Theater der Zeit

Auftritt

Kassel: Das Leben muss weiter-, weiter-, weitergehen

Staatstheater Kassel: „Die Kunst der Selbstabschaffung“ (UA) von Rebekka Kricheldorf. Regie Schirin Khodadadian, Ausstattung Ulrike Obermüller

von Joachim F. Tornau

Erschienen in: Theater der Zeit: Jürgen Holtz – Schauspieler und Scharfdenker (04/2015)

Assoziationen: Staatstheater Kassel

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Schon wahr, irgendwie. „Du glaubst doch nicht, dass die jetzt Momente erhebender Intensität hätten, angefüllt mit Erkenntnis und Ekstase“, lästert Ines und meint – die Zuschauer. „Schau sie dir an. Das hier ist doch das Beste, was die aus ihrem Abend machen können.“ Sonst würden sie doch eh nur tun, was sie immer tun. Essen, shoppen, fernsehen, über die Arbeit klagen. Dann doch lieber Theater.

Ines ist die Freundin von Richard, den sie einen „Sinnhaftigkeits-Blockwart“ nennt. Im Angesicht seines nahenden Endes will der einstige Underground-Filmer, dass nur noch „Großes“ passiert, keine Zeit mehr vergeudet wird. Nicht seine, nicht die des Publikums. Doch das ist ein hoffnungsloser Kampf. Das Leben funktioniert so nicht.

„Die Kunst der Selbstabschaffung“ hat Rebekka Kricheldorf ihr jüngstes Opus getauft. Es ist bereits ihre fünfte Auftragsarbeit für das Staatstheater Kassel. Und es geht um nicht weniger als: das Leben. Um das erbarmungslose Weiterticken der Uhr, langsam in der Jugend, rasend schnell im Alter. Um den Tod und was bis dahin geschieht. Oder eher: was leider nicht geschieht. Denn letztlich läuft das Leben mit tödlicher Präzision genau darauf hinaus: sich abzuschaffen. Oder abgeschafft zu werden. Die Kunst ist, trotzdem zu leben.

Richard (gespielt von dem unglaublich präsenten Jürgen Wink, grantelnd und charmierend, alt und jungenhaft zugleich) will seine letzten Tage und die seiner Freundin Ines (bärbeißig: Eva-Maria Keller) um jeden Preis mit Sinn und Bedeutung füllen. Doch die Dreigenerationenkommune, die er dafür gegründet hat, tut ihm den Gefallen nicht.

Für die Jüngsten, das Medium Fleur (Sabrina Ceesay) und den Leichendarsteller Marcel (Simon Mantei), ist der Tod bloß Spaß oder Job. Und die mittlere Generation besteht aus Midlife-Krisigen, die krampfhaft versuchen, eine Geschichte über sich und ihr Leben zu erzählen, mit der sie, nun ja, leben können. Wie der blasiert-schmerbäuchige Schriftsteller Valentin (Franz Josef Strohmeier), der sich in gestanzten Sätzen zur Figur seiner Romane überhöht. Wie Julian (Aljoscha Langel), der zur Selbst(er)findung nach Venezuela verschwand. Und wie Vanessa (Anke Stedingk), die Sinn mit Sex kurzschließt. Da bewirft Richard lieber die Zuschauer mit Büchern toter Autoren, die sie dringend lesen sollten. Und irgendjemand dreht immer die Uhr vor.

Kricheldorfs moderne Interpretation des Memento mori – bedenke, dass du sterblich bist – ist so komisch wie klug. Zum Spektakel aber gerät die gut zweistündige Uraufführung erst durch die Inszenierung von Schirin Khodadadian. Wo das Stück zu sehr in den eigenen Wortwitz verliebt ist, in Pointen um ihrer selbst willen, kontert das die Regie mit Rasanz. Stillstand gibt es nicht, das Leben muss weiter-, weiter-, weitergehen. Dazu erklingt die Musik der 80er und 90er: Nirvana, Tears for Fears, Midnight Oil. Der Selbstentlarvungssoundtrack für alle, die so tun wollen, als seien sie noch jung.

Ulrike Obermüller hat dafür auf der Studiobühne eine Mischung aus barocker Wunderkammer und surrealem Gemälde angelegt: Stühle und Sofas baumeln frei schwebend von der Decke, Totenköpfe liegen herum, ein plastiniertes Pferd, Engelsflügel, Discokugeln, während im Hintergrund vor dem riesigen Totenschädel eines Vanitas-Bildes ein barocker Bühnenausgang als „Exit“ fungiert. Gerne genutzt für Abgänge ins Nichts.

Es ist eine sonderbare Welt, in der es auch rein technisch nicht einfach ist, einen Platz für sich zu finden. Khodadadian kostet das aus, unterbricht Kricheldorfs Dialogpingpong immer wieder für wortloses Ringen um die richtige Pose, gibt ihrem durchgängig gut besetzten Ensemble Raum zur Entfaltung, auch wenn nicht gesprochen wird.

So etwas wie eine Handlung im engeren Sinne lässt sich der „Endlichkeits-Clowneske“ – so der Untertitel des Siebenpersonenstücks – nicht wirklich unterstellen. Entsprechend fällt auch die irgendwann selbst gelieferte Zusammenfassung wenig freundlich aus. „Ich glaube“, sagt Marcel, der gerade buchstäblich (und vergeblich) den roten Faden gesucht hat, „dieses Stück ist, genau wie das Leben, löchrig und sinnlos. Man trifft Leute, es passiert nicht viel, ab und zu entsteht ein unverhofft guter Moment, der schnell verfliegt, und plötzlich ist es, bumms, aus.“ – „Ist ja enttäuschend“, kommentiert trocken seine Freundin Fleur. Und hat recht. Einerseits. Andererseits: C’est la vie. //

 

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