Theater der Zeit

Look Out

Verwandlung ins Unbekannte

Eine Wasserseele, die es nach Mannheim verschlagen hat – Die Schauspielerin Annemarie Brüntjen

von Björn Hayer

Erschienen in: Theater der Zeit: Die Spieler – Das Schauspielhaus Bochum (06/2020)

Assoziationen: Nationaltheater Mannheim

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Wo sonst könnte man die 1993 in Oldenburg geborene Annemarie Brüntjen wohl eher antreffen als am Mannheimer Rheinufer? Seitdem wegen Corona nun auch das Theater lahmgelegt und die Zeit neu zu organisieren ist, gehören die schmalen Auen entlang des Flusses zu ihren bevorzugten Spazierorten. Inmitten der kurpfälzischen Sech­ziger-Jahre-Architektur findet das Nordlicht zumindest dort das ersehnte Wasser vor. Nicht leicht sei ihr der Ortswechsel gefallen. Aus­gebildet an der Berliner Ernst-Busch-Schule, verschlug es sie zunächst an das Berliner Ensemble, das Neue Theater Halle, anschließend an das Renaissance Theater Berlin, bis sie 2019 ihr Engagement am ­Nationaltheater Mannheim annahm.

Sich an neue Situationen anzupassen, hat sie allerdings durch ihren vielfältigen Beruf ohnehin gelernt. Was sie daran schätzt, ist die gezielte Verwandlung in das ganz Unbekannte. „Spannend ist natürlich die große Entfremdung“, wie sie Brüntjen etwa in ihren Rollen als rachsüchtige Kriemhild in „Die Nibelungen“ (Neues Theater Halle) oder zuletzt als Kassandra in der von Philipp Rosendahl realisierten „Orestie“ (Nationaltheater Mannheim) erlebte. „Reifer und reicher“ werde sie durch die Erarbeitung ihr persönlich nicht nahestehender Charaktere, sagt sie. Es gelte dabei zum einen, das „innere Kind wiederzuentdecken“, und zum anderen den befreienden Impuls zu suchen und bewusst „aus dem eigenen Ich herauszutreten“.

Motivation für das eigene Spiel seien emotionale Grenzerfahrungen. „Ich bin sehr sensibel und nehme Stimmungen wie ein Schwamm auf“, sagt Brüntjen, weswegen ihr schon in ­Jugendjahren gerade das Live-Medium Theater zum Ziel aller Bestrebungen wurde. Hätte es mit der Schauspielerei nicht geklappt, wäre sie wohl am ehesten Sängerin geworden. Dies mag wohl auch ihre Begeisterung für die Figur der Polly in Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ erklären, die sie in Halle in der Inszenierung von Henriette Hörnigk verkörpern durfte. Und falls die Rollen einmal keine Lieder zulassen, greift die Akteurin zu Hause beherzt selbst zur Gitarre oder schreibt eigene Songs.

Überhaupt erweist sich die Musik als zentrale Metapher in Brüntjens Selbst- und Arbeitsverständnis. Sie kann das Ich vertiefen oder davon wegführen. Und überdies ermöglicht sie, dass ein Ensemble zusammenwächst. Letztlich bilden das Ego und das Wir die beiden Pole des Schauspielens, wie die Künstlerin zuletzt eindrucksvoll in Enis Macis „Bataillon“ (Nationaltheater Mannheim) unter Beweis stellte. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Sophie Arbeiter, Otiti Engelhardt und Carina Thurner mimt sie eine Weberin, die im Keller eines Hochhauskomplexes, mithin die urbane Utopie eines perfekten Zusammenlebens, Erzählungen und Bilder verwebt. Es handelt sich um ein hochkomplexes Stück voller diskursiver Verknotungen und Anspielungen beispiels­weise auf die antike Mythologie oder Charles Darwins Evolu­tionstheorie. Im Zentrum steht das Austarieren zwischen der Gemeinschaft und dem Ich in Zeiten des Hyperindividualismus, wie ihn der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt.

Brüntjen selbst verortet sich klar als Teamplayerin, die es schätzt, die Energien im Rahmen der Proben und in der Interaktion mit ihren Mitspielern auf sich wirken zu lassen. Erfreulich ist übrigens, dass sie selbst nur wenig negative Erfahrungen als junge Frau im sonst männerdominierten Theaterbetrieb gemacht hat. Hier und da mal schwierige Regisseure, aber in die Opferrolle wurde sie persönlich nicht gedrängt. Und sollte doch ein Probentag zu unerfreulichen Ergebnissen führen, kann neben Musik auch noch etwas Yoga helfen, worin sie sich gerade übt. Derart selbstbewusste und begabte junge Frauen kann das Schauspiel nur gut gebrauchen! //

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