Die klanglichen Extreme des MaerzMusik-Festivals
von Alex Ross
Erschienen in: CHANGES – Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit (10/2021)
Der österreichische Komponist Peter Ablinger sitzt auf einem Stuhl auf der Bühne einer leeren Konzerthalle und beginnt, die Zeit anzusagen. „Beim dritten Schlag wird es genau zwanzig Uhr sein“, sagt er und hält sich damit an die heilige Formel der BBC-Zeitansage. Dabei begleitet er sich selbst mit einem einfachen c-Moll-Akkord auf dem Keyboard. Nachdem er zwanzig Minuten so weitergemacht hat, überlässt Ablinger die Bühne der jungen deutschen Schauspielerin Salome Manyak, die ihre Ansagen zu einem atmosphärisch piepsenden Soundtrack des finnischen Experimentalmusikers Olli Aarni macht. Dieses Ritual dauert fast zweiundsiebzig Stunden, wobei ein ständig wechselndes Team aus Künstler*innen, Kurator*innen, Komponist*innen, Sänger*innen und DJs die Zeit auf Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch, Farsi, Oromo, Mandarin sowie zwölf weiteren Sprachen ansagen. Eine wechselnde Auswahl aufgezeichneter, zumeist elektronischer Tracks sorgt dabei für die Begleitung. Die meisten der Rezitator*innen bewahren ein sprödes, kühles Auftreten, obgleich ihre Websites etwas Stürmischeres erwarten lassen. Der schwedische Tänzer und Kostümbildner Björn Ivan Ekemark zum Beispiel lässt in keinster Weise erahnen, dass er auch unter dem Namen Ivanka Tramp auftritt und eine „klebrige und viszerale Kuchen-Sitz-Performance-Gruppe“ namens analkollaps leitet.
Wir sind natürlich in Berlin, und zwar beim Finale von MaerzMusik, einem jährlichen Bacchanal klanglicher Extreme unter der Schirmherrschaft...