Aufruf
Editorial
von Rolf C. Hemke
Erschienen in: Recherchen 104: Theater im arabischen Sprachraum – Theatre in the Arab World (12/2013)
Kaum eine Weltregion ist in unseren Medien derzeit so präsent wie der arabische Sprachraum mit seinen Revolutionen, Revolten, Kriegen. Und selten wurde mit einer solch eigenartigen Mischung aus Sympathie, Befremden und Unverständnis über welthistorische Ereignisse berichtet wie über das, was seit dem Dezember 2010 in Tunesien und Ägypten, Libyen und Syrien passiert. Vom arabischen Theater ist da allerdings nicht die Rede. Dieses Buch wurde vor dem Hintergrund der Umwälzungen und im Bewusstsein verfasst, dass das Theater oft die politischste und spontanste aller Kunstformen sein kann. So kann Theater als Seismograph gesellschaftlicher Zustände funktionieren.
Nehmen wir als Beispiel zwei Produktionen, die im vergangenen Jahr im London, anlässlich des kulturellen Rahmenprogramms zu den Olympischen Spielen, für Aufsehen sorgten. Beide Künstler werden in diesem Buch vorgestellt. Der irakische Regisseur Monadhil Daood inszenierte eine zeitgenössische Adaption von Romeo und Julia vor dem Hintergrund der immer wiederkehrenden bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten. Die Aufführungen in Bagdad wurden heiß diskutiert. Der tunesische Regisseur Lotfi Achour begann seine persönliche Aufarbeitung der Ben-Ali-Diktatur, indem er eine in seiner Heimat ebenfalls hochumstrittene Macbeth-Paraphrase Macbeth: Leïla and Ben – A Bloody History herausbrachte.
Doch dieses Buch will nicht nur von dem erzählen, was das Theater im arabischen Sprachraum leisten kann und leisten darf. Die Rede muss natürlich auch davon sein, wie sich die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Ländern wie Tunesien oder Ägypten zu Lasten der Freiheit der Kunst entwickeln. Von neuen Repressionen durch salafistische Schlägerkommandos, unter denen die Künstler im postrevolutionären Tunesien leiden, weiß die schon jung international preisgekrönte Autorin und Regisseurin Meriam Bousselmi Bände zu berichten.
Unter ganz anderen Umständen arbeiten derzeit die syrischen Theatermacher, die in diesem Buch zu Worte kommen, soweit sie überhaupt noch künstlerisch tätig sein können. Der bis 2011 in Damaskus ansässige irakische Regisseur und Autor Muhaned Al Hadi etwa ist trotz der instabilen Sicherheitslage wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Seine letzte Regiearbeit aber legte er in Tunis am El Teatro des in diesem Buch ebenfalls portraitierten Taoufik Jebali vor.
Wie sich schon aus diesen Ausführungen ergibt, sind die Netzwerke in der arabischen Welt gut, die Zusammenarbeit – je nach finanziellen Möglichkeiten – eng. Die Fäden laufen an einigen zentralen Orten zusammen: den Theatermetropolen Tunis und Beirut, Kairo und Casablanca. Diesen sind dann auch einige Kapitel in diesem Buch gewidmet. Um einen Überblick über die reiche Theaterszene in all den Ländern zu geben, deren Theaterkünstler Aufnahme in dieses Buch gefunden haben, findet sich im Anhang ein kommentiertes Adressverzeichnis.
Vor ziemlich genau drei Jahren konnte ich das Datum unter das Vorwort des älteren „Bruders“ dieses Buches setzen: Theater südlich der Sahara / Theatre in Sub-Saharan Africa. Es erschien im Frühjahr 2010 und war immerhin ein so nachhaltiger Erfolg, dass gerade Gespräche mit dem Verlag über eine teilaktualisierte Neuauflage des Bändchens laufen. Wie damals sei auch für dieses Buch darauf hingewiesen, dass der Fokus auf der Theaterpraxis liegt. Das meint die eher konventionelle Theaterarbeit von Regisseuren, die ausgehend von einem Text arbeiten oder sich im Laufe ihrer Arbeit eine Struktur oder ein Textgerüst gemeinsam mit ihrem Kreativteam erarbeiten.
So werden in diesem Buch weder reine Theaterautoren, noch Choreographen oder Performance-Künstler behandelt. Auch versteht sich dieses Buch weder als Enzyklopädie, noch erhebt es irgendeinen Anspruch darauf in seiner Auswahl repräsentativ zu sein. Im Gegenteil: Es ist Resultat einer ganz subjektiv geprägten Recherche- und Kuratorentätigkeit, die ich bereits seit einigen Jahren für meinen Arbeitgeber, das Theater an der Ruhr in Mülheim an der Ruhr, ausüben darf. Eine Tätigkeit, die mich in den vergangen Jahren insbesondere zu einem regelmäßigen Gast der großen arabischen und afrikanischen Festivals hat werden lassen, so dass die Wahl der Künstler zumindest nicht nur auf den Eindrücken einzelner Aufführungen beruht, sondern aus einer überwiegend jahrelangen Beobachtung ihrer Arbeit resultiert.
An dieser Stelle gilt es zu danken: natürlich an allererster Stelle der Kulturstiftung des Bundes und dem Internationalen Theaterinstitut (ITI/UNESCO), Sektion Deutschland, Berlin, die mit substanzieller finanzieller Unterstützung das Erscheinen dieses Buches möglich gemacht haben – und zwar in sage und schreibe vier Sprachen! Denn der Band erscheint parallel in einer deutsch/englischen Ausgabe im Verlag Theater der Zeit und in einer arabisch/französischen Ausgabe bei Sud Editions in Tunis. Ich danke den Verlagsleitern, Herrn Harald Müller und Paul Tischler in Berlin, und Mohammed Masmoudi in Tunis, der mit besonders viel persönlichem Engagement und Vertrauen in meine Arbeit das Wagnis der tunesischen Edition angegangen ist. Dank gilt zugleich auch Mohammed Moumen, der die französische und arabische Redaktion des Buches übernommen hat und Penny Black, London, für das Korrektorat der englischen Fassung. Last but not least gilt mein Dank der künstlerischen Leitung des Theater an der Ruhr, die mir alle Unterstützung für dieses Projekt angedeihen ließ: Helmut Schäfer, Sven Schlötcke und Dr. Roberto Ciulli, der in einer Zeit, als das Wort Interkultur noch unbekannt war, die Internationale Arbeit des Theater an der Ruhr entwickelte und zu einer Wirkung entfaltete, die bis heute noch weit über den deutschen Sprachraum hinausreicht.
Rolf C. Hemke, Herausgeber
Köln und Mülheim an der Ruhr im April 2013