Theater der Zeit

Magazin

Wenn Mutti früh nicht zur Arbeit geht

Das Kindertheaterfestival „Industriegebietskinder“ in Halle (Saale) fragt, was den Menschen an Zukunft bleibt, wenn die Industrie geht

von Steffen Georgi

Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater

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Will man zum Hallenser Gasometer gelangen, ist eine Möglichkeit, von der Straßenbahnhaltestelle Saline aus dort hinzuschlendern. Der Weg ist nicht weit und er lohnt sich, denn er erzählt sehr viel. Am Saaleufer entlang führt er vorbei an einem klotzigen Zweckbau, der neben einem Möbeldiscounter auch ein Existenzgründerinstitut beherbergt. Kurz danach geht es unter einer Brücke hindurch, an der das hübsche Graffito „Utopien vermeiden!“ prangt und über die dumpf der Verkehr der B 80 dröhnt. Lässt man dann noch ein paar malerisch verrottende Industriebauten rechts liegen, eröffnet sich schließlich nicht nur der Blick auf das Ziel, den Gasometer, sondern auch auf einen Werksschornstein, der zwar schon lange nicht mehr raucht, dafür aber die Gegend mit großem VW-Logo überstrahlt.

Vergangenheit und Gegenwartsbehauptung, die Ruinen einer Stadt- und Industriegeschichte und der Dornröschenschlaf der Utopie: Es ist ein geradezu programmatisches Ambiente für das mit „Industriegebietskinder“ überschriebene Theaterfestival, das vom 29. Mai bis zum 7. Juni 2015 als Kooperation des Thalia Theater Halle mit dem Kinder- und Jugendtheater Bochum und dem Theater Strahl Berlin stattfand.

Das ökonomische Sterben einer Region und die Folgen für die Menschen, die dort leben, sind die thematische Klammer. Drei Stücke, Profis und Amateure auf der Bühne vereinend, bilden die Schwerpunkte: „Neu statt sterben“, „Ach je die Welt“, „The Working Dead“ heißen sie. Sie erzählen von Halle-Neustadt, Dortmund-Hörde und Berlin-Schöneweide und fragen, was den Menschen dort an Gegenwart, Zukunft und auch Identität bleibt seit dem Niedergang der einst diese Orte prägenden Chemie-, Stahl- und Elektroindustrie.

Und während der Titel des Hallenser Beitrags, „Neu statt sterben“ (Text und Regie Katharina Brankatschk), auf diese Frage noch mit trotziger Selbstbehauptung antwortet, tappen im Berliner Stück, „The Working Dead“ (Text Jörg Menke-Peitzmeyer, Regie Jörg Steinberg), schon die Zombies der Arbeiterklasse durch die Industriekatakomben. Dass dieser Untotenchor auch mal den Trauermarsch „Unsterbliche Opfer“ raunt, der einst bei Gedenkfeiern für Liebknecht/Luxemburg bis hin zu Ulbricht/Breschnew zu hören war, ist dabei nicht nur ein guter Gag, sondern auch ein kluger Querverweis auf jene alten Träume und Utopien, die nicht zuletzt realexistierenden Sozialismus à la Schöneweide und Neustadt hervorbrachten.

Wie nun diese längst ausgeträumten Träume der Alten immer noch die der Jungen überschatten können – auch das zeigt dieses Festival. Es offenbart Zukunft als Schattenspiel am Ende der Sackgasse namens Desillusionierung. Wenn in „The Working Dead“ der jugendliche Finn davon spricht, einmal Sprengmeister zu werden, um all die Menetekel von Industrieruinen samt Zombies einfach zu pulverisieren, formuliert sich darin vor allem auch eins: die Sehnsucht, sich aus dieser Sackgasse zu befreien, in der die Alten wie die Jungen feststecken.

Dass die Vergangenheit im jeweiligen Industriemoloch alles andere als traumhaft war, ignoriert dieses Festival gottlob keinen Moment. Auch dann nicht, wenn wie in „Neu statt sterben“ der Jugendchor der Oper Halle ranzige Ostschmonzetten wie „Bau auf“ oder „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ intoniert. Der treffend persiflierende Ton, mit dem das geschieht, macht die Gesangseinlagen zu Höhepunkten dieser Inszenierung, die Problemviertelprobleme und Stadthistorie launig zwischen Revue und Dokumentartheater auspendelt und in der die Heldin, eine Journalistin („Hannah, das Halbwissen“ genannt), auf alles trifft, was wohl nötig ist – inklusive eines sprechenden Plattenbaus – will man von diesem Ort ein halbwegs Halbwissen aufrundendes Bild der Wirklichkeit zeichnen.

Was „The Working Dead“ mit einem intimen Dreigenerationengruppenporträt versucht, geht „Neu statt sterben“ als großes Panorama an. Zwei fraglos sehenswerte Inszenierungen, die indes ein Manko teilen: Sie verharren, trotz singender Zombies und sinnierender Platte, in einer Imaginationsarmut, die sich einem Realismusbegriff verdankt, der Wirklichkeit vorrangig protokollierend verdichtet, bestenfalls ausschmückend illustriert.

Dass es auch anders geht, zeigt „Ach je die Welt“ (Text Anne Lepper, Regie Andreas Gruhn). Ein Stück, das nicht ins Sujet hineinkriecht, sondern hinauffliegt über eine Motivlandschaft aus Pop, Kino und Krupp-Stahlwerk. Dabei erzählt es ebenso von der dumpfen Leere geistiger und emotionaler Resignation wie vom Wechsel der geschlechtlichen Identität aus der puren Sehnsucht heraus, diese Leere mit so etwas wie Liebe zu füllen. Das macht „Ach je die Welt“ zwar zum etwas strapazierten Querverweise-Mischmasch aus Melodram, Groteske und Sozialtravestie, aber zugleich auch zu einem motivisch wunderbar überbordenden, atmosphärisch reizvollen Dornröschenschlaf-Albtraumstück – freilich ohne den Erweckungskuss durch den Happy-End-Prinzen der Utopie. Aber an derlei glauben Industriegebietskinder eh nicht mehr. //

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