Eine riesige Holzpistole
Theorie und Praxis in Gießen
von Heiner Goebbels
Erschienen in: Recherchen 96: Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater (08/2012)
Eine riesige Holzpistole schießt eine Darstellerin auf die Bühne.1
Ein Dirigent und eine Tänzerin dirigieren synchron eine unhörbare Musik.2
Eine Wäschemangel frißt ein endlos langes Bodentuch.3
Ein organisch wurmartiges Gebilde windet sich auf dem Boden des Büchnersaals und fängt alsbald chorisch zu singen an.4
In einer Zimmerecke geht immer wieder eine Tür auf; manchmal tatsächlich, manchmal nur als Projektion eines Videos, bei dem in einer Zimmerecke immer wieder eine Tür aufgeht.5
36 Leuchtstoffröhren flackern zögerlich zu Akkorden auf, die eine junge Frau auf einem Keyboard spielt, das notdürftig als Flügel verkleidet ist.6
Während eine selbstgebaute Wellenmaschine hin- und herschwingt, donnert es aus der hölzernen Kiste im Bühnenhimmel und regnet es Reis.7
Drei Boxen auf der Bühne sprechen mit dem erstaunten Publikum.8 Dort, wo eben noch eine junge Frau vom plötzlichen Verschwinden ihres zur Stalinzeit in einer russischen Spiegelfabrik arbeitenden Großvaters erzählt hat, steht jetzt plötzlich ein großer, schwarzer Kubus, aus dessen schmalem Schlitz es weiß und gleißend strahlt.9 Ein Schlagzeuger führt in einer Unterführung ein Solostück von Xenakis auf. Die Zuschauer stehen auf der anderen Straßenseite. Die Komposition wird von den durchfahrenden Autos interpunktiert.10
Auf einer in regelmäßige Felder unterteilten...