Theater der Zeit

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Auftritt

Deutsches Theater Göttingen: Archäologische Suche nach der Mutter

„Nichts widersetzt sich der Nacht“ nach Delphine de Vigan – Regie Schirin Khodadadian, Bühne und Kostüme Ulrike Obermüller

von Joachim F. Tornau

Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken Schirin Khodadadian Delphine de Vigan Deutsches Theater Göttingen

Helena Weiß und Angelika Fornell in „Nichts widersetzt sich der Nacht“ nach Delphine de Vigan am Deutschen Theater Göttingen Isabel Winarsch
Helena Weiß und Angelika Fornell in „Nichts widersetzt sich der Nacht“ nach Delphine de Vigan am Deutschen Theater GöttingenFoto: Isabel Winarsch

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Was vom Skizzenblock eines recht kreativen Bühnenbildners stammen könnte, ist keine Inszenierung. Sondern einfach da. Antike Statuen stehen dicht an dicht, dass es beinahe achtlos wirkt. Hier ein paar Athenen, dort einige Diskuswerfer, eher abgestellt als aufgestellt. Ihr Weiß hebt sich ab vom leuchtenden Rot oder Blau der Wände, die Flucht der Räume zieht den Blick in die Tiefe. Mehr als 2000 Reproduktionen altrömischer und altgriechischer Skulpturen besitzt das archäologische Seminar der Universität Göttingen, es ist eine der größten Gipsabgusssammlungen der Welt. Und eine Ready-made-Kulisse, wie geschaffen fürs Theaterspielen. 

Das Deutsche Theater in Göttingen hat diesen Ort jetzt für sich entdeckt, für eine Produktion, die wiederum kaum irgendwo so hineinpassen könnte wie hier. Regisseurin Schirin Khodadadian hat gemeinsam mit Dramaturgin Sarah Lena Tzscheppan den autobiografischen Roman „Rien ne s'oppose à la nuit“ der französischen Bestsellerautorin Delphine de Vigan für diese besondere Bühne bearbeitet. Die deutsche Ausgabe des Romans erschien 2020 als „Das Lächeln meiner Mutter“, die Inszenierung aber trägt den einem Chanson entlehnten Originaltitel in wörtlicher Übersetzung: „Nichts widersetzt sich der Nacht“. 

Delphine de Vigan hat mit dem Schreiben dieses vielbeachteten Buchs den Suizid ihrer Mutter Lucile zu verarbeiten versucht. Sie hat versucht, das Leben und den Tod dieser offenbar so bewunderten wie beängstigenden, so unkonventionellen wie abgründigen Frau zu verstehen. Sie hat mit Verwandten gesprochen und sich tief in die Hinterlassenschaften der Mutter versenkt, in Fotoalben, Briefe, Tonbandaufnahmen, Texte. Doch wie nah das Abbild, das sie auf fast 400 Romanseiten erschafft, der Wahrheit kommt, wie viele Wahrheiten es überhaupt gibt, das weiß de Vigan auch am Ende nicht.  

In Göttingen empfängt Angelika Fornell die Zuschauer:innen, als ginge es um eine Führung durch die Skulpturensammlung, und erklärt erst einmal, wie das mit den Abgüssen funktioniert. Wie eine Gussform so zusammengepresst werden muss, dass alles bruchlos zusammenpasst. Wie die Gipsmasse bis in jede kleine Einzelheit einer Figur fließen muss. Und doch, das wird sich später zeigen, gibt es Statuen, denen Gliedmaßen fehlen, brechen Scherben ab. Nichts ist so makellos und glatt, wie es scheint. 

Die Frau im strengen Hosenanzug ist eine von drei Schauspielerinnen, die mit dem auf vielleicht zwei oder drei Dutzend Menschen begrenzten Publikum durch die Sammlungsräume ziehen und dabei die Geschichte von Lucile erzählen. Fornell tut das tastend, immer ein wenig erstaunt über das, was da über die Mutter zutage gefördert wird. Jenny Weichert, mit Trenchcoat über dem Seidenkleid, ist ernst und distanziert, um ihren Mund spielt ein bitterer Zug. Und Tara Helena Weiß gibt im weißen Rüschenrock die Mädchenhafte. Irgendwann wird ihr von den anderen auf einen Sockel geholfen, da sitzt sie dann wie eine Statue, so milde wie undurchschaubar lächelnd.  

Sie alle stehen für Seiten von Lucile, und sie alle sind ihre erzählende Tochter. Sie erzählen vom Aufwachsen Luciles in einer Großfamilie, zu deren „Familienwörterbuch“, wie es einmal heißt, „die Wörter Tragödie, Alkohol, Irrsinn, Suizid genauso gehören wie die Wörter Fest, Spagat und Wasserski“. Von ihrer Arbeit als Model für Kindermode, mit der sie, schon im Mädchenalter von auffallender Schönheit, den Unterhalt der Familie sicherte. Von den Schicksalsschlägen, die sie verkraften musste: den Unfalltod eines Bruders, den mutmaßlichen Freitod des Ziehsohns, mit dem die Eltern den Toten zu ersetzen versucht hatten. Vom Vater, der sie sexuell missbraucht haben könnte.  

Und sie erzählen vom Absturz der erwachsenen Lucile, die sich in Drogen und Alkohol flüchtet und mehrmals wegen einer bipolaren Störung in die Psychiatrie kommt. Von ihrem Wunsch, „lebendig zu sterben“, den sie sich mit ihrer Selbsttötung erfüllte. 

Khodadadian zeigt keine dramatisierte Fassung des Romans, vorgetragen wird der starke Originaltext. Das Bühnengeschehen, gleichwohl dynamisch, spiegelt wider, was die „archäologische Suche“ nach Lucile genannt wird: Im Licht tragbarer Scheinwerfer werden Karteikästen mit unzähligen Zetteln durchwühlt, zerfledderte Ausgaben des Romans geben Blätter mit Sätzen von Lucile frei, aus Lautsprechern ertönen Worte von ihr oder ihren Verwandten. Die gipsernen Skulpturen rundum dienen dabei als stumme Dialogpartner. Der schrille Schrei „Nicht anfassen!“ mag ihnen gelten. Aber wenn gerade von einer möglichen Vergewaltigung Luciles die Rede war, klingt er ganz anders. 

Es ist ein originelles, ein anregendes Theaterexperiment. Doch mit einer Schwäche: Die Selbstreflexion und die Zweifel, die bei Delphine de Vigan großen Raum einnehmen und ihre zum Roman gewordene Familienrecherche so außergewöhnlich machen, sie kommen in dieser Bühnenversion zu kurz. Dass es mehr als eine Wahrheit gibt, wird hier zwar behauptet. Die erzählte Geschichte aber passt dann doch in eine Abgussform. Am Ende ziehen die drei Schauspielerinnen eine Statue der griechischen Jagdgöttin Artemis in den Saal. Nicht weiß ist sie, sondern buntbemalt. 

Erschienen am 1.6.2023

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