Theater der Zeit

Stücke

Interview mit Marianna Salzmann

von Mehdi Moradpour und Sasha Marianna Salzmann

Erschienen in: Theater der Zeit: Hundert Blicke – Frie Leysen holt die Welt nach Berlin (10/2012)

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Die Autorin Marianna Salzmann im Gespräch mit Mehdi Moradpour

Frau Salzmann, Sie erzählen die Geschichte von drei Frauen aus einer Familie, jedoch aus drei unterschiedlichen Welten: Großmutter Lin, die als Kommunistin und erfolgreiche jüdische Kabarettsängerin in der DDR gelebt hat; Mutter Clara, die sich als Deutsche versteht und sich der jüdischen Kultur nicht zugehörig fühlt und die Tochter Rahel, die nach New York flieht. Was haben diese drei Frauen gemeinsam?

Familie ist dieses Gerüst von Bedingtheit, in ihr werden wir definiert und geprägt. Lin, Clara und Rahel tragen dieselbe Wut in sich, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie reagieren ähnlich schnell, weil das die Geschwindigkeit ist, in der man in dieser Familie funktioniert. Sie sind auch auf dieselbe Weise verzweifelt. Zum Beispiel verzweifelt darüber, dass sie sich der jeweils anderen gegenüber nicht verständlich machen können, obwohl sie doch eigentlich eins sind.

Und dann gibt es Davie, den abwesenden Bruder von Rahel, den die Familie an ein Kibbuz „verloren“ hat. Sucht er dort seine Wurzeln?

Manche suchen ihre Wurzeln in dem Land, in dem sie geboren sind, manche in nahestehenden Menschen und manche machen daraus einen politischen Akt. Davie geht – und von solchen wie ihm gibt es viele – in eine selbsternannte Heimat, in das – wie er zu Rahel sagt – „gelobte Land“, in ein anderes Leben. Dafür meint er seine in der Diaspora lebende Familie hinter sich lassen zu müssen. Er muss sich erst mal entwurzeln, um neuen Boden zu finden.

Rahel bricht auch mit der Familie und rennt vor ihren Konflikten weg. Ist diese Flucht auch eine Art „Wurzeln rausreißen“?

Nein, Rahel macht das Gegenteil, auch wenn die räumliche Trennung erst mal an Davies Entscheidung erinnert. Rahel geht weg, um aus der Distanz ihre Mutter besser zu verstehen – aus der Nähe scheint es unmöglich. Und Rahel bricht weder mit ihrer Familie, noch rennt sie weg. Sie geht ihren Weg. Der ist immer ein anderer als der der Generationen davor, aber genau diese Selbstbestimmung, wer man ist und wohin man geht, ist doch Erwachsenwerden.

Lösen sich Rahels Probleme durch das Weggehen?

Rahel hat ihren Zwillingsbruder verloren. Vor so etwas kann man nirgendwohin fliehen. Sie schreibt Briefe an ihn – eine Form von Verarbeitung, aber Probleme lösen sich nicht durchs Weggehen. Sie bekommt eine Chance, sich noch mal neu zu definieren. Zuerst geht sie unter in dem culture clash in New York, aber zum Schluss sagt sie ihrer Mutter, dass sie dort bleiben muss, weil „sie die Witze dort versteht“, das heißt, sie hat ihren Platz gefunden. Und Traumatisierungen kann sie nicht hinter sich lassen. Verarbeitung ist beständig.

 

Ist die Shoah ein Thema Ihres Stücks?

Nein, die Zeit danach ist es. Die Shoah ist ein Thema für sich und ich maße es mir nicht an, darüber zu schreiben. Außerdem, wenn man dieses Thema anfasst, dann gibt es auch nur dieses Thema, es ist wie ein schwarzes Loch. Doch die jüdische Kultur beginnt Jahrtausende vor der Shoah und ist danach nicht stehengeblieben. Es ist eine uralte Kultur mit unzähligen Geschichten, Traditionen, einer alten Sprache. Eines der Themen meines Stücks ist die Post-Holocaust-Mentalität.

Was genau ist das?

Sie ist das, was die dritte/vierte Generation lebt. Das, was ich lebe. Sie haben eine Menge Fragen an die jüdische Kultur, die nichts mit dem Holocaust zu tun haben. Der Holocaust ist aus der Geschichte nicht auszublenden, aber ich bin gerade mal so weit weg davon, dass ich einen anderen Blickwinkel haben darf, als noch meine Eltern zum Beispiel. Ich will nicht nur wissen, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Ich will auch wissen, was weit davor lag, um zu verstehen, woher das Heute kommt.

Mameloschn heißt auf Jiddisch „Muttersprache“. Ist das die Sprache, in der die Figuren reden, aber nicht kommunizieren können?

Ich glaube, Muttersprache ist eine ewige Fremdsprache. Eine Fremdsprache der Liebe, sicher, aber trotzdem zu endlosen Missverständnissen verdammt. Kinder übersehen meistens, wie stark die Mütter sind, weil sie durch eine andere Wirklichkeit bestimmt sind, mit einer anderen Sprache und vermeintlich anderen Sehnsüchten. Mameloschn ist kein Stück über die Streitereien in einer jüdischen Familie. Es ist ein Stück über den Zusammenhalt von drei Frauen. Ich habe das Gefühl, die Welt wird von starken Frauen getragen, aber auf der Bühne sieht man nur schöne und schwache Frauen. Sobald sie den Mund aufmachen, gelten sie als hysterisch, und gerade Mutterfiguren werden meistens dumm dargestellt, die Frau und Tochter als Opfer und Sexobjekt. Eine Altlast des bürgerlichen Theaters.

Die Figuren reden in der Sprache des feinen Alltagslebens meist in Form einer Erörterung über ein Thema: schneller Schlagabtausch, witzige pointierte Dialoge und dann immer wieder Unterbrechung dieser Struktur mit abwechselnden reflektierenden Monologen. Ich habe den Eindruck, dass dabei die Bedeutung der Themen wichtiger bleibt als die der Handlung.

Wenn man so will, gibt es keine Handlung in Mameloschn. Es ist keine dramatische Geschichte im Sinne eines Spannungsbogens und der dazugehörenden Katharsis. Mameloschn ist ein Kreisel an Geschichten und Bildern. Von Großmutter zur Mutter zur Tochter, die vielleicht selber irgendwann Mutter sein wird, gehen dieselben Gespräche weiter, dieselben Wunden werden verhandelt, politische wie persönliche.

Die Präsenz des jüdischen Witzes ist in Ihrem Stück sehr stark. Ich denke, der jüdische Witz, der auch viel älter ist als die Shoah, ist mehr, als eine Verweigerungshaltung, sich als Opfer zu sehen.

Der jüdische Witz ist Empowerment. Er ist nicht nur eine Überlebensstrategie, er ist Selbstermächtigung – und Philosophie. Wenn man ihre Sprache erst mal verstanden hat, kann man in ihr Geschichten erzählen, kommunizieren und Debatten führen.

Sie sagen, dass das Stück eine Komödie ist. Ein repräsentativer Witz über das Überleben?

Ein Jude zieht in eine katholische Gegend. Jeden Freitag werden die Katholiken nervös, denn während sie ihren mageren Fisch essen, isst der Jude im Garten seine Rindersteaks. Also beschließen sie, ihn zu konvertieren. Schließlich, mit Bitten und Drohungen, schaffen sie es. Sie bringen ihn zu einem Priester, der besprenkelt ihn mit gesegnetem Wasser und spricht: „Geboren als Jude, aufgewachsen als Jude, jetzt ein Katholik“. Am nächsten Freitag zieht der Grillgeruch wieder durch die Nachbarschaft. Die Katholiken rennen alle zum Haus des Juden, um ihn an seine neue Diät zu erinnern. Der Jude steht am Grill, besprenkelt das Fleisch mit Wasser und sagt vor sich hin: „Geboren als Kuh, aufgewachsen als Kuh, jetzt ein Fisch“.

Inwieweit ist Lin Jaldati, die große jüdische Sängerin der DDR, eine Inspiration für Ihre Lin gewesen?

Für mich begann das Entdecken der politischen jüdischen Kunst, dessen Teil Lin Jaldati war, beim Jiddish Summer Weimar – einem „jüdischen Woodstock in Weimar,“ wie die Leute da scherzen. Da sah ich eine breite Vielfalt an Interpretationen der jüdischen Kultur und es wurde mir das erste Mal bewusst, dass die jüdische Kultur, die ich kenne, nur eine von vielen ist. Da hörte ich auch das erste Mal von Jaldati – Holocaustüberlebende, Kommunistin, freiwillig in die DDR gegangen. Ich habe angefangen Fragen zu stellen: Juden in der DDR? Und dann fand ich Berge von Materialien, die ich in meiner Figur der Lin verarbeite. Sie ist ein Sammelsurium an Geschichten, die hierzulande tabuisiert werden. In einem antifaschistischen Staat wurden Hitlerlieder gesungen, Gräber beschmiert und Juden entlassen.

Clara sagt von sich, dass sie Deutsche ist. Warum?

Erst einmal schämt sich Clara dessen, dass sie als Jüdin in der DDR bevorzugt wurde. Darunter liegt der Kampf gegen die dominante Mutter, die für ihre Karriere als „Vorzeigegesicht der jüdischen Kultur“ sie, Clara, vernachlässigt hat. Und dann gibt es noch den realen Antisemitismus mit Schmierereien wie „Judensau verschwinde“ an der Hausfassade. Bei Clara gibt es einen starken Wunsch nach Sicherheit durch Assimilation. Die Sache mit dem Judentum ist, dass es, je nach Land, als Nationalität/Religion/kulturelle Zugehörigkeit von der Öffentlichkeit unterschiedlich gehandhabt wird. Hinzu kommen persönliche Erfahrungen, die dafür entscheidend sind, als wen man sich wem wie präsentiert.

Wie erleben Sie den Widerspruch im jetzigen Deutschland, einerseits mit Antisemitismus und Xenophobie konfrontiert zu sein und andererseits als Jüdin einen Sonderstatus zu haben?

Was mir mehr Sorgen macht als der wiederaufflammende Antisemitismus in Deutschland ist, dass Unterschiede gemacht werden zwischen Juden und Moslems, bei denen die Juden herhalten müssen für vermeintliche Beweise dafür, dass der Islam angeblich nicht zu Europa, zur Demokratie usw. gehöre. Das alles erinnert mich stark an die Vorgänge in der DDR, die ich in meinem Stück beschreibe Man will die eigene Weltoffenheit durch „Judophilie“ belegen. Nicht nur, dass Juden in Deutschland einen besondern Exotenstatus haben, sie sind auch noch unter einen scheinheiligen Denkmalschutz gestellt, anstatt eine Gleichberechtigung möglich zu machen. Man versucht, das aufgeklärte Bild von Deutschland an der Aufarbeitung der Geschichte zu beweisen, aber wenn man genau hinguckt, hat die Entnazifizierung nie tiefgreifend stattgefunden. Die antisemitischen Klischees stecken in institutionellen Strukturen und in den Köpfen. Allein das Wort „Jude“ kann in der deutschen Sprache nicht ohne extreme Vorsicht gebraucht werden, während mit Begriffen wie Moslems, Türken, Araber um sich gehauen wird, als gäbe es da keine Geschichte, die man aufzuarbeiten hätte.

Lass mich das an einem Beispiel klarmachen: In der ersten Szene sagt Rahel, dass Claras Freund wohl kein „echter Mann“ sei, woraufhin die Großmutter Lin die Achseln zuckt und sagt „Na ja, er ist Deutscher.“ Und Rahel macht die „Na siehst du“ Geste. Im Publikum gibt es dann immer einen großen Lacher. Ich glaube, dass wenn es sich hierbei um sagen wir mal eine türkische Familie handeln würde, niemand im Publikum lachen würde. Es werden Unterschiede gemacht zwischen „den guten Anderen“ und den „bösen Anderen“. Das Konstrukt des „Anderen“ ist das Problem.

Wie ist Ihr Verhältnis zum Thema „Israel als Heimat der Juden“?

Ich fühle mich nicht autorisiert über dieses Thema zu sprechen. Es ist nicht mein Land. Es ist ein Land der Israelis. Ich lebe in Deutschland mit einem deutschen Pass. Oder mit Lins Worten zu sagen: „Ich wollte nicht gegen ein Land aussagen, mit dem ich nichts, rein gar nichts zu tun habe.“

Wie nehmen Sie in Deutschland die iranische Gemeinschaft, falls sie überhaupt existiert, wahr?

In meiner minimalen Erfahrung habe ich den Eindruck, dass alles menschenmögliche getan wird, um das Bild der Feindschaft zwischen Israel und Iran wieder gerade zu biegen. Die Politik und die Medien behaupten das eine, Menschen leben das andere.

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