Auftritt
Theater für Niedersachsen Hildesheim: Der Drache sind wir
„Der Drache“ von Jewgeni Schwarz – Inszenierung Kathrin Mayr, Bühne Anna Siegrot, Kostüme Amelie Müller
von Lina Wölfel
Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken Jewgeni Schwarz Kathrin Mayr TfN • Theater für Niedersachsen

Tausend Kühe, zweitausend Schafe, fünftausend Hühner und zwei Zentner Salz frisst er im Monat. Drei Köpfe hat er. Der eine furchteinflößender als der andere. Und Krallen – messerscharf. Einmal, da hat er den gesamten See mit seinem Feuer zum Kochen gebracht und so das Dorf vor der drohenden Cholera gerettet. Diese letzte gute Tat ist zwar 82 Jahre her, dennoch ist man ihm zum Dank verpflichtet. Was man sich als schreckliche Kreatur ausmalen mag, entpuppt sich schon kurz darauf als Glitzer-funkel-grün-befrackter Mann mit gräulichem Bart. Der Drache, das Ungeheuer kommt in zivil, bloß keine Umstände. Man mag darüber lachen. Und doch wird schon in dieser Szene klar, was sich durch die gesamte Inszenierung von „Der Drache“ am Theater für Niedersachsen durchzieht: Narrative bestimmen Wahrnehmungen. Wahrnehmungen bestimmen Handlungen. Und alle drei können aus einem Mythos Realität werden lassen.
Jewgeni Schwarz politisches Märchen „Der Drache“ behandelt gleichnishaft das Zusammenspiel von Tyrannei und knechtseligem Untertanengeist. Als zeitkritischer Text greift er nicht nur den deutschen Nationalsozialismus inklusive der deutschen Bevölkerung an, sondern stellt auch dar, inwiefern aufeinanderfolgende, unterdrückende politische Systeme einander begünstigen und bedingen. Seit vierhundert Jahren herrscht ein Drache über die Stadt. Als Preis dafür, dass er die Bevölkerung verschont und vor etwaigen Gefahren schützt, fordert er einmal im Jahr eine Jungfrau als Opfer. Als Nächste soll Elsa (Nina Carolin), die Tochter des Archivars Charlemagne (Haytham Hmeidan), dem Drachen geopfert werden. Doch kurz vor ihrer Opferung taucht der Drachentöter Lanzelot (Lukas Hanus) in der Stadt auf, wild entschlossen, die Bevölkerung von ihrem Herrscher zu befreien. Das Problem: die Bewohner:innen wollen nicht befreit werden. Sie haben es sich gemütlich gemacht. Lanzelot tötet den Drachen trotzdem, verschwindet danach jedoch, sodass der korrupte Bürgermeister (Simone Mende) und sein hinterlistiger Sohn Heinrich (Jonas Kling) das entstandene Machtvakuum für sich nutzen.
Es läge auf der Hand, das Stück, im Iran oder Afghanistan anzusiedeln, Bezüge zur Zeit und zum Weltgeschehen herzustellen. Die Regisseurin Kathrin Mayr entzieht ihre Interpretation am Theater für Niedersachsen jedoch diesen Sinnzusammenhängen und versetzt die Erzählung in einen Zirkus. Eine Artistin turnt am Seil in schwindelerregender Höhe, wird in zwei Teile geteilt, hier und da wird mit Konfetti um sich geworfen – alles für die große Show. Ein Subkosmos, eine geschlossene Welt, deren Mitglieder unter größten Kraftanstrengungen versuchen, Perfektion und Glanz nach außen hin zu präsentieren. Jeden Tag aufs Neue. Doch der schöne Schein hat sichtbare Risse: das Zirkuszelt steht krumm und schief da, die Tribünen sind verrostet, das Holz angefressen, die Schminke wirkt zu dick aufgetragen. Bühnenbildnerin Anna Siegrot und Kostümbildnerin Amelie Müller haben das Stück grandios ausgestattet. In dieser Szenerie gelingt es Mayr, die Vorlage und ihr Genre beim Wort zu nehmen und das Parabolische geschickt mit dem Märchenhaften, Moral geschickt mit Humor zu verbinden. Grund hierfür ist, dass Momente wie: „In unserer Stadt ist alles normal – wobei letzte Woche gab es etwas Wind“ zunächst für Lacher sorgen, später aber bittersüß darstellen, wie die Dorfbewohner:innen versuchen, den schönen Schein nach außen hin zu wahren.
Und es gelingt Mayr, diese beiden Elemente auch in den Figuren – besonders in den Nebenrollen – anzulegen. Da sind zum Beispiel der Kater (Jeremias Beckford) und die Artistin (Kristina Britt), die von Beginn an eine Art Außenperspektive einnehmen, sich nicht nur als nette Pausen-Nummern, sondern immer wieder als moralische und ethische Treiber hervortun, indem sie Lanzelot heimlich helfen oder den anderen Figuren gut zureden, dass eine Gesellschaftsordnung fernab der tyrannischen Drachen-Herrschaft möglich ist. Denn für die Bewohner:innen der Stadt ist das bestehende System durchaus bequem. Sie haben sich darin eingenistet, es gibt ihnen scheinbare Sicherheit. Hannah Arendt beschreibt dieses Phänomen in ihrem politischen Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ als eine Art Suprasinn, durch den in nicht erwarteter Stimmigkeit jede, auch die absurdeste Handlung und Institution ihren Sinn empfängt und sich so intern legitimiert.
Als Show-Paar des Abends treten vor allem Simone Mende als Bürgermeister und Jonas Kling als dessen Sohn Heinrich auf. Beiden gelingt es, feinfühlig persönliche Motive und Charakteristika der doch sehr stereotyp angelegten Figuren herauszuarbeiten. So färbt Simone Mende den Bürgermeister zunächst als witzig-neurotischen Taugenichts, der an allen nervlichen Krankheiten, die es gibt, und noch drei weiteren bisher unentdeckten leidet, nur um kurz später ins berechnend-Machthungrige zu wechseln. Dabei sieht Mende mit ihrem satin-glänzenden Anzug, dem Clark-Gabel-Moustache und den schmalzlockigen Haaren auch aus wie der schmierige Antagonist aus einem Psycho-Thriller. Gleiches gelingt auch für Jonas Kling. „Daddys Liebling“ kommt mit Halskrause, puderlila Cashmerepullover und rosa Wangen zunächst bubihaft daher, hat es aber faustdick hinter den Ohren: Kling schafft es durch seine unfassbar nuancierte Spielweise in Sekundenschnelle vom unterwürfigen Knecht zum extrovertierten Showmaster zu wechseln. Dabei ist jedes Augenzwinkern, jedes Räuspern und Fingerspreizen genau gesetzt.
Leider ist es Mayr nicht gelungen ist, diese Differenziertheit auch auf die eigentlichen Protagonist:innen Lanzelot und Elsa zu übertragen. Beide Figuren sind schon qua Stückvorlage eher stereotyp und eindimensional angelegt. Obwohl insbesondere Nina Carolin in einem fünfminütigen emotionalen Monolog im zweiten Akt alles gibt, sich vom Archetyp der zu rettenden Jungfrau zu befreien und dabei über sich hinaus wächst – „Alle haben mich geachtet, aber glücklich geworden sind andere. Ich will glücklich werden! Jetzt wisst ihr’s!“ – bleibt die Schräglage im Vergleich zu den Kolleg:innen bestehen. An dieser Stelle hätte es von Seiten der Inszenierung mehr Feingefühl gebraucht.
„Der Drache“ am Theater für Niedersachsen zeigt die Eigenlogik von Gewaltherrschaft und Mitläufertum auf. Und das auf unterhaltsame, verzaubernde und gerade deshalb schrecklich entlarvende Weise. Märchen haben eben nicht nur die Macht, uns in eine fremde Welt zu entführen, sondern Missstände der Bestehenden mit aller Kraft zu verdeutlichen.
Erschienen am 13.1.2023