Protagonisten
Der Geschichtenerzähler
Mariano Pensottis Theater zwischen Raum und Zeit
von Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Volksbühne Neu (11/2021)
Assoziationen: Akteure
Die erste Aufführung, die ich von Mariano Pensotti sah, war „La Marea“, 2006 in Brüssel beim Kunstenfestival des arts. Sie ist mir unvergesslich bis heute. Wir, das waren viele Menschen, Festivalbesucher, Passanten, Neugierige liefen nachts die Rue de Flandre entlang, eine kleine Straße mit vielen Geschäften, in denen Merkwürdiges geschah. Durch die Schaufenster beobachteten wir Paare beim Essen oder Streiten, beim sich Langweilen oder Küssen. Auf die Fenster projizierte Untertitel verrieten ihre Gedanken, die oft konträr zu den gezeigten Situationen daherkamen.
Es war faszinierend, die Straße entlangzuschlendern, wie ein Voyeur in die Fenster zu starren und sich die Lebensfetzen zusammenzureimen. Ich ging jede Nacht hin, und jedes Mal war es anders, nicht in dem, was geschah, sondern in dem, was ich – und sicher auch viele andere – dort hineininterpretierten. Neun Episoden, drei davon auf der Straße, etwa ein Motorradunfall, und wenn man am nächsten Morgen wieder zur Rue de Flandre kam, hatten die Geschäfte wieder ihre Auslagen und Kunden, und niemand ahnte was vom nächtlichen Gespensterreigen. So muss Theater doch sein, dachte ich, eine Verschwörung gegen die Welt, für die Welt, ein Traumwissen, das verstört und heilt. Aber nach vier Nächten war alles vorbei.
Seither habe ich Pensottis Arbeiten...