Zwischen Monolog und Chor
Zur Dramaturgie Heiner Müllers
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
I. Ende der 60er Jahre hat sich in Heiner Müllers Werk eine Veränderung zugetragen, die seine Texte in die Nähe zu den etwa zeitgleich entstehenden neuen Theater- und Regieformen bringt, die man als postdramatisch kennzeichnen kann.1 Zugleich setzt eine thematische Verdüsterung ein: Die stets schon vorhandene sarkastische Skepsis, die Zuspitzung zum tragischen Paradox wird augenfälliger. Wenn Müller die stabile dramatische Form, von der bis dahin noch erhebliche Reste wirksam waren, nunmehr aufgibt, so dürfte der Grund hierfür darin liegen, dass das Drama als Form von einem sozusagen optimistischen Zug zu einem Telos hin nicht abzulösen ist. Nicht nur, aber auch wegen seiner Abwendung von den scheinhaften Gewissheiten der marxistischen Geschichtsdoktrin tragen Müllers spätere Texte formal die gleiche Zeitsignatur wie das postdramatische Theater. Sie konnten deshalb zur Inspiration für viele der radikalsten Theaterleute werden. Es ist kein Wunder, dass er von den Magazzini bis zu den Bak-Truppen, von Angelus Novus bis zu Rosas, von Robert Wilson bis zu Theodoros Terzopoulos rezipiert wurde. Dasselbe gilt für eine kaum überschaubare Anzahl junger, experimentell gesonnener Theaterleute in aller Welt, die ihr Augenmerk sonst mehr auf die Performance als auf den literarischen Text konzentrieren. Die 1980er Jahre waren geradezu ein Müller-Jahrzehnt. Seine dichten und...