1.2. Tassos Studierstube, oder: Brei und Wortgerümpel
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Bevor dieser Höllengang fortgesetzt wird – ausführlich wird das erst im zweiten Kapitel geschehen – lohnt die Auseinandersetzung mit einem weiteren Text Galileis, da dieser sich zu den beiden Dante-Vorlesungen in vielerlei Hinsicht geradewegs spiegelverkehrt verhält. Die Vermessung der Hölle ist nicht Galileis einziger Ausflug in die Gefilde der Poesie geblieben. Bekannt ist beispielsweise seine lebenslange Bewunderung für Ariost als den »Vollender der Renaissance«10 in der Dichtung. Demgegenüber steht Galileis radikale Ablehnung Torquato Tassos, die er um das Jahr 1600 in einer frühen Form der Literaturkritik formuliert: den »Considerazioni al Tasso« (»Marginalien zu Tasso«), die sich als ausführliche Liste von Randbemerkungen zu einzelnen Stanzen aus Tassos Epos »Gerusalemme Liberata« (»Das befreite Jerusalem«) zu lesen geben.11 1575 hatte Tasso dieses Werk fertiggestellt; in die Folgezeit fallen dann die Jahre, für die Tassos Zustand von Zeitgenossen und Literaturhistorikern immer wieder als Wahnsinn, unbeständiges Irren, Verfolgungswahn und geistige Zerrüttung beschrieben wird: seine Flucht aus Ferrara 1577 sowie seine siebenjährige Inhaftierung im Irrenhaus von St. Anna 1579 bis 1586. 1580 werden zum ersten Mal Teile des »Befreiten Jerusalem« veröffentlicht, das Tasso zurückgehalten hatte, 1581 wird es gegen Tassos Willen (und ohne dass er am Gewinn beteiligt ist) in Parma ediert.
Wahnsinn in Gestalt von...