Theater der Zeit

Kunst und Attacke

Faux Amis

von Olaf Nicolai

Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)

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Es sind nur zwei Objekte, die da stehen. Ein Kühlschrank und ein Fernseher, mehr nicht. Die aber reichen aus. Die Bühne ist keine Bühne mehr, das Stück kein Theater. Natürlich ist es noch Theater, ich sitze ja im Zuschauerraum und schaue nach vorn, und es gibt ein Stück, einen Text, es wird gespielt. Und doch: Es ist zugleich etwas ganz anderes. Viel Zeit vergeht, bis der erste Schauspieler auftritt. Was nicht ganz stimmt: Es gibt schon einen Schauspieler auf der Bühne, er befindet sich in einem der Objekte. Im Fernseher sieht man Gerd Preusche spielen, eine Live-Übertragung, wie es scheint. Das war im Februar 1988, im Theater von Karl-Marx-Stadt, Frank Castorf inszenierte „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen. Dieser Raum mit den Objekten, dieses Bild blieb. Nicht als Bild, das man anschaut, nicht als Gegenüber. Als Bild, das einen trifft.

Fast 30 Jahre später lässt mich Thomas Aurin sein Bildarchiv mit Aufnahmen von Castorfs Inszenierungen seit Beginn der neunziger Jahre anschauen. Irgendwann sehe ich immer wieder Szenen, Gesten, Orte, die ich kenne, die sich wiederholen – nicht nur in den Stücken selbst, oder den eigenen Erfahrungen und Erinnerungen, auch in Aktionen, Videos oder Installationen anderer Künstler.

Anfang der achtziger Jahre haben Michele Mancini und Giuseppe Perrella in einem irren wie voluminösen Buch („Corpi e luoghi“, Theorema edizioni, Roma) die Filme von Pier Paolo Pasolini in Einzelbilder aufgelöst und diese nach thematischen Gruppen zusammengefasst. Eine bildliche Analyse, die strikt dem formalen Prinzip der Analogie, dem faux ami, folgt. Was wie eine strukturalistische, ikonografische Analyse der Bildlogiken PPPs wirkte, war jedoch etwas viel Virulenteres. Verhältnisse wurden sichtbar, Konstellationen, die durch einen hindurchgehen und in denen man agiert.

Die vorliegende Skizze versucht mit einer ähnlichen Haltung, die eingangs geschilderte Faszination, diese Erfahrung mit dem Bild als Raum bei den Inszenierungen von Castorf zu fassen. Ausgehend von Thomas Aurins Archiv werden stills in sechs verschiedenen Kategorien (3er-Gang, Auge/Ball, Bein, Spiegel, Tier, Wasser und Maske) geordnet, die sich immer wieder in den archivierten Fotos dokumentieren – ohne Rücksicht darauf, aus welchen Stücken sie stammen. Sie ließen sich zahlreich fortsetzen, auch könnte man ganz andere Kategorien bilden. Was sich abzeichnet, sind Register visueller Erfahrung und des Denkens, die sich in Formeln quer durch die Texte der Inszenierungen artikulieren und sie dadurch auch formatieren. Dies ist zwar ohne den Text, das Stück, nicht möglich, meint aber mehr als nur einen irgendwie „anderen“ Umgang mit dem Text.

Diese ikonografischen Raster werden auf drei Seiten von Collagen aus found footage unterbrochen, die die Bildlogiken der Kategorien aufgreifen. Die Quellen reichen vom privaten Foto, über Gemälde, künstlerische Installationen oder Werbematerial bis zum Newsclip und bilden Echoräume sowie Resonanzen zu den Castorf’schen Bildern.

Dass Bilder einen treffen, heißt auch, dass sie die Bilder, die man kennt, in denen man lebt, sich entwirft, die man imaginiert – dass sie diese Bilder verändern. Das ist nichts Magisches, sondern ist sehr real, im wahrsten Sinne des Wortes Realismus. Und dazu reichen manchmal ein oder zwei Objekte. Fernseher und Kühlschrank: Die kaufte man sich gern vom sogenannten Ehekredit für Jungpaare, den die DDR-Führung sich als sozial-politisches Bonbon gedacht hatte. Für anderweitigen Konsum gab keine Bank Kredit.

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