Auftritt
Augsburg: Apocalypse wow!
Theater Augsburg: „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz. Regie Michael von zur Mühlen, Ausstattung Christoph Ernst
Erschienen in: Theater der Zeit: Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon – Umwege zum Realismus (12/2015)
Assoziationen: Staatstheater Augsburg
Die Finsternis: ein Guckkasten aus schwarzer Plastikplane, ein lichtschluckendes Loch. Durch einen Schlitz in der Rückwand schiebt die Pianistin Myunghwa Wiede einen Flügel in die Bühnenmitte und beginnt zu spielen. Beethoven. Als gälte es, diesen Unort mit Kultur aufzuhellen. Während im Folgenden der Irrwitz um Wiede herumtobt, wird sie sich weiter unverdrossen durch ihr Repertoire arbeiten, das neben Beethoven auch Puccini und Skrjabin umfasst. Nur gelegentlich weicht der Wohllaut dissonanten Tönen, wenn Wiede die Tasten mit Ellbogenstößen traktiert. Ansonsten aber ist sie eine stoische Statthalterin der Zivilisation inmitten der Finsternis, die in der Inszenierung von Michael von zur Mühlen auf mitunter peinlich berührende Weise lächerlich ist. Aber nur selten zum Lachen.
Wiede teilt sich die Bühne mit vier Schauspielern, die auf High Heels staksen. In flauschigen Angorapullis und mit Seidenstrumpfhosen – nicht nur an den Beinen, sondern auch über den Köpfen – erinnern sie an halb entkleidete Schaufensterpuppen. Gemeinsam sprechen sie den Prolog des Stücks: die Verteidigungsrede eines somalischen Piraten vor einem deutschen Gericht. Bizarres mischt sich darin mit Berührendem. Die Seeräuberei, erzählt der Mann, habe er als Diplomstudium an der Hochschule von Mogadischu erlernt. Dabei habe er doch ursprünglich Fischer werden wollen. Die leer gefischten Meere aber ließen ihm keine andere Wahl als Pirat zu werden. Ihm in Europa dafür den Prozess zu machen, scheint vor dem Hintergrund seiner Not schiere Anmaßung. Postkoloniale Arroganz.
Im Idealfall löst die Piratenrede beim Publikum eine Kombination aus Belustigung und Bestürzung aus. In Augsburg, wo Klaus Müller in einem manierierten Voodoo-Singsang zu sprechen beginnt, ehe der Text zu seinen Kollegen Tjark Bernau, Alexander Darkow und David Dumas weiterwandert, weckt sie eher Befremden.
Wolfram Lotz hat sein Stück als Hörspiel klassifiziert, weil es größtenteils an Orten spielt, die ohnehin nur in Gestalt medial geprägter Bilder in den Köpfen der meisten Mitteleuropäer präsent sind: Afghanistan, Afrika, der Balkan; an eigener Anschauung fehlt es dagegen in der Regel. In seinen Anmerkungen zur „Umsetzung des Skripts auf einer Theaterbühne“ rät der Autor daher dringend zu freiem Umgang mit der Vorlage. Ob es allerdings eine gute Idee war, das Stück als Textfläche zu behandeln, wie Michael von zur Mühlen das getan hat?
Bei Lotz schippern zwei Bundeswehrsoldaten in einem Boot auf dem Hindukusch. Jawohl, der Hindukusch ist hier ein Fluss. Nur weil im Fernsehen allenthalben berichtet wird, es handle sich um ein Gebirge, müsse das ja noch lange nicht stimmen, belehrt einer der Offiziere die Zuschauer. Also geht es stromaufwärts, „hinein in die Regenwälder Afghanistans“, vorbei an Blauhelmsoldaten, die Eingeborene vor den Taliban schützen, vorbei an einem Afrikamissionar, aber auch an einem serbischen Händler, der Frau und Kind im Balkankrieg verloren hat. Sämtliche Krisen- und Kriegsgebiete verschmelzen bei Lotz zu einer globalen Einheitswildnis. In Anlehnung an „Francis Ford Conrads ‚Herz der Apokalypse‘“ erzählt er von einer Reise ins Innere, in den Abgrund unserer westeuropäischen Wahrnehmung, die nichts weiß von der weiten Welt da draußen. Oder eben nur das, was sie aus den Nachrichten kennt.
Michael von zur Mühlen schwebte offenbar vor, diese Reise als Psychotrip zu erzählen. Der Bericht einer Flussfahrt als Bewusstseinsstrom eines kollektiven Ichs. Das ist ambitioniert, geht aber gründlich schief. Lotz erzählt vom Verlust von Orientierung und Identität. Damit der Zuschauer diesen Verlust nachvollziehen könnte, bräuchte es aber erst mal ein Identifikationsangebot. Wo aber das Publikum (zumindest ohne vorherige Lektüre des Stücks) von Anfang an im Dunkeln tappt, kann es sich auch nicht mehr in der Finsternis verlieren. Es ist bereits verloren.
Überdies lässt die Regie ein Gespür für den augenöffnenden Witz des Autors vermissen, der unsere Versuche, sich eine Vorstellung von der Welt zu machen, als absurd entlarvt. Stattdessen bestimmen Pathos und Geplärr die Tonlage einer Aufführung, die zeitweise wie das schlechte Klischee einer Avantgarde-Performance anmutet. Abgründig ist daran nichts. Vieles nur abgrundtief lachhaft. Als sich mit dem Blackout zum Schluss endlich völlige Finsternis über die Bühne legt, ist das gewissermaßen ein Lichtblick. //