Theater der Zeit

4.4 Involvierung durch Handlungsanweisungen in SIGNAs Das Heuvolk

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: SIGNA

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Im Folgenden möchte ich mich am Beispiel von SIGNAs Das Heuvolk einem Modus der Publikumsinvolvierung zuwenden, der für immersive, aber auch für andere partizipative Formen des Gegenwartstheaters von zentraler Bedeutung für das Aufführungserleben ist: die Involvierung der Zuschauenden in das Aufführungsgeschehen – und den Mikrokosmos im Fall von immersivem Theater – über konkrete Handlungsanweisungen.

Wie in Kapitel 2.1.2 ausgeführt, stehen immersive Theaterformen hinsichtlich der Aktivierung und Mobilisierung der Zuschauer*innen in der Tradition jener bis Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichenden Theaterexperimente, die darauf abzielten, das Verhältnis zwischen Publikum und Darsteller*innen dahingehend zu verändern, dass Zuschauer*innen aus ihrer vermeintlich passiven Rolle befreit und stärker am Geschehen beteiligt werden, sodass diese selbst zu Akteur*innen (vgl. Fischer-Lichte, 2006), zu Handelnden, würden. Wenn man wie Jacques Rancière (vgl. Rancière, 2009, S. 11 – 34) oder Alexander Garcia Düttman (vgl. Düttmann, 2011) davon ausgeht, dass bereits der Vorgang des Zuschauens, Wahrnehmens, Imaginierens, bewussten Assoziierens und Verstehens als Handeln im Sinne einer leiblichen, »willentliche[n] und reflektierbare[n] Tätigkeit« (Gronau, 2014, S. 143) zu betrachten sei, dann wäre ein*e Theaterzuschauer*in immer auch schon handelnd und auf diese Weise aktiviert. Hinter einer solchen Auffassung verbirgt sich jedoch wiederum eine spezifische ›westliche‹, rationalistische Position, die in der Tradition einer erkenntnistheoretischen Privilegierung von Seh- und Hörsinn und vom Verstand geleiteten Erkenntnisprozessen steht. In dem Moment, in dem man Zuschauer*innen mobilisiert und ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Körper im Raum frei zu bewegen, werden nicht nur zusätzliche Sinne angesprochen und damit andere Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt, sondern es entsteht auch ein Möglichkeitsraum veränderter sozialer Kommunikation und Interaktion. Es sind gerade die affektiven Dynamiken sozialen Handelns (in einem ästhetisch abgesteckten Rahmen), die in immersiven Theaterformen das Herzstück des Aufführungsgeschehens bilden. Schließlich geht es in den ausgewählten Inszenierungen um gemeinsam hervorgebrachte Wirklichkeitssimulationen, die verschiedene, über Erzählereignisse initiierte und in eine Fiktion eingebettete Formen sozialen Handelns wie auch relationalen Aushandelns in Gang setzen. Innerdiegetisch sind Letztere eingelassen in ein Gefüge verschiedener, der fiktiven Institution entsprechender Regeln, Normen und Orientierungsweisen, zu eben welchen sich die involvierten Zuschauer*innen situativ zu verhalten haben – sei es durch Befolgen und Unterwerfen, sei es durch Subversion und/oder Widerstand.

Mit Barbara Gronau fasse ich unter Handlungen »alle Dimensionen körperlichen Tuns [der Zuschauer*innen] während der Aufführung« (ebd.) und möchte damit, wie in Kapitel 2 ausgeführt, Dynamiken von Zuschauer*innen-Partizipation im starken Sinne in den Blick nehmen. In immersiven Aufführungsformen sind Theaterzuschauer*innen aus ihrer konventionell eingeübten handlungsentlasteten Perspektive distanzierter Betrachtung befreit und erhalten eine agency zugesprochen, die beinhaltet, sich nicht nur frei durch die szenografierten Räume zu bewegen, sondern auch eigene Entscheidungen zu treffen. Anstelle einer genauen Beschreibung und Analyse desjenigen Handlungsspektrums, mit dem Zuschauer*innen in aktuellen partizipativen und immersiven Theaterformen konfrontiert sind, wie z. B. bei White 2013, überwiegt in der Forschung eine Kritik an Zuschauer*innen-Partizipation (vgl. u. a. Alston, 2013; Frieze, 2016; Kup, 2019). Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Handlungsbegriff theaterwissenschaftlich – jenseits eines Verständnisses von Handlung im Sinne von Plot, Fabel oder Narration in der Dramentheorie oder schauspieltheoretischen Überlegungen zu Handlungsweisen – für das Feld der Publikumsforschung noch kaum entwickelt ist (vgl. Gronau, 2014, S. 144). Wenngleich zum Handlungsspektrum von involvierten Zuschauer*innen in SIGNAs Das Heuvolk gehört, dass sie mobilisiert werden und sich frei im Gebäude oder sogar auf dem Gelände bewegen, stets entscheiden können, wann sie sich wie lange wo oder bei wem aufhalten möchten, und auch die Möglichkeit haben, proaktiv Gespräche mit den Figuren zu führen, fokussiere ich im Folgenden die Involvierung des Publikums durch explizite und implizite, von Menschen wie nicht-menschlichen Aktanten kommunizierte Handlungsanweisungen.

In einem ersten Schritt gilt es zusammenzutragen, welche Funktionen Handlungsanweisungen mit Blick auf die Zuschauer*innen-Involvierung sowohl produktionsästhetisch für die Organisation der Aufführung und die Einbeziehung der Zuschauer*innen in den Mikrokosmos als auch wirkungsästhetisch aufgrund des eingelassenen Oszillierens zwischen diesen beiden Ebenen haben. Über die handlungsbezogene Involvierung findet zugleich auf innerfiktionaler Ebene eine Form der Vereinnahmung statt, die im Fall von Das Heuvolk mit dem Begriff der Komplizenschaft näher beschrieben werden kann (4.4.1). Wie Zuschauer*innen durch ihr handlungsanweisungsbezogenes Mit-Wirken inner- wie außerfiktional im Sinne einer »kollektiven Subjektivierung« (Peter/Alkemeyer/Bröckling, 2018) vereinnahmt werden und diese selbst zum Gegenstand selbstreflexiver Aushandlung wird, soll im Anschluss entlang ausgewählter polyperspektivischer Zuschauer*innen-Erfahrungen in den Blick genommen werden. Dabei gehe ich von der These aus, dass Das Heuvolk im signifikanten Modus der Überlappung von fiktionaler und sozial-relational geteilter Aufführungsrealität bei den teilnehmenden und vereinnahmten Zuschauer*innen insbesondere Gefühle von Zugehörigkeit bzw. der Sehnsucht nach Zugehörigkeit produziert (4.4.2).

 

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