Der authentische Bürger
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Lob des Realismus (05/2015)
Die Frage, über welche Eigenschaften sich eine Klasse selbst begreifen kann, hat in der Postmoderne die für sie typische Antwort gefunden: Die Klasse der Mittelschicht ist die Klasse derjenigen, die keine Klasse sind. Doch wenn man jetzt nicht aufgibt und noch eine zweite Frage stellt, könnte dieses schöne Paradox Risse bekommen. Stellen wir also die zweite, entscheidende Frage: Was ist die Achillesferse dieser Klasse? Der blinde Fleck der bürgerlichen Klasse war im 19. Jahrhundert ihre Doppelmoral, mit der der Widerspruch, Ausbeuter und Ausgebeuteter in einer Person zu sein, versteckt werden sollte. Die Doppelmoral und das mit ihr einhergehende falsche Bewusstsein musste dann selbst wieder unsichtbar gemacht werden: Hätte man sich als Ausbeuter begriffen, hätte man sich nach den eigenen Maßstäben schuldig fühlen müssen; hätte man sich hingegen als Ausgebeuteter begriffen, hätte das Denken zu einer Praxis geführt, die solche Verhältnisse revolutioniert. Die Lösung der bürgerlichen Klasse bestand aber darin, immer neue Lebenslügen zu erfinden, um diesen Widerspruch zu verstecken. Die seelische Verdrängungsarbeit führte zu Neurosen und die gesellschaftliche Unterdrückung führte zum gewaltsamen Staat. Die bürgerliche Kunst übernahm bei der Gestaltung des Weltinnenraums des Kapitals einen nicht unbeträchtlichen Teil. Der starke Motor, der ihre Fantasie antrieb, bezog seine Energie aus der...