Grammatik der Leerstellen
von Dirk Baecker
Erschienen in: Recherchen 99: Wozu Theater? (01/2013)
Seit dem Tod von Heiner Müller gibt es kaum noch Gründe für Theoretiker, ins Theater zu gehen. Sie gehen ins Kino oder, wie Alexander Kluge, in die Oper. Das muss verwundern, wenn man bedenkt, dass Brechts Verfremdung und Artauds Grausamkeit zu den großen und radikalen Einsprüchen gegen die Gesellschaft gehören. Ist die Verfremdung mittlerweile so sehr zum Element noch der trivialsten Selbststilisierung geworden, dass es keinen Grund mehr gibt, sie sich auf der Bühne anzuschauen? Ist der ‚Tanz der menschlichen Anatomie‘, den Artaud beschworen hat,1 mittlerweile so sehr Alltag im Guten und Schlechten, auf den Rollbahnen der Skateboards wie in den Labors der Gentechnik, dass der Umgang des Theaters mit dem menschlichen Körper niemanden mehr ins Theater locken kann? Haben wir es mit einer Kunstgattung zu tun, die sich selbst so sehr überholt hat, dass ihr weder die Erinnerung an die den Kreislauf der Gewalt bannenden Tragödien der Griechen noch die Erinnerung an das Theater als moralische Anstalt seligen Weimarer Angedenkens noch auf die Beine helfen kann?
Aber was beschäftigt dann die vielen freien Theater, die zwischen Performance, Kleinkunst, Happening, Multimedia, Kult und Selbsterfahrung immer wieder neu das Theater beleben und immer wieder neu nicht nur Schauspieler und Regisseure,...