Mündliche Wissenschaft
Die andere Seite der Hermeneutik | Ein Void im Diskurs des Performativen | Orale Episteme
von Lorenz Aggermann
Erschienen in: Recherchen 102: Der offene Mund – Über ein zentrales Phänomen des Pathischen (03/2013)
MÜNDLICHE WISSENSCHAFT
Der offene Mund ist kein Phänomen alltäglicher Reflexion. Die Höflichkeit gebietet es, sich beim Gähnen oder Husten die Hand vor den Mund zu halten; Lachen mit weit aufgerissenem Mund wirkt obszön. Der offene Mund ist unangenehm, er verweist eindrücklich auf das Innenleben, auf den Bereich des Organischen und des Affektiven – eine Sphäre, mit der die Subjekte der Abendlandes für gewöhnlich nur mittelbar konfrontiert werden wollen. Unterschiedliche Mechanismen der Kultivierung dienen dazu, diese reale, physiologische Sphäre zu marginalisieren, aus dem Blick zu rücken; die Öffnungen des Körpers, zuvorderst der Mund und der After, bringen jene organische und reale Basis jedoch immer wieder in Erinnerung: Einverleibung und Ausscheidung sind die einfachsten Zugänge des Menschen zu seiner Umwelt, sie ermöglichen, eine Erfahrung zu machen und eine Spur zu hinterlassen. Im Umgang mit diesen grundlegenden Körperfunktionen werden daher erste kulturelle Formierungen deutlich, die hierbei entwickelten Techniken und Praktiken markieren den Anbruch von Kultur.
Der offene Mund ist von erheblicher Relevanz für die Kultur- als auch die Subjekttheorie. Doch während die Ausscheidung, und damit der After, immer wieder zum Thema ästhetischer und theoretischer Auseinandersetzung gewählt wurde,14 ist der Mund als ebenso markantes Objekt bislang selten einer theoretischen Erörterung würdig befunden worden....