Theater der Zeit

II. Besonderheiten einer simplen Weitung

Zur Lesbarkeit des offenen Mundes

von Lorenz Aggermann

Erschienen in: Recherchen 102: Der offene Mund – Über ein zentrales Phänomen des Pathischen (03/2013)

Assoziationen: Schauspiel

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Mit dem Gähnen beginnt es. Gehen wir also in einer ersten Überlegung davon aus, daß der offene Mund für das Gähnen steht. Dieses Wort ist auf das altenglische ‚ginan‘ zurückzuführen, was ‚sich spalten, auftun‘ bedeutet. Verwandt ist die germanische Wurzel ‚g’he‘ auch mit dem altgriechischen ‚chas-‘ und über diese Linie auch mit Chaos – jener Kluft, aus der sich die ersten Dinge herausschälen.1 Diese Wortgeschichte ist den wenigsten bewußt, wenn sie mit einem gähnenden Mund konfrontiert sind – gemeinhin gilt dieser als Zeichen von Müdigkeit und Langeweile, von Fadesse. Diese, vermutlich falsche, Interpretation wird jedoch nur selten thematisiert, denn wenn sich nichts tut, gibt es auch nichts darüber zu sagen, geschweige denn darüber zu schreiben, und so ist über das Gähnen recht wenig in Erfahrung zu bringen. „Ein Phänomen, das in der gesamten Literatur bisher sehr stiefmütterlich behandelt worden ist“, schreibt im Jahre 1921 Ernst Lewy, ein ehemaliger Assistent der Nervenabteilung des Friedrich Wilhelm Hospitals in Berlin, „ist das Gähnen. Es sind darüber nur zufällige spärliche Angaben zu finden. Eine Zusammenfassung dessen, was bisher darüber bekannt war und dessen, was man aus den wenigen bekannten Daten nach heutigen Anschauungen erschließen kann, scheint bei der Dunkelheit, die gerade dieses kleine Problem umgibt, von einigem Interesse zu sein.“2 Diesen Zeilen ist auch heute noch wenig mehr hinzuzufügen, die Materiallage hat sich kaum verbessert, und so verwundert es nicht, daß sich der ausführlichste Artikel zum Gähnen ausgerechnet im Lexikon des Unwissens findet.3

Diese Ahnungslosigkeit gilt indes nicht nur für das Gähnen. Auch die anderen Figurationen des offenen Mundes versperren sich einer eindeutigen Interpretation und leisten ihrer Theoretisierung nachhaltig Widerstand. Die Regungen, die dazu führen, daß der Mensch seinen Mund weitet, sind nur in Ausnahmefällen dem menschlichen Willen untertan, entsprechend widersprüchlich werden diese Akte interpretiert. Nur ihr ephemerer Charakter scheint sie zu einen. Unter ihnen ist das Gähnen noch eine der harmloseren Figurationen, aber schon über diese primäre Weitung läßt sich mit Gewißheit einzig und alleine feststellen, daß sie nicht zu unterbrechen und ansteckend ist,4 nicht aber, in welcher Form diese Weitung fortwirkt oder was sie für den Gähnenden bezweckt. Das Lachen ist nicht minder ambivalent: Es wird aus medizinischer Sicht sowohl physiologisch als auch kognitiv als Entlastungsfunktion verstanden; anthropologisch wird ihm hingegen mitunter das Beißen und Töten der Beute eingeschrieben.5 Seine Interpretation schwankt folglich zwischen Ent- und Anspannung, weshalb fallweise gar die Sinnlosigkeit dieses Aktes als einziges und maßgebliches Charakteristikum angeführt wird.6 Aber auch das Hauchen und Heulen so wie andere gutturale Laute, die dem offenen Mund entströmen, lassen keine unmißverständliche Dekodierung zu, und dies gilt auch für jene Figurationen, wie Staunen und Schrecken, welche im Falle des Menschen primär visuell in einer Fratze zum Vorschein kommen: Wird hier Lust oder Aggression artikuliert, handelt es sich um Zuspruch oder Abwehr? Treten hierbei ungewollte Nebeneffekte des menschlichen Körpers oder bewußte Äußerungen eines cogito zu Tage? Gänzlich rätselhaft bleibt indes der Gesang, welcher die Stimme in melodische, harmonische und rhythmische Ordnungen überführt, hierfür die sinnstiftenden Bestandteile der einzelnen Worte nach Lust und Laune beugt und stupende wiederholt, bis sich die Sprache und mit ihr jegliche Bedeutung aufgelöst hat: Joho Trallala, la la la, la la la, la lallala la.7 Liegt sein Zweck tatsächlich im ‚reinen‘ Genuß,8 sollen durch ihn im Gegenteil Lust und Begehren zum Schweigen gebracht werden,9 oder stellt der Gesang eine Form des Gedächtnisses dar, wie die Tradition der Aoiden, der Vorgänger der antiken Rhapsoden nahelegt?10

Dem offenen Mund ist nicht ohne weiteres beizukommen, er setzt und entsetzt zugleich. Was ist folglich der offene Mund? Ist er ein Instrument, das nur über seine Wirkung erfaßt werden kann? Oder ist er ein Apparat, dessen Wesen erst durch seine Benutzung deutlich wird? Der Befund, daß es sich bei ihm um eine ‚Leerstelle‘ handelt, deren Signifikanz zwar deutlich, deren Bedeutung aber ebenso verschwommen ist, gilt nicht nur, wie einleitend aufgezeigt, für Texte – und somit auf struktureller Ebene – sondern offensichtlich auch in der alltäglichen Begegnung mit ihm. Mit einer phänomenologischen Bestandsaufnahme soll nun der erste Schritt zur Konturierung und Theoretisierung dieser Leerstelle unternommen werden.

In der Tat hat auch der offene Mund Aussagekraft: „Der Mund erfüllt seine Funktion nicht wie die anderen Organe am besten in der Unauffälligkeit, vielmehr ist er selbst Ausdruck.“11 So wie die Augen, die dem Betrachter verraten, in welche Richtung sie blicken und worauf folglich Wahrnehmung und Aufmerksamkeit des dahinter liegenden Subjekts zielen, erzählt auch diese Leerstelle im Antlitz einiges über ihren Träger. Denn im Gegensatz zu den flüchtigen mimischen Bewegungen der restlichen Gesichtsmuskulatur ist die Mundpartie als visuelle Komponente durchaus signifikant. Ihr läßt sich entnehmen, daß ein Akt der Artikulation, vielleicht sogar eine Kommunikation stattfindet, selbst wenn dieser nicht hörbar ist. Zugleich zeigt sie generell die pathische Dimension des Menschen an, worunter jedoch nicht nur die spezifische und subjektive emotionale Verfassung zu verstehen ist, sondern, noch grundlegender, sein affektives Relief.12 Appell- und Ausdrucksfunktion lassen sich also nicht voneinander scheiden, sondern gehen ineinander über. Neben der Haut und der Stimme gilt vor allem das Gesicht als jene Stelle des menschlichen Körpers, an der die pathische Verfassung besonders evident wird.13 Dies hat dazu geführt, daß die Psychologie und ihre Vorgänger seit jeher rund um Augen, Wangen und Mund ein Alphabet der Mienen und Ausdrücke zu konstruieren versuchten und das Gesicht zum Ort der Visualisierung des Affektiven erklärten. Ein derartiger Ansatz ist jedoch nur unter der Voraussetzung möglich, „daß es zwischen Affekt und Ausdruck eine Zeichenbeziehung gibt – eine Beziehung, die Zuordnungen am Körper des Menschen ermöglicht, die Regeln gehorcht und sinnvoll gedeutet werden kann.“14

Nun kann der offene Mund tatsächlich als ein markantes visuelles Signet gelten, in welchem die affektive Disposition des Menschen paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Exakte Bestimmung und Deutung seiner verschiedenen Ausdrücke scheitern allerdings, wie eingangs am Beispiel des Gähnens gezeigt wurde, und dies aus gutem Grund: Der offene Mund kann trotz seiner Ausdrucksfunktion keinen Zeichencharakter für sich in Anspruch nehmen, da es keine logisch ableitbare Verbindung zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden gibt, sondern nur eine affektive. Diese hat bestenfalls Verweischarakter und entbehrt jeder Eindeutigkeit, da auch das Affektive durch seine Ambivalenz gekennzeichnet ist. Die Bedeutung des offenen Mundes läßt sich, wie sich zeigen wird, bestenfalls aus dem Kontext und somit aus jenem Verlauf ableiten, in welchem das Pathische spielerisch erwidert und ausdifferenziert wird. In dieser Diskursivierung spielen jedoch wirkmächtige Dispositive und die Rückbindung an das sich artikulierende Subjekt eine maßgebliche Rolle. Jene Forscher, die sich im 18. und 19. Jahrhundert mit Körperzeichen und Körperausdruck beschäftigten, versuchten indes, den mimischen Ausdrücken und somit auch der Weitung des Mundes eine objektive, empirische Qualität zuzusprechen und diese nach einem bestimmten Raster zu definieren, anstatt Bewegung und Prozeß der Ausdifferenzierung und Diskursivierung zu analysieren. Der offene Mund mit all seinen unterschiedlichen Figurationen wurde derart mit Sinn behaftet und in weiterer Folge als entsprechend lesbar erklärt. Zum besseren Verständnis und zur Vermeidung der daraus resultierenden Fehler soll diese Form der Theoretisierung, die bereits von Petra Löffler ausführlich analysiert wurde, kurz nachgezeichnet werden:

Die an sich unspezifische und doch signalhafte Weitung des Mundes, seine soni- wie signifikante Eigenschaft als ‚Leerstelle‘, wird seit dem 18. Jahrhundert zunehmend von der Auffassung der ‚Lesbarkeit‘ der verschiedenen Gesichtsausdrücke überlagert. Neben Aussehen und Körperbau wird ab dieser Zeit auch alles, was der Mensch an mimischen und gestischen Äußerungen hervorbringt, primär zum Zeichen erklärt und einer deutenden Lektüre unterzogen.15 Die in jener Zeit erstarkende Anthropologie, der diese Veränderung zu großen Teilen zuzuschreiben ist, stützt sich hierbei wesentlich auf zwei Annahmen: auf die ‚Schreibbarkeit‘ und die ‚Lesbarkeit‘ des menschlichen Körpers sowie der durch ihn zum Ausdruck gelangenden Affekte.16 Diese Auffassung wird wesentlich von der Annahme geleitet, daß im Gegensatz zur wörtlichen Sprache, welche nur eine mittelbare Kommunikation auf Basis ideeller Abstraktion zuläßt, sich Gesten und Ausdrücke des Leibes direkt an den Adressaten richten und von diesem ebenso unmittelbar verstanden werden. Diese Sprache des Körpers gilt daher vielen Protagonisten der Aufklärung als ‚natürlich‘. Doch Schreibbarkeit und Lesbarkeit als Eigenschaft eines beweglichen, sich stets verändernden Leibes sind auf zwei wesentliche, einander komplementierende Operationen angewiesen, in deren Anwendung eine gewisse kreative Freiheit und in deren Ergebnis ein starker interpretatorischer Spielraum zum Tragen kommt: die Definition eines Zeichens und die Zuordnung respektive Decodierung von Signifikat und Referent. Was am Menschen ist ein Zeichen? Was bedeutet es?

Die Suche nach Zeichen orientiert sich primär an den visuellen Erscheinungen des Leibes, vornehmlich an der Verfärbung und Verformung der Haut und an der Veränderung des Muskeltonus. Diese können über den Fernsinn Sehen noch mit jenem Abstand wahrgenommen werden, der die Intimsphäre des Menschen respektiert und Sicherheit garantiert, auch und gerade dann, wenn kein kommunikativer Akt stattfindet. Die sensumotorische, die olfaktorische, aber auch die akustische Wahrnehmungsweise gerät gegenüber der visuellen ins Hintertreffen; Bild und Zeichen passen weit besser zueinander als Geschmack und Zeichen oder Geruch und Zeichen. Noch wesentlicher als die Bevorzugung des Optischen ist indes die Tatsache, daß hierbei aus dem lebendigen und sich verändernden Organismus ein bestimmter, momentaner Zustand extrahiert, richtiggehend herausgeschnitten und zur Norm erklärt wird, an dem sich jedwede weitere Theoriebildung orientiert. Hierin kopieren die Körperzeichentheorien des 18. und 19. Jahrhunderts die Methode der anatomischen Sektion, welche ebenfalls über verschiedene Verfahren der Isolierung und Stillstellung Erkenntnis über die Funktionen des Lebendigen zu gewinnen suchte.17 Besonders deutlich werden diese markanten Prämissen in den frühen anthropologischen Studien, wenn beispielsweise bei Johann Caspar Lavater die Zeichenhaftigkeit des menschlichen Ausdrucks in Scherenschnitten festgehalten wird, welche dessen Lesbarkeit selbst abseits des Körpers verbürgen und sich deshalb besonders gut für empirische Aussagen bezüglich der affektiven Disposition des Subjekts eignen.18 Durch die Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert erfährt die Auffassung von der ‚natürlichen‘ Lesbarkeit von Gestus und Mimik eine augenscheinliche Bestätigung. Dank ihr scheint der Ausdruck des Menschen tatsächlich und zweifelsfrei fixierbar, reproduzierbar und im Anschluß einer eindeutigen Bedeutung zuordenbar. Das Foto ist nun aber gerade jene Technik, in der die Stillstellung des Lebendigen am eindringlichsten zum Ausdruck kommt und welche die Exklusion des Akustischen sowie jedweder weiteren, nichtvisuellen Wahrnehmung, welche den festgehaltenen Moment ursprünglich ebenso konstituierte, am nachhaltigsten vollzieht.

Das Gesicht spielt im Rahmen dieser Ausdruckstheorien stets eine herausragende Rolle: „Es ist unfaßbar, was im Verlaufe einer einzigen Stunde über das Gesicht der Menschen geht. Wäre einem mehr Zeit gegeben, alle Regungen und Stimmungen, die über ein Gesicht gleiten, genauer zu betrachten, so würde man staunen über die unzähligen Verwandlungen, die sich da erkennen und sondern ließen.“19 Elias Canettis Bemerkung zielt geradewegs auf die spezifische, problematische Qualität des Gesichtes als Ersichtliches: Es setzt sich aus einer Vielfalt einzelner Bewegungen zusammen, weswegen eine Dechiffrierung aus einem einzigen Moment und einer einzigen Perspektive heraus unmöglich adäquat sein kann, sondern nur der Verlauf einigermaßen Aufschluß gibt. Die Ausdruckstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts werden dieser metamorphen Eigenschaft des Gesichtes indes nicht Herr, und so deuten sie das Gesicht ausschließlich als Träger von singulären Zeichen, als stillgestellte und extrahierte Facies.20 In unabdingbarer Konsequenz verwandelt sich das Gesicht so zur Grimasse, welche zum Vorschein kommt, wenn dem Gefühlsausdruck die Beweglichkeit mangelt, die Weitung und Bewegung des Mundes einfriert.21 Schon die Facies ist indes wenig eindeutig zu lesen, wie die deutlich differierenden Interpretationen derselben Regungen und Ausdrücke zeigen. Vielleicht geht also gerade aus den visuellen Figurationen des Gesichts und paradigmatisch aus dem offenen Mund hervor, daß diese keine dezidierte Bedeutung haben, sondern daß das darin nach Ausdruck Heischende notwendig die negativierende Seite der Hermeneutik verkörpert.

Nun ist es nicht so, daß diese Auffassung von der Les- und Schreibbarkeit des Menschen vollends verschwunden wäre, sie hat sich über die Psychoanalyse und den Strukturalismus ausdifferenziert. Heute gehen zahlreiche weitere Disziplinen davon aus, daß schlicht alles am Menschen als Zeichen und folglich über Sprache zu verstehen ist, daß sich der Mensch ausschließlich an Bedeutungssystemen und -strukturen orientiert und nur darüber kommuniziert – kurz: daß der Mensch ohne Sprache schlicht nicht zu denken ist. Diese Annahme, die sich als Theorem der ‚Omnisprachlichkeit‘ bezeichnen ließe, und die unweigerlich als eine Konsequenz aus der ‚Lesbarkeit der Welt‘ verstanden werden will,22 ist nicht leicht von der Hand zu weisen, erfährt sie doch im Alltag ihre permanente Bestätigung. Und doch tut ein kritischer Blick darauf Not, denn zugleich steht die skeptische Diagnose im Raum, daß gerade die Schreib- und Lesbarkeit des menschlichen Körpers, die sich einzig auf seine Bild- und Zeichenhaftigkeit stützt, denselben zum Verschwinden gebracht hat: „Die Hochwertung der Bilder und Zeichen ist unabdingbar eine Verachtung der Dinge. Der triumphale Sieg über das, was ist, erweist sich als schlimmste Niederlage. Bildermachen ist zuletzt Körpertöten.“23 Die Abstraktion via Bild respektive Zeichen mündet also nicht zwangsläufig in Erkenntnis, sondern führt dem kritischen Befund Dietmar Kampers nach von der Mannigfaltigkeit zur Eindimensionalität, von der Fülle zur Leere und letztlich von der Präsenz zur Absenz. Gerade am Körper, der seine Plurimedialität und Heterogenität ablegen muß, um eindeutig zu werden, läßt sich dieser Prozeß nachvollziehen. Der Körper fordert aber, allen voran in seinen ‚Leerstellen‘, diese Heterogenität immer wieder ein.

Die Kritik gilt ebenso für die spezifische Ausdifferenzierung des zeichentheoretischen Dispositivs hin zum Theorem der ‚Omnisprachlichkeit‘. Aus der sprachanalytischen Philosophie läßt sich ein ebenso problematischer Befund bezüglich dieser Prämisse ableiten. Ludwig Wittgenstein hat sich in seinem Tractatus logico-philosophicus die Mühe gemacht, die Genese von Erkenntnis, welche ausschließlich auf Basis von Sprache möglich ist, bis in die letzte Konsequenz durchzuspielen. Die einzige Methode, die der Philosophie und wohl auch jeder anderen, sich dieser Disziplin bedienenden Wissenschaft unter der Omnipräsenz von Sprache bliebe, wäre folglich: „Nichts zu sagen als was sich sagen läßt also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und immer dann, wenn ein anderer etwas metaphysisches [sic!] sagen wollte, ihm nachweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige.“24 Für die eingangs propagierten ‚Leerstellen‘ und die spezifische Wahrnehmung des offenen Mundes ergibt sich hieraus eine schwerwiegende Überlegung: Wenn tatsächlich alles am Menschen auf Zeichen reduziert, und in weiterer Folge in Sprache überführt werden kann, so müßten sich derartige ‚Leerstellen‘ problemlos in eine andere, weniger wörtliche und vermeintlich natürlichere, oder im Gegenteil, abstraktere Sprache übersetzen lassen; dann müßte das ursprüngliche pathos nicht spielerisch erwidert werden, sondern könnte schlicht und einfach in Bewegung, Ausdruck und Geräusch oder anderen Verhaltensweisen festgehalten, oder aber klar benannt und kommuniziert werden. Derartige ‚Leerstellen‘ würden sich folglich, da prinzipiell definiert und bedeutend, von selbst erklären, oder aber, sofern dies nicht der Fall sein sollte, als metaphysisch entlarven. Damit wäre auch die vorliegende Arbeit rasch zu ihrem Ende gekommen, das Markante und Bedenkenswerte des offenen Mundes hätte sich als schiere Metaphysik entlarvt. Zu fragen ist allerdings, ob die Signifikanz des offenen Mundes tatsächlich als Zeichen zu lesen ist, und wenn ja, was dieses Zeichen bedeutet?

Der ‚Omnisprachlichkeit‘ gilt es zu entgegnen. Maurice Merleau-Ponty, der nach Husserl wohl einflußreichste Vertreter der Phänomenologie, wendet sich in nahezu all seinen Schriften gegen die tödliche Beschreibung. Aus seiner Sicht „muß man den wirkenden und gegenwärtigen Körper wieder finden, ihn, der nicht ein Stück Raum, ein Bündel von Funktionen ist, sondern ein Wahrnehmung und Bewegung Verbindendes.“25

Les Ritas Mitsouko, Petit Train, 1988

Der Mund ist, selbst als ‚Leerstelle‘, kein starres, abstraktes Zeichen, sondern ein Vorgang, ein Verlauf: Die Überblendung des Gesichts der Sängerin Catherine Ringer während des Singens führt beispielhaft die permanente Formveränderung des Gesichts vor Augen. Vor allem der Mund entzieht sich hierbei nachhaltig seiner Stillstellung im und als Zeichen. Konträr dazu erweist er sich als ein äußerst chaotisches, polymorphes und polymediales Element. Durch Video beziehungsweise digitale Aufzeichungstechniken läßt sich diese permanente Veränderung nicht nur im Bild feststellen, sondern zugleich als Bewegung wiedergeben. Dies erlaubt, dem facialen Ausdruck in größerer Komplexität nachzugehen und den Mund respektive seine Regungen per Video zu erkunden.

Vito Acconcis open book aus dem Jahre 1974 und Bruce Naumans lip sync von 1969, zwei Arbeiten, welche diese technischen Errungenschaften paradigmatisch aufgreifen und die Bewegungen des Mundes als Video inszenieren, bleiben jedoch bewußt dem Spielerischen verhaftet. Sie liefern keine Deutung, sondern bleiben artifizielles Spiel. Denn auch diese neuen Techniken ermöglichen nur geringen Aufschluß, lassen keine hermeneutische Analyse des offenen Mundes zu. In der Bewegung zeitigt die ‚Leerstelle‘ ihre wahre, permeable, nicht dingfest zu machende Gestalt. Der Mund ist grenzenlos, mehrdimensional und präsentiert sich stets in anderer Form. Dem Körper und seiner Heterogenität verhaftet, ermöglicht er dem Subjekt, sich gleichsam zu externalisieren – wovon paradigmatisch die menschliche Stimme kündet – als auch die Außenwelt zu vereinnahmen – wie im ganz basalen Atemholen. Doch auch der Begriff „Doppelwendigkeit“ zur Charakterisierung dieses Funktionsbündels und seiner Verschränkung von Innen und Außen greift zu kurz: als Loch ist der Mund nicht nur kein Zeichen, sondern auch keine Form, kein Objekt im strengen Sinne des Wortes. In seiner Gestalt tritt er einzig und alleine durch seine Ränder, die Lippen, als auch durch Zähne und Kiefer, sowie inwendig durch Gaumen und Zunge hervor. Der Mund ist physiognomisch nicht exakt zu definieren, er ist jene Kluft, die sich rund um das „Gehege der Zähne“ auftut. Ein Hohlraum, ein Void, ein Nicht-Objekt. Seine wahre Gestalt findet er ausschließlich in der Bewegung, im Spiel seiner unterschiedlichen Bestandteile und der aus ihm hervortönenden Laute. Aus dem Spiel resultiert umgekehrt seine Realität. Diese eigenwillige Charakteristik macht sich auch Catherine Ringer zu nutze, wenn sie ihr Gesicht nicht nur auf visueller Ebene, sondern auch auf akustischer Ebene immer wieder in Großaufnahmen und in fratzenartiger Verzerrung präsentiert, oder den Mund fallweise ausblendet, verschwinden läßt. Mit ihren akustischen und visuellen Weitungen spielt sie mit der Wahrnehmung der Betrachtenden, und vereinnahmt diese zu guter Letzt.

Der offene Mund weist auf all jene Eigenheiten des Menschen hin, die nur prozessual zu verstehen sind und sich gegen ihre Verbildlichung und Versprachlichung sperren, die ihrer Lesbarkeit regen Widerstand entgegenbringen. Er birgt grundlegende Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten, die sich weder auf Zeichen oder Bilder, noch Sprache reduzieren lassen und der subjektiven Erfahrung demgegenüber noch andere Episteme erschließen. Seine Höhle teilen sich nicht nur Lippen, Zähne, Zunge, Gaumen und Rachen, rund um sie beziehungsweise in ihr gruppieren sich der Geruchs- und Geschmackssinn. Strenggenommen gilt nur der Geschmackssinn als der einzige, ausschließlich dem Mund eigene Sinn. Dieser Überlegung folgend müßte eine Untersuchung des Oralen unweigerlich in einer Schrift über das Essen münden. Aber diese Exklusivität wird dem Mund nicht gerecht. Auch die Sensoren für Druck und Gleichgewicht, die maßgeblich für die Wahrnehmung und das Funktionieren des Organismus sind, müssen der Mundhöhle zugerechnet werden. Diese Sensoren ermöglichen dem menschlichen Subjekt in wesentlichem Maße, vermutlich stärker noch als Blick und Sprache, eine Selbstwahrnehmung. Sie sorgen für den aufrechten Gang, und damit für seinen erhabenen Blick auf die Welt, weiten seine unmittelbare Umgebung zu einem mehr-dimensionalen Zeit-Raum und sind durch Kavernen und Gänge im Kopf unweigerlich mit der Mundhöhle verbunden. In dieser wird dank Atmung und Ernährung, Geruch und Geschmack, die Außenwelt auch ganz unmittelbar zur Innenwelt. „Dadurch wird eine Differenzierung des Organismus gegenüber seiner Umwelt ermöglicht. […] In der Unterscheidung zwischen angeeigneter Umwelt und aneignendem Organismus bilden sich früheste Beziehungs-formen von weltverschlingendem Subjekt und Welt aus.“26 Einzig und alleine die Augen sind von diesem Erfahrungsraum abgetrennt und gehen ihre eigenen Verbindungen mit der Umwelt wie dem Körper ein. Im Gegensatz zu Mund und Ohren bieten sie, selbst im geöffneten Zustand, keinen Weg in den Körper, sondern sorgen gleichsam für Distanz. Das hebt sie ab, macht sie einzigartig unter den Sinnen und maßgeblich für Erkenntnis. Aufgrund ihrer Dominanz wird jedoch häufig vergessen, „daß homo sapiens zunächst den bezeichnet, der sapor, Geschmack, hat, der ihn schätzt und sucht, dem der Geschmackssinn wichtig ist, das schmeckende Tier, und erst dann den, der durch Urteilskraft, Verstand oder Weisheit zum Menschen geworden ist, den sprechenden Menschen.“27

Der Mund ist nicht die einzige Schwelle des Körpers, welche Wahrnehmung ermöglicht, wohl aber die prominenteste: Mitten im Antlitz des Menschen, selten verschlossen und unübersehbar auf das Innerste verweisend, steht der Mund stellvertretend für all jene Formen der Rezeption, die sich der visuellen Dominanz verwehren beziehungsweise diese in eine mannigfaltige Form der Wahrnehmung überführen. Die Mundhöhle ist folglich auch jenes Organ, welches den Menschen als ästhetisches Wesen markiert, sofern man Aisthesis in seiner ursprünglichen Bedeutung begreift und nicht auf die Linsenfunktion des Auges oder die ‚Schönheit‘ der von ihm erfaßten Objekte beschränkt. Der Mund: das Weltorgan.28 Wird diese Definition von Bazon Brock ernstgenommen, dann müßten auch die anderen Sinne neu bewertet werden. Unter diesen Prämissen gebührte dem Mund der erste Rang in der Hierarchie von Sinnen und Erkenntnis.29

1 Duden – Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2006, S. 214; Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, München 1984 [1878], S. 1148f.

2 Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Folge 72, No.1/Dezember 1921, S. 11.

3 Kathrin Passig/Aleks Scholz: Lexikon des Unwissens. Worauf es bisher keine Antworten gibt, Berlin 2007, S. 64ff.

4 Vgl. Richard Provine: Yawning: the yawn is primal, unstoppable and contagious. Revealing the evolutionary and neural basis of empathy and unconscious behavior (in: American Scientist. Nr. 93, 6/2005, S. 532).

5 Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 262.

6 So bei Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie, Frankfurt/Main 1970, S. 76.

7 Carl Maria von Weber: Der Freischütz, Stuttgart 2007, S. 58.

8 In diesem „reinen“ Genießen des stimmlichen Klangs sehen die psychoanalytisch inspirierten Stimmtheorien (beispielsweise Guy Rosolato: La voix: entre corps et language (in: Revue française de psychoanalyse 37/1, 1974) und Michel Chion: La Voix au Cinéma, Paris 1982) gemeinhin das Phantasma eines regressiven Eintritts in die pränatale mütterliche Klanghülle, wobei dieser pränatale Klangbehälter unterschiedlich bewertet wird. Entweder birgt er einen ursprünglichen Genuß, oder aber er sorgt für Unbehagen. Die ausführliche Diskussion dieser Ansätze findet sich in: Kaja Silverman: The acoustic mirror. The female voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington 1988, S. 73ff.

9 Theodor Reik ging davon aus, daß die menschliche Stimme vom Unbewußten als Sexualorgan wahrgenommen wird und im Sprechen und Singen primär eine libidinöse Komponente zum Zug kommt. Diese Überlegung erweitert Lacan dahingehend, daß die Klangproduktion als derjenige Akt interpretiert wird, der diese libidinöse Komponente übertönt: „Die Lust am schönen Gesang wäre dementsprechend eine Klangkulisse, ein Klangschirm, errichtet aus Angst vor der Stimme des Anderen. Man singt, um dieser Stimme zu entgehen. […] Wenn wir singen, sprechen, Geräusche produzieren, schimpfen, Klavierspielen – so tun wir dies eigentlich, um damit etwas zum Schweigen zu bringen, das uns unerträglich wäre: die Stimme als Triebobjekt.“ Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 419f.

10 So wurden in vorhomerischer Zeit die Sänger und Dichter bezeichnet, die mit ihren improvisierten Gesängen über Mythen und historische Ereignisse konstitutiv für das öffentliche Gedächtnis waren und deren Bedeutung sich erst mit dem Aufkommen der Schriftkultur verlor. Vgl. Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike (hg. v. Hubert Cancik und Helmut Schneider), Bd. 1, Stuttgart 1996, S. 820f.

11 Akashe-Böhme: Von der Auffälligkeit des Leibes, S. 26.

12 Nach André Green ist das Affektive eine maßgebliche Modalität des Unbewußten. Vgl. André Green: Geheime Verrücktheit. Grenzfälle der psychoanalytischen Praxis, Gießen 2000 [1990], S. 129.

13 Haut, Gesicht und Stimme gelten in der zeitgenössischen Affekttheorie als maßgeblich, so beispielsweise für Silvan S. Tomkins: „The face appears to me still the central site of affect response and their feedback, but I have come now to regard the skin, in general, and the skin of the face, in particular, as of the greatest importance in producing the feel of affect.“ Zitiert nach: E. Virginia Demos (Ed.): Exploring affect. The selected writings of Silvan S. Tomkins, Cambridge 1995, S. 89.

14 Petra Löffler: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld 2004, S. 19f.

15 Vgl. hierfür vor allem Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992.

16 Vgl. Löffler: Affektbilder, S. 23.

17 Vgl. Anna Bergmann: Massensterben und Todesangst im 17. Jahrhundert. Zur rituellen Leichenzergliederung im Anatomischen Theater (in: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart 2001, S. 316–336).

18 Vgl. Löffler: Affektbilder, S. 25f.

19 Vgl. Canetti: Masse und Macht, S. 443.

20 Vgl. Löffler: Affektbilder, S. 29.

21 Vgl. Gunnar Schmidt: Standbilder. Zur medialen Erzeugung der Grimasse (in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.): Ikonologie des Performativen, München 2005, S. 84f).

22 „Von der Welt Erfahrung zu machen, wie man sie in einem Buch oder einem Brief verdanken kann, setzt nicht nur Alphabetismus, nicht nur die Vorprägung der Wünsche auf Sinnzugang durch Schrift und Buch voraus, sondern auch die kulturelle Idee des Buches selbst, insofern es nicht mehr bloßes Instrument des Zugangs zu anderen ist.“ Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 1986, S. 10f. Die ‚Omnisprachlichkeit‘ setzt ebenfalls die Idee eines Skripts voraus, nach welchem sich der Mensch respektive seine Physis und Psyche eines Tages restlos entziffern lassen wird. Von dieser Hoffnung werden, Blumenbergs Einwände nicht zur Kenntnis nehmend, auch heute noch zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen getragen.

23 Dietmar Kamper: Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München 1999, S. 23.

24 Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung (hg. v. B. McGuiness u. J. Schulte), Frankfurt/Main 1989, S. 253.

25 Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays (hg. v. Hans Werner Arndt), Hamburg 1984, S. 14.

26 Bazon Brock: Der Mund ist ein Weltorgan (in: Esther Fischer-Homberger/Marie-Luise Könneker (Hg.): Götterspeisen, Teufelsküchen. Texte und Bilder vom Essen und Verdauen, vom Fressen und Fasten, Schlecken und Schlemmen, von Fett und Fleisch, Brot und Tod, Frankfurt/Main 1990, S. 14).

27 Serres: Die fünf Sinne, S. 207.

28 Vgl. Brock: Der Mund ist ein Weltorgan, S. 14.

29 Bereits in Timaios von Platon wird eine Klassifikation der Wahrnehmungsweisen vorgenommen, die sich bis in die (Post)Moderne des 20. Jahrhunderts hält: Am wichtigsten ist stets die Visualität, gefolgt von der Haptik/Taktilität, und erst hernach wird die Audibilität gelistet. Dem Hören folgen zuletzt Riechen und Schmecken (vgl. Göttert 1998, S. 21.); Gleichgewichtssinn und Bewegungssinn werden bei Platon nicht erwähnt. Die philosophische Theorie beginnt, anders als die künstlerische Praxis, diese Hierarchisierung erst am Ende des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen.

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