Es gibt keinen Ort, der sich schlechter für Moral eignet
von Milo Rau und Julia Reichert
Erschienen in: Die Enthüllung des Realen – Milo Rau und das International Institute of Political Murder (11/2013)
Julia Reichert / Milo Rau
Julia Reichert Sie wollen in Zürich einen Schauprozess führen. Warum?
Milo Rau Wenn der historische Kommunismus ein ästhetisches Format für die Ewigkeit hervorgebracht hat, so ist es das Format des Schauprozesses: bis ins letzte inszenierte, natürlich absolut verbrecherische Medien-Spektakel, wo sogar die Zwischenrufe abgesprochen waren und die Verurteilten als Schädlinge, als Feinde der Gesellschaft hingestellt wurden. Mich hat das seit meiner Kindheit fasziniert, warum auch immer. Als ich also vor zwei Jahren von der Stiftung „Memorial“ und dem Deutschen Nationaltheater Weimar angefragt wurde, ob ich was zu den stalinistischen Verbrechen machen will, entschied ich mich sofort für die „Moskauer Prozesse“ aus den Jahren 1937/38, in denen Stalin dieses Format zur Perfektion getrieben hat. Bei den Recherchen stieß ich dann auf die Prozesse der nuller Jahre, die Putin im Lauf der Konsolidierung seiner Macht gegen Gegner aus Wirtschaft, Politik und Kunst führen ließ – meist aufgrund völlig absurder und konstruierter Vorwürfe, etwa Gotteslästerung, die aber viel über das heutige Russland aussagen. Da vor ca. zwei Jahren ein ähnlicher, wenn auch medialer Schauprozess gegen eine geplante Ausstellung von mir geführt wurde („Der St. Galler Lehrermord“), der zu Morddrohungen und schließlich zur Absetzung des Projekts führte, habe ich...