Die Wut der Opfer
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)
Rechte und linke Identitätspolitik sind in ihrer Wutbehauptung gleich. Die Rechten füttern ihre Wut, indem sie sich als Opfer einer globalen Elite, feministischer Frauen oder islamischer junger Männer beschreiben, die ihre nationale Gemeinschaft zerstören und fremden Mächten ausliefern wollen. Als Ausweg empfehlen sie die Erhöhung des Zornpegels, um von der Opfer- auf die Täterseite zu wechseln. Die linken Identitätspolitiker sehen sich auch als Opfer, doch ist ihr weiterer Umgang damit ungleich komplizierter. Der Opferstatus ist hier Anfang und Ende zugleich: Kern linker Wutpolitik ist die Erhöhung des Opferstatus zu einer mächtigen Position. Dieser neue Machtanspruch der Opfer führt zu den vielfältigen Problemen linker Wutkollektive.
Linke Identitätspolitik ist ein Kind der postmodernen Theorien. In diesen wurde das erste Mal jede Art von Gemeinschaft radikal in Frage gestellt. Nicht nur Nationen wurde eine eigentliche oder überhistorische Natur abgesprochen, sondern auch das Geschlecht oder die Hautfarbe sollten nicht mehr biologische, sondern kulturelle Kategorien sein. Man wird als Mensch geboren und von der Gesellschaft zur Frau oder zum Mann gemacht. Man wird als Mensch geboren und zum Deutschen oder Chinesen gemacht. Es ist unstrittig, dass der Mensch von Natur aus künstlich ist. Wer als Kind deutscher Eltern in Japan geboren wird und dort sein...