffentliches in diesem präzisen Sinn der Appräsentation der Möglichkeiten der Gesellschaft statt, und seien es die mäandernden Gespräche des Kunden mit dem Taxifahrer, dem Friseur und dem Barkeeper.

Nur dort, wo nicht mehr gewechselt werden kann, ist das Öffentliche vertrieben. Die ‚Nicht-Orte‘, von denen Marc Augé mit Blick auf Flughäfen, Hotels, Restaurantketten und Bordelle spricht,16 sind keine Orte des Öffentlichen, weil an ihnen die Kontexte nicht gewechselt, sondern andernorts getroffene Entscheidungen programmgemäß nur noch ausgeführt werden. Und die Zonen der Exklusion, die Giorgio Agamben mit Blick auf Asylantenzellen, Intensivstationen und Konzentrationslager beschreibt,17 sind natürlich schon deswegen keine Orte des Öffentlichen, weil an ihnen der Kontextwechsel ausgeschlossen ist beziehungsweise auf eine Art und Weise verfügt wird, die sich jeder Kritik und Diskussion entziehen.

Die moderne Kunst hat es in dieser Situation nicht leicht. Die Gesellschaft und mit ihr das Öffentliche verlieren jede Anschaulichkeit, so dass sich auch die Kunst in der Musik wie in der Malerei, aber tendenziell auch im Theater und im Tanz, ohne recht zu wissen, warum, auf das Studium abstrakter Kontraste und bloßen Formenspiels zurückzieht. Aber natürlich stimmt das nicht ganz. Mindestens so attraktiv wie die Abstraktion ist das Individuum, und dies sowohl in der Fassung des Künstlers, der erst in der Moderne in die Falle des autonomen Genies gejagt wird, als auch in der Fassung des Gegenstands, indem das Individuum auf Bildern und als Musikhörer, im Tanz und im Theater in einem Ausmaß mit seiner eigenen Fragilität konfrontiert wird, die nur in der erneuten Markierung dieser Leerstelle einer möglichen, aber nicht vorwegzunehmenden Entscheidung ihre Pointe haben kann.

Im Mittelpunkt der modernen Kunst stehen nicht mehr die Maske und nicht mehr der entweder perfekte, leidende oder deviant monströse Körper, sondern der leere Mensch, der in jedem denkbaren Moment zum Objekt und zum Subjekt einer nicht auszudenkenden Kritik auf dem Weg zu einem nicht auszudenkenden Kontext wird. Diese Leerstelle, nicht etwa der perfekte Mensch der Antike, ist die heimlich-unheimliche Botschaft des Humanismus. Aber noch beunruhigender ist, dass die Öffentlichkeit in letzter Konsequenz dann im Individuum selber stattfindet, in seiner Fähigkeit, sich ein Publikum zu suchen oder zum Publikum zu machen und zwischen den Akteursrollen zu wählen, die ihm in unverminderter Ironie immer wieder neu zur Verfügung gestellt werden. Man weiß nicht, ob die Kunst diesem Individuum beisteht oder ihm noch gnadenloser als der Rest der Gesellschaft nachstellt. Denn je mehr sie sich um das Individuum kümmert, desto leerer wird es, ein Entwurf seiner selbst mit einem genauen Wissen nur um die Hölle der anderen (Jean-Paul Sartre).

Das Leben der Formen

Gottlob beginnen wir, auch dieses hinter uns zu haben. Auch wenn wir über die nächste Gesellschaft naturgemäß noch nichts Genaues sagen können, immerhin haben wir es erst seit etwa sechzig Jahren mit der Einführung des Computers zu tun und erst seit den 1960er Jahren gelernt, die Frage nach dem Einfluss der Verbreitungsmedien auf die Struktur und Kultur der Gesellschaft auch nur zu stellen, so ist doch immerhin bereits sichtbar, worin die Herausforderung besteht. Der Computer ist nicht nur die erste Maschine, die über ein eigenes Gedächtnis verfügt – von einer ‚memory-stored control‘ spricht John von Neumann18 –, sondern zugleich auch eine Maschine, die sich auf dieser Grundlage anschickt, sich ebenso überraschend und unzugänglich an der Kommunikation der Gesellschaft zu beteiligen, wie wir dies bisher nur von Menschen und auch hier auf der Grundlage des ihnen zugesprochenen und für andere unverfügbaren Gedächtnisses gewohnt sind.

Welche Rolle könnten hier das Öffentliche und die Kunst spielen? Halten wir uns streng an die bisherige Begrifflichkeit – das ist ja schließlich die Funktion eines Begriffs: auch in neuartigen Zusammenhängen auf seine Tauglichkeit hin erprobt werden zu können –, so bleibt es dabei, dass das Öffentliche darin bestehen wird, jene Leerstellen zur Verfügung zu stellen, die es erlauben, den Kontext zu wechseln.19 Damit lautet unsere Frage, mit welchen Kontexten wir rechnen müssen und mit welchem Typ von Leerstellen wir es zu tun bekommen. In der modernen Gesellschaft waren die für die Struktur und Kultur der Gesellschaft wesentlichen Kontexte so genannte Sachkontexte. Man wusste, wenn man gelesen hatte und kritisieren wollte, dass man zwar die Moral für jede beliebige Kritik in Anspruch nehmen konnte, darüber hinaus jedoch Politiker nur auf dem Feld der Politik, Unternehmer nur auf dem Feld der Wirtschaft, Künstler nur auf dem Feld der Kunst, Pädagogen nur auf dem Feld der Erziehung, Priester nur auf dem Feld der Religion und Wissenschaftler nur auf dem Feld der Wissenschaft kritisieren konnte. Das schränkte die Kritik erheblich ein und versorgte die Felder zugleich mit einer punktgenauen und nach Belieben steigerbaren, jedoch nie ins Prinzipielle ausgreifenden Kritik. Man musste ja anerkennen, was man kritisierte, indem man es kritisierte. Das ist zwar nur auf dem Feld der Kulturkritik besonders aufgefallen,20 gilt aber für alle anderen Felder gleichermaßen. Darüber hinwegsehen konnte man nur, weil der Rückgriff auf die Moral bei Bedarf als Rückgriff auf die Gesellschaft insgesamt ausgelegt wurde.

Mit welchen Kontexten bekommt es die nächste Gesellschaft zu tun? Ich vermute, dass es die Kontexte der Kontrollprojekte selber sind, insofern man sich jedes dieser Kontrollprojekte als ein Projekt im Medium eines Computer Grids vorstellen kann (Wertpapierhandel, militärische Manöver, Ingenieurdesigns, Produktionsplanung und Logistik, aber auch Blogosphären, verteilte Computerspiele und andere über Portale integrierte Communities) und jedes dieser Projekte eine Rolle in einem eigenen Netzwerk spielt. Es ist kein Zufall, dass Manuel Castells die nächste Gesellschaft unter dem Namen ‚Netzwerkgesellschaft‘ beschreibt.21 Es könnte sein, dass Netzwerke, die sich an der Differenz von Zentrum und Peripherie orientieren oder auch dezentral über den Mechanismus der geteilten Risikostruktur organisiert sind, an die Stelle der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, der sozialen Schichten der Hochkultur und der Stämme der Stammesgesellschaft treten, so sehr alle diese früheren Strukturen, das sei vorsichtshalber noch einmal gesagt, nach wie vor ihre Rolle, wenn auch keine dominierende Rolle spielen.

Wenn wir davon ausgehen, dass jedes Netzwerk einen Kontext in unserem Sinne der Beschreibung eines Horizonts sozialer Anschlussmöglichkeiten darstellt, bekäme das Öffentliche die Aufgabe und Funktion, den Wechsel zwischen diesen Kontexten nach wie vor sicherzustellen. Wie wird dieses Öffentliche aussehen und wie wird es funktionieren?

Ich weiß es nicht. Wenn wir allerdings unseren Abduktionszusammenhang einmal umkehren und zuerst nach der Kunst und dann nach dem Öffentlichen fragen, könnte es sein, dass wir den einen oder anderen Hinweis aus der gegenwärtigen Kunstproduktion erhalten. Das wäre dann auch der tiefere Grund dafür, dass auf dem Duisburger Forum ‚Paradoxien des Öffentlichen‘ die Kunst und nicht die Architektur, die Stadtplanung, die Philosophie oder die Polizei in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die Kunst agiert sensibler. Sie ist mit ihren Werken zwangsläufig eher auf der Handlungsebene als auf der Diskursebene verankert (trotz aller „Kommentarbedürftigkeit“ der Kunst, so Arnold Gehlen, der noch dachte, das ginge vorüber)22 und hat so freies Spiel, auch dann auf der Höhe der aktuellen Gesellschaft zu agieren, wenn diese keinen Begriff von sich hat. Umgekehrt profitieren zunächst der Kulturbetrieb und dann auch die Sozialwissenschaft davon, diese Kunst bei ihrem Treiben zu beobachten und expliziter zu fragen, worauf ihre Diagnose zielt. Das allerdings setzt voraus, dass sich dieser Begriff der Gesellschaft von sich selbst schon andeutet. Sonst wüsste man nicht, worauf man achten soll, und stünde schweigend vor den Emanationen der Kunst.

Nehmen wir also an, es ginge bereits um die Computergesellschaft, von der die Kunst in der ewigen Unruhe ihrer selbst Wind bekommen hat. Es genügt ja, dass die Kunst merkt, dass die alten Bilder, Klänge, Tänze und Inszenierungen ihre Stimmigkeit verloren haben, dass sie weder ästhetisch überzeugen noch jener Stimmung den Puls fühlen, die sich in der Gesellschaft, gezwungen oder verführt zu neuen Handlungsmustern, zu verbreiten begonnen hat. Was sähe man dann? Man sieht, wie sich die Kunst vom fragilen Individuum abwendet, sowohl im Künstler wie in seinem Gegenstand, und sich stattdessen fragilen Räumen zuwendet, konstruiert von Künstlern, die ihr Handwerk ebenso präzise beherrschen wie ihre Karriere gezielt verfolgen. In Installationen und Ambienten (wenn es dieses Wort im Plural gibt), in Klangsphären, Happenings und Performances hat die Kunst spätestens in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts damit begonnen, ökologische Projekte zu verfolgen, das heißt, die Frage zu stellen, welche Formen sich unter welchen Bedingungen in welchem Typ von Kontakt zu welchen Kontexten zu erhalten in der Lage sind. Man möchte fast sagen, dass die Kunst begonnen hat, sich für das Leben zu interessieren. Henri Focillon hat bereits 1934 ein Buch unter dem Titel La vie des formes veröffentlicht,23 das schon nicht mehr lebensphilosophisch-vitalistisch, sondern bereits ökologisch orientiert war. Dabei ist es seither geblieben. In den unterschiedlichen Künsten in unterschiedlicher Strenge und Konsequenz wird erforscht, was sich auf dem Papier hält, in den Stein meißeln lässt, noch anhören lässt und gestisch tragen lässt, als ginge es darum, herauszufinden, in welchen Räumen welche Formen sich immer noch mit Erfolg ansiedeln lassen.

Das Publikum ist den Künsten darin gefolgt. Und genau das gibt uns zu denken. Das Publikum, als wüsste es um den Begriff vom Komplexen, gemäß dem das Komplexe nicht mehr zu verstehen, sondern nur noch in der Interaktion mit ihm zu erschließen ist, hat gelernt, innezuhalten und nicht zu analysieren (diese Geste lässt ein Kunstwerk nur noch oberflächlich zu), sondern nachzuempfinden, wohl wissend, dass es hierbei ebenfalls nur oberflächlich um emotionale und in Wirklichkeit um zutiefst analytische Fähigkeiten geht, die jetzt jedoch nicht mehr auf das Kunstwerk zielen, sondern auf den Betrachter, den Leser, den Hörer selbst. Das Publikum übt sich in einem Modus der Analyse, der auf das Publikum selber zielt. ‚Wer sind wir und wo leben wir, dass wir uns dafür interessieren‘, so scheint es dauernd zu fragen. Man schaue sich nur einmal und unter diesem Gesichtspunkt die Videoaufnahmen vom Publikum jener Galerien an, in denen Joseph Beuys seine Performances zelebrierte. Das ist kein kontemplatives Staunen, wie es sich die Griechen angesichts des Schönen gewünscht haben, und kein gefasstes Schweigen, wie es in der modernen Kunst dem Kenner empfohlen war, um der Autonomie Rechnung zu tragen, sondern das ist eine Selbstanalyse, Selbstpsycho- und Selbstsozioanalyse im Modus der Kunstbetrachtung, angeregt durch die Kunst, fasziniert durch die Kunst, aber interessiert nur daran, wie man zu sich einen Zugang findet, wenn man nicht in Abrede stellen kann, dass man dank dieser Kunst vor einem Rätsel steht. Das Kunstwerk ist das stellvertretende Rätsel für das eigentliche Rätsel, das Publikum.

Das aber würde bedeuten, dass das Öffentliche jetzt und heute im Gewand der Fragen nach der Art der Sphären, nach dem Unterschied zwischen den Sphären und nach den Möglichkeiten des Zugangs zu diesen Sphären auftritt. Das Exempel dafür ist das Gespräch der Kosmonauten mit der Sphäre von Solaris in Stanislaw Lems gleichnamigem Roman. Die Interaktion mit der Sphäre ist die einzige Ebene, auf die jetzt noch Verlass ist, wenn in dieser Interaktion streng nach Ranulph Glanvilles Formel, „Inside every white box there are two black boxes trying to get out“,24 die Sphäre unverständlich bleibt und der Kosmonaut sich unverständlich oder, was interessanterweise dasselbe bedeutet, nur allzu verständlich wird.

Wenn die Kunst nach dem Leben der Formen fragt, dann bekommt das Öffentliche den Status einer Nische, von der aus alle anderen Nischen in bester ökologischer Gleichrangigkeit, jeder Wirt der Parasit eines anderen Wirts, zugänglich sind, sofern man nur den Schlüssel findet, das heißt parasitär willkommen geheißen wird. Dafür gibt es einstweilen mehr Bilder als Begriffe, das Kino erzählt die dazu passenden Geschichten seit Jahrzehnten ohne Unterlass, aber zumindest wissen wir jetzt, worauf wir achten können.

1 Siehe Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt am Main 1990, S. 56.

2 Siehe William Burroughs, Electronic Evolution, 4. Aufl., dt. Bonn 1986, S. 15.

3 So Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 306 f.

4 So Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, dt. Frankfurt am Main 1982.

5 So Habermas, Der Strukturwandel der Öffentlichkeit, a.a.O.

6 Siehe Bronisław Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, dt. Frankfurt am Main 2005.

7 Siehe Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt am Main 1983.

8 Siehe nur Jakob von Uexküll, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Hamburg 1956.

9 Siehe Joseph H. Reichholf, Die systemisierte Natur, in: Scheidewege: Jahreschrift für skeptisches Denken 35 (2005/06), S. 173 – 186.

10 So John W. Meyer, Weltkultur: Wie die westlichen Werte die Welt durchdringen, hrsg. v. Georg Krücken, dt. Frankfurt am Main 2005.

11 Siehe Harrison C. White, Network Switchings and Bayesian Forks: Reconstructing the Social and Behavioral Sciences, in: Social Research 62 (1995), S. 1053 – 1063.

12 Siehe Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, dt. Frankfurt am Main 1978.

13 Siehe Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007.

14 Siehe Eric A. Havelock, Preface to Plato, Oxford 1963.

15 So Carol Jacobs, Marginalizing the Regime, Vortrag auf der Tagung ZONE (1): After Sovereignty (fading), ausgerichtet vom Graduiertenkolleg Rhetorik – Repräsentation – Wissen der Europa-Universität Frankfurt/Oder und des Poetics and Theory Program der New York University, Zentrum für Literaturforschung, Berlin, 12. – 13. Januar 2001; und vgl. John Sallis, Being and Logos: Reading the Platonic Dialogues, 3. Aufl., Bloomington, IN 1996.

16 So Marc Augé, Non-lieux: Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992.

17 So Giorgio Agamben, Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, dt. Frankfurt am Main 2002.

18 Siehe John von Neumann, The Computer and the Brain, New Haven, CN, 1958.

19 Siehe auch Dirk Baecker, Oszillierende Öffentlichkeit, in: ders., Wozu Gesellschaft? Berlin 2007, S. 80 – 101.

20 Siehe siehe Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1955, S. 7 – 31.

21 So in Manuel Castells, The Rise of the Network Society, Oxford 1996. Und zu Risikostrukturen von Netzwerken: Dirk Baecker, Womit handeln Banken? Eine Studie zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft, Frankfurt am Main 1991, S. 135 ff.

22 Siehe Arnold Gehlen, Zeit-Bilder: Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, 3., erw. Aufl., Frankfurt am Main 1986, S. 162 ff.

23 Siehe Henri Focillon, La vie des formes, Paris 1934 (engl. 1989).

24 Siehe Ranulph Glanville, Inside Every White Box There Are Two Black Boxes Trying To Get Out, in: Behavioral Science 27 (1982), S. 1 – 11.

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