Zur Lesbarkeit des offenen Mundes
von Lorenz Aggermann
Erschienen in: Recherchen 102: Der offene Mund – Über ein zentrales Phänomen des Pathischen (03/2013)
Assoziationen: Schauspiel
Mit dem Gähnen beginnt es. Gehen wir also in einer ersten Überlegung davon aus, daß der offene Mund für das Gähnen steht. Dieses Wort ist auf das altenglische ‚ginan‘ zurückzuführen, was ‚sich spalten, auftun‘ bedeutet. Verwandt ist die germanische Wurzel ‚g’he‘ auch mit dem altgriechischen ‚chas-‘ und über diese Linie auch mit Chaos – jener Kluft, aus der sich die ersten Dinge herausschälen.1 Diese Wortgeschichte ist den wenigsten bewußt, wenn sie mit einem gähnenden Mund konfrontiert sind – gemeinhin gilt dieser als Zeichen von Müdigkeit und Langeweile, von Fadesse. Diese, vermutlich falsche, Interpretation wird jedoch nur selten thematisiert, denn wenn sich nichts tut, gibt es auch nichts darüber zu sagen, geschweige denn darüber zu schreiben, und so ist über das Gähnen recht wenig in Erfahrung zu bringen. „Ein Phänomen, das in der gesamten Literatur bisher sehr stiefmütterlich behandelt worden ist“, schreibt im Jahre 1921 Ernst Lewy, ein ehemaliger Assistent der Nervenabteilung des Friedrich Wilhelm Hospitals in Berlin, „ist das Gähnen. Es sind darüber nur zufällige spärliche Angaben zu finden. Eine Zusammenfassung dessen, was bisher darüber bekannt war und dessen, was man aus den wenigen bekannten Daten nach heutigen Anschauungen erschließen kann, scheint bei der Dunkelheit, die gerade dieses kleine...