Das Drama der Menschengattung
Teil einer Faust-Studie
von Georg Lukács
Erschienen in: Theater der Zeit: Nachwuchssorgen (02/1947)

Das Fragment von 1790 bringt einen Dialog zwischen Faust und Mephistopheles, der mit den folgenden, für die Neufassung des ganzen Werks programmatischen Worten Fausts beginnt:
‚Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen,
Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen,
Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,
Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern.‘
Hier ist die spezifische Problemstellung, durch die der Faust zu einem einzigartigen Weltgedicht wurde, klar ausgesprochen: Im Mittelpunkt steht ein Individuum, dessen Erlebnisse, dessen Schicksal und Entwicklung zugleich den Fortgang und das Geschick der ganzen Gattung darstellen soll.
Dies bedarf noch einer bestimmten Konkretisierung. Denn jede echt und tief typisch gestaltete Figur der Dichtung reicht bis an die Probleme der ganzen Menschheit. Aber sie tut es gewissermaßen nur mit einer Seite ihres Wesens, nur als Ausdruck ihrer höchsten dichterischen Entfaltung, nur als horizontalartige Verallgemeinerung des ganzen Werks. Um ein wirklich gestaltender Mensch zu sein, muß jede Figur der Literatur gerade spezifisch, besonders sein, darf sie die Allgemeinheit nur durchschimmern lassen. Anderseits: jedes pedantische enzyklopädische Streben nach Abbildung der ganzen Welt, des ganzen Weltprozesses zerstört die poetische Lebendigkeit...