Kippmomente
Über Aktivismus, Theater und Politik
Erschienen in: Recherchen 156: Ästhetiken der Intervention – Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters (04/2022)
Assoziationen: Wissenschaft

Als im Sommer 2020 die Black Lives Matter-Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte und sich tausende Menschen in den USA sowie in vielen europäischen Ländern auf die Straße begaben, um gemeinsam gegen institutionellen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren, gingen unter anderem Bilder von gestürzten Denkmälern um die Welt. Eine ganze Reihe kolonialistischer Statuen – seien diese von Führern der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg wie Robert Lee oder Jefferson Davies, von in den Sklavenhandel verstrickten Staatsoberhäuptern wie dem belgischen König Leopold II. oder kolonialen ›Entdeckern‹ wie Christoph Kolumbus – wurde von Demonstrierenden zu Fall gebracht. An der politischen Debatte, welche Art von Denkmal man anstelle der gestürzten oder geköpften Statuen wieder aufstellen könnte, beteiligte sich auch der britische Street-Art-Künstler Banksy mit einem Entwurf für seine Heimatstadt Bristol, wo die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston im Juni 2020 spektakulär von ihrem Sockel ins Hafenbecken gestürzt worden war (Abb. 1). Banksys gesprühter und anschließend in den sozialen Medien verbreiteter Entwurf (Abb. 2) zeigt die sich in einem Winkel von 30 Grad neigende, im Kippen befindliche Skulptur, die von vier an einem Seil ziehenden Demonstrant:innen zu Fall gebracht wird.1 Er dokumentiert damit ein Bild des Protests, das eine Kraft und Dynamik repräsentiert, auf die aktivistischer Protest generell zielt: darauf nämlich, ein Kippmoment zu erzeugen, das sowohl eine politische Stimmung als auch normative Ordnungen zum Umsturz bringt, in diesem Fall die Tradition des Gedenkens an weiße Männer der Kolonialzeit, die sich rassistischer Taten schuldig gemacht haben. Das Kippen der Statue steht damit symbolisch auch für das Kippen von Geschichte, für den Umsturz traditioneller Normen und Gewissheiten.
Kippmomente, so möchte ich im Folgenden vorschlagen, sind Teil aktivistischer und interventionistischer Kunstpraxis. Kippmomente sind dynamisch, politisch polarisierend, und sie sind kontingent. Die Kontingenz betrifft dabei nicht allein den Zeitpunkt des Kippens, d. h. den Moment im temporalen Sinne, in dem die Kräfte eine Ordnung zum Einsturz bringen, sondern auch die Verlagerung des Schwerpunkts, die Richtung und Dynamik des Kippens und damit das Moment im physikalischen Sinne. Ausgehend von Banksys ikonischem Kippmoment, das hier zum Einstieg meiner Überlegungen dienen kann, widmet sich der vorliegende Beitrag Interventionen aktivistischen Theaters, in denen nicht allein die politische Stimmung, sondern vor allem auch die Rezeption der Situation selbst kippt. Meine Beispiele werfen mithin auch die Frage auf, wann Interventionen als Theater wahrgenommen werden und inwiefern dabei das Kippen von Theater in Politik oder umgekehrt von Politik in (bloßes) Theater eine besondere Dynamik ins Rollen bringt, die mit realen Risiken und Konsequenzen für die Beteiligten einhergeht.
Der Text gliedert sich in vier Abschnitte: Eingangs gehe ich von drei allgemeinen Beobachtungen zum Aktivismus im politischen Gegenwartstheater und dem damit verbundenen institutionellen Wandel aus. Anschließend wende ich mich der Begriffsgeschichte des Aktivismus und seiner Beziehung zum Theater zu. Drittens werde ich mit Bezug auf eine Aktion des Zentrums für Politische Schönheit sowie auf eine Arbeit Milo Raus exemplarisch darlegen, was ich unter Kippmomenten von Interventionen aktivistischen Theaters verstehe. Und viertens komme ich zum Abschluss auf einen Skandal aus dem Feld der Politik zu sprechen, bei dem ebenfalls das durch eine theatrale Intervention ausgelöste Kippmoment die zentrale Rolle spielt und einen Politiker zu Fall bringt.
I.Drei Beobachtungen zum Aktivismus im politischen Gegenwartstheater
»Der Ruf nach Intervention«2 geht häufig einher mit einer aktivistischen Haltung von Künstler:innen und Theaterschaffenden, denen es nicht mehr ausreicht, die Bühne lediglich als Spiegel der Gesellschaft oder als Ort ästhetischer Kritik und Reflexion aufzufassen, sondern die es vielmehr darauf anlegen, mit künstlerischen und theatralen Mitteln politisch und gesellschaftlich tatsächlich etwas zu bewegen und mit der Adressierung eines Publikums Verbündete für ihren politischen Kampf zu gewinnen. Interventionen, d. h. Aktionen und Arbeiten, die auf eine Unterbrechung und Transformation soziopolitischer Räume, Situationen und Öffentlichkeiten zielen, bezeichnen dabei nur eine von mehreren Strategien, aktivistische Kunst respektive aktivistisches Theater zu machen. Bevor ich exemplarisch auf konkrete theatrale Interventionen zu sprechen komme, möchte ich daher drei allgemeinere Beobachtungen an den Anfang meiner Überlegungen stellen, die versuchen, den aktuellen Wandel des politischen Gegenwartstheaters grob zu skizzieren und die Bedeutung jener aktivistischen Haltung für diesen Wandel hervorzuheben.
Erstens: Aktivismus hat im Gegenwartstheater Konjunktur. Während politische Stoffe im Theater mehr oder weniger dauerhaft aktuell sind, ist seit circa zehn Jahren im europäischen Theater eine erneute Hinwendung zu direktem politischem Engagement zu beobachten. Das betrifft nicht nur die freie Szene, sondern auch die Leitung großer Häuser: 2013 übernahm Shermin Langhoff die Intendanz am Maxim Gorki Theater in Berlin, das seitdem gezielt Schauspieler:innen, Autor:innen und Regisseur:innen mit Migrationshintergrund einstellt, mit aktivistischen Künstlergruppen wie dem Zentrum für Politische Schönheit kooperiert und den Spielplan nach explizit linken und postmigrantischen Themen ausrichtet. 2018 trat Milo Rau als neuer Intendant am NT Gent mit einem Manifest an, das unter anderem vorschreibt, jedes Jahr ein Theaterprojekt in einem Krisengebiet zu realisieren und mit dem Satz beginnt: »Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.«3 Auch auf der Bühne selbst werden politische Inhalte seit einigen Jahren auffallend häufig mit direktem politischem Engagement verknüpft. Während Hans-Thies Lehmann 2002 in einem viel zitierten Aufsatz noch konstatierte: »Das Politische kann im postdramatischen Theater nur indirekt erscheinen, in einem schrägen Winkel, modo obliquo«4, scheint heute eine neue Generation von Theaterschaffenden genau jener indirekten Politizität der Dekonstruktion und Unterbrechung eine klare Absage zu erteilen. Sie setzt dagegen den Anspruch, Theater mit einem Commitment für eine klar definierte und nicht selten identitätspolitisch aufgeladene Agenda zu verbinden. Die Produktion von Theater mit dieser Haltung ist es, die ich unter dem Begriff des aktivistischen Theaters fassen möchte.
Zweitens: Mit aktivistischem Theater geht heute oftmals eine neue Art der Adressierung des Publikums einher, die sich deutlicher als in der Tradition des bürgerlichen Stadttheaters und analog zur Filter Bubble in den sozialen Netzwerken auf eine Gruppe von Gleichgesinnten bezieht. Die theatrical public sphere5 – um einen Begriff von Christopher Balme aufzugreifen – impliziert heute eine ausgeprägte Diversifizierung, die gleichsam Gegenöffentlichkeiten im Sinne von Nancy Fraser beansprucht. Institutionalisierte Strukturen, Normen und Kategorien werden durch Akteur:innen solcher counterpublics zur Disposition gestellt und subvertiert mit dem Ziel »to formulate oppositional interpretations of their identities, interests, and needs«6. Postmigrantisches Theater, Disability Arts, Queer Performance, dekoloniales Theater und nicht zuletzt Interventionen im öffentlichen Raum zielen auf ein digital bereits vernetztes Publikum, das über einzelne Aufführungen hinaus als Peergroup und Komplize fungiert und sich gegen hegemoniale Ordnungen und Politiken stellt,7 sich über aktivistische Praktiken, zugleich aber auch als Community mit den je eigenen »identities, interests und needs« verständigt und definiert. Die Diversifizierung von Öffentlichkeiten, die sich hier am Theater beobachten lässt, steht damit zugleich in einem größeren historischen Zusammenhang, den der Soziologe Andreas Reckwitz in Die Gesellschaft der Singularitäten als Entwicklung von einer Politik des Allgemeinen zu einer Politik des Besonderen beschrieben hat.8 Die Diversität und Partikularität kultureller Gemeinschaften und Publika rückt in den Vordergrund, der universelle Anspruch – etwa von Theater als Vermittlung eines Bildungskanons – rückt in den Hintergrund.
Drittens: Aktivistisches Theater kann ganz unterschiedliche Ästhetiken und Arbeitsweisen ausbilden, von denen einige als Interventionen bezeichnet werden können und andere nicht. Wenn am Schauspiel Köln ein Wochenende lang das Tribunal NSU-Komplex auflösen! eigene Ermittlungen über die Anschläge der neonazistischen Terrorvereinigung NSU anstellt, so handelt es sich um eine aktivistische Veranstaltung und um eine Intervention innerhalb der Institution Stadttheater. Wenn die britische Performerin Jess Thom alias Touretteshero in ihrer Beckett-Interpretation Not I ihre Ticks als das kreative Potenzial ihrer Performance bezeichnet und sich im Rahmen einer »relaxed performance«9 explizit an ein Publikum der Disability Community richtet, so kann dies als aktivistisches Theater verstanden werden, aber kaum als Intervention gelten. Und wenn die Regisseurin Anta Helena Recke Sepp Bierbichlers Mittelreich als detailgetreues Reenactment der ein Jahr älteren Musiktheater-Inszenierung von Anna Sophie Mahler auf die Bühne bringt,10 das sich von dieser lediglich durch den Cast unterscheidet, bei dem nun alle Rollen mit Schauspieler:innen of Colour besetzt sind, dann kann hier weniger von einer interventionistischen als von einer institutionskritischen, in jedem Fall aber auch von einer Theaterarbeit mit aktivistischer Haltung gesprochen werden.
Diese drei Beobachtungen haben weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch möchte ich den Begriff »aktivistisches Theater« als Genre definieren. Allerdings stelle ich fest, dass gegenwärtig im Theater eine Vielzahl einflussreicher Entwicklungen zu beobachten ist, die mit einer Diversifizierung des Politischen und einer aktivistischen Haltung vieler Theaterschaffenden einhergeht. Um diese neuere Entwicklung zu verstehen, wende ich mich im Folgenden zunächst der Begriffsgeschichte des Aktivismus und seiner Beziehung zum Theater zu.
II. Zur Geschichte aktivistischen Theaters
Zunächst taucht der Begriff Aktivismus im politischen Kontext nicht als linker oder identitätspolitischer Begriff, sondern im Zusammenhang mit einer rechtsnationalistischen Bewegung zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf. 1915 veröffentlicht der schwedische Publizist und bekennende Antisemit Adrian Molin anonym das sogenannte Aktivistenbuch,11 das gegen die politische Neutralität und für den Kampf Schwedens an der Seite von Deutschland im Ersten Weltkrieg wirbt. Auch während der 1920er und 1930er Jahre bleibt der Begriff von rechts besetzt. So schlägt der spätere Reichswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbunds Walter Schemm 1929 vor, eine »aktivistische Kerntruppe« zu bilden, die sich für die Ideologie der Nazis in den Schulen einsetzt.12
Das linke Pendant zum Aktivismus ist in dieser Zeit der leninistisch geprägte Begriff der Agitation, der schnell in die Künste gelangt.13 Im deutschsprachigen Theater ist es bekanntlich Erwin Piscator, der sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs für Theaterformen des Agitprop zu interessieren beginnt. Nachdem er in einer Fronttheatertruppe bereits politisiert worden ist, wendet er sich einem dezidiert agitatorischen – heute würde man sagen – aktivistischen Theater zu. Ich zitiere Piscator:
Lange Zeit, bis in das Jahr 1919 hinein, waren Kunst und Politik zwei Wege, die nebeneinander herliefen. Im Gefühl war zwar ein Umschwung erfolgt. Kunst als Selbstzweck war nicht mehr imstande, mich zu befriedigen. Andererseits sah ich immer noch nicht den Schnittpunkt, an dem ein neuer Begriff der Kunst entstehen mußte, aktiv, kämpferisch, politisch. […] Diese Erkenntnis brachte für mich die Revolution.14
Politische Neutralität in der Kunst war für Piscator nach der gescheiterten Revolution von 1919 nicht mehr denkbar, an der Volksbühne und später der Piscator-Bühne inszenierte er mit Agitprop und neuesten Projektionstechniken ein multimediales Theater für den Klassenkampf. Aus dem Theater wurde auf diese Weise seiner Ansicht nach »ein einziger großer Versammlungssaal, ein einziges großes Schlachtfeld, eine einzige große Demonstration.«15 Von der Revue Roter Rummel ist überliefert, dass sich direkt im Anschluss an die Aufführungen spontan neue Agitpropgruppen bildeten, die selbst die Mittel des Theaters nutzen wollten, um agitatorische Politik für eine kommende Revolution zu machen.16 Matthias Warstat hat darauf hingewiesen, dass das Agitproptheater vor allem auf eine unmittelbare Mobilisierung des Publikums zielte:
Im Agitproptheater werden politische Handlungsoptionen nicht repräsentiert, sondern ad hoc ermöglicht. Noch in der Aufführung selbst gilt: Der Anfang ist gemacht – das Handeln kann sofort beginnen. Agitproprevuen fordern vom Publikum Leistungen, die umgehend erbracht werden können: einen Mitgliedsantrag unterschreiben, eine Spende entrichten, eine Zeitung abonnieren. Teil der Bewegung werden.17
Dass der Begriff Aktivismus heute überwiegend in linken und identitätspolitischen Kontexten Verwendung findet, hat nun aber nichts mit dem Agitprop zu tun, dessen revolutionäre Ziele stets auf eine Politik des Allgemeinen ausgerichtet blieben. Das Verständnis eines politischen Aktivismus wandelt sich vielmehr mit der Geschichte von Protestbewegungen in den USA wie dem Civil Rights Movement in den 1960er Jahren, der Entstehung von aktivistischen Umweltorganisationen wie Greenpeace in den 1970er Jahren oder der Act-Up-Bewegung von AIDS-Aktivist:innen in den 1980er Jahren. Diese Protestbewegungen prägten den Begriff Activism neu, indem sie weniger für eine politische Ideologie als vielmehr für bestimmte Rechte und gegen die Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen eintraten und dies durch publikumswirksame Aktionen öffentlich machten. Zur gleichen Zeit, in der auch Augusto Boal in Lateinamerika erstmals seine Methoden des »Theaters der Unterdrückten«18 entwickelt, nutzen bereits in den USA afro-amerikanische Aktivist:innen verschiedene performative Strategien der sogenannten »Direct Action«, um auf ihre Diskriminierung im öffentlichen Raum aufmerksam zu machen.19 In seinem Buch Tactical Performance: Serious Play and Social Movements weist der amerikanische Theaterwissenschaftler Larry Bogad darauf hin, dass diese Strategien ein theatrales Als-ob involvieren, das in den Aktionen und Interventionen zu politisch riskanten und polarisierenden Situationen führt. Das Buch beginnt mit der Beschreibung eines der Nashville-Sit-Ins, die es lohnt zu zitieren:
Nashville 1960: A white’s only lunch counter in a department store. A group of African-Americans, dressed formally, sits at the counter. They are quiet, polite, and when refused service, they sit calmly, read books, and wait patiently. They behave as if the change they want to see in the world has already been enacted, as if they have equal rights. A racist mob forms behind the sitting group, and begins to taunt, jeer, and finally to attack them. The white police arrive… and arrest the victims of the violence, not the mob.20
Bogads Beschreibung legt nahe, über die politische Dimension eines Handeln-als-ob nachzudenken und danach zu fragen, inwiefern Emanzipation, so behauptet es der französische Philosoph Jacques Rancière, immer die Dimension eines Als-ob benötigt, um die angestrebte Gleichheit in actu vorwegzunehmen.21 Emanzipation, so Rancière, besteht nämlich gerade nicht in der Forderung nach etwas Unerfülltem, etwa nach Gleichheit oder Gerechtigkeit, sondern vielmehr im Als-ob der Annahme bereits durchgesetzter Gleichheit, die sich in der Aktion, d. h. in der emanzipatorischen Handlung (in actu) selbst offenbart. Die Bürgerrechtler:innen handeln in diesem Fall emanzipatorisch, weil sie gerade nicht im üblichen Sinne demonstrieren, etwa mit Sprechchören oder indem sie den Lunch Counter stürmen, vielmehr liegt das Emanzipatorische bereits im Modus des Handeln-als-ob22 – »as if the change they want to see in the world has already been enacted, as if they have equal rights. « (Zitat s.o., Herv. von mir).
Matthias Warstat betont das Handeln-als-ob wiederum als eine von drei Dimensionen sozialer Theatralität, d. h. als eine Möglichkeit, wie Gesellschaft qua Theatralität entsteht und dargestellt wird23. Wenn im Folgenden von politischen Kippmomenten qua theatralem Handeln die Rede ist, so zielt dieses Handeln immer auch auf einen gesellschaftlichen Wandel, der durch den vom theatralen Handeln ausgelösten Kipppunkt vorangetrieben werden soll, dessen Eintreten aber nie ganz voraussehbar ist und der auch paradoxale Effekte hervorrufen kann. Neben der emanzipatorischen Dimension ist im hier erörterten Kontext daher ebenso entscheidend, den Fokus auf den Umschwung der geschilderten Situation selbst zu lenken, der auch für heutige interventionistische Kunst-Aktionen häufig noch kennzeichnend ist: Die Polizei verhaftet nicht selten die Falschen, die Situation dreht sich um. Natürlich wissen die Aktivist:innen, dass sie ein Risiko eingehen, indem sie in einem rein ›weißen‹ Kaufhaus der Südstaaten demonstrativ sitzen bleiben, um mit ihrem Verhalten und ihrer Kleidung Gleichheit zu beanspruchen. Dennoch ist erst die Festnahme durch die Polizei das Moment, mit dem das passive Theater der Aktivist:innen in eine evident politische Situation kippt, die reale Konsequenzen für die Beteiligten nach sich zieht. Es ist auch jenes Kippmoment, das mit der Zirkulation von Fotografien der Aktion eine maximale Öffentlichkeitswirkung erzielt und zu solidarischem Protest von Verbündeten führt.24
III.Kippmomente aktivistischen Theaters
Ein Kippmoment bezeichnet in der Mechanik das Drehmoment, das ausreicht, um ein Objekt umzukippen. Eine Wippe wippt, ein Kran fällt um, eine Statue kippt. In der Ökologie und Klimaforschung verwendet man den Begriff wiederum in Bezug auf Veränderungen, nach denen eine bestimmte Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist und ein funktionierendes System zum Kippen gebracht wird: das Umkippen eines Sees, das Versiegen des Golfstroms, das Schmelzen der Gletscher. Ein Punkt wird überschritten und es gibt kein Zurück mehr. Als Kippmoment aktivistischen Theaters möchte ich entsprechend ein dramaturgisches Moment bezeichnen, in dem das theatrale Spiel so weit gedreht wird, dass die Stimmung des Publikums oder sogar darüber hinaus die öffentliche Rezeption des Theaters in einer Weise kippt, dass dies zu ernsten Konsequenzen für die Beteiligten führt und sich gegebenenfalls gegen die Spielenden selbst wendet. Dabei führt ein Handeln-als-ob die Akteur:innen des Theaters in jene ernste und folgenreiche Situation, die für sie nicht mehr vollständig zu kontrollieren ist. Schlaglichtartig widme ich mich im Folgenden dreier Kippmomente theatraler Interventionen der Gegenwart, die auf diese Kontingenz und auf die realen Konsequenzen solcher Situationen verweisen. Ähnlich wie bei den Bürgerrechtler:innen wendet sich das Blatt auch in diesen drei Fällen gegen die theatral Handelnden, sie sind es, die sich plötzlich rechtfertigen müssen oder gegen die Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln.
Erstes Kippmoment: Björn Höcke und das Zentrum für Politische Schönheit
Am 21. November 2017 wurde vom Zentrum für Politische Schönheit ein Video mit dem Titel »Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus!« auf Youtube veröffentlicht.25 Laut Video hatten die Aktionskünstler:innen ein Nachbargrundstück von Höckes Haus in Thüringen angemietet, um dort die Stelen des Berliner Mahnmals nachzubauen (Abb. 3) und den rechtsradikalen Politiker der AfD rund um die Uhr zu überwachen. Die Aktion reagierte damit auf eine Rede Höckes, in der er das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas als »Denkmal der Schande inmitten unserer Hauptstadt« bezeichnet hatte. Das Video ist schon allein ästhetisch bemerkenswert: Musikunterlegung, Splitscreen und Schnitte erinnern an zeitgenössische Werbevideos, ein Aufruf zur Komplizenschaft und zu Spenden auf der Website deine-stele.de erinnert an die von Warstat beschriebenen Agitprop-Strategien, die hier digital umgesetzt werden und sich gegen eine Einzelperson als politischen Gegner richten. Gezeigt werden außerdem Bilder von Höckes Rede, Luftbilder seines Hauses in Thüringen, von den Arbeiten am Nachbau des Mahnmals auf dem Nachbargrundstück und schließlich Szenen einer angeblichen Überwachung durch den neu gegründeten »Zivilgesellschaftlichen Verfassungsschutz Thüringen«, dem man sich jederzeit anschließen dürfe. Zu pathetischer Musik zeigt das Video an dieser Stelle klischeehafte Szenen zweier vermeintlicher Hobby-Detektive im Trenchcoat (Abb. 4), die mit Ferngläsern und Abhörgerät scheinbar Höckes Haus ausspionieren: »Sind Sie Student und haben Sie Zeit für eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung, sind Sie erprobter Hacker oder Toningenieur oder Detektiv?«, sagt eine männliche Stimme aus dem Off, »Wir brauchen Sie!«. Die Überwachung würde erst beendet, wenn Höcke vor dem Thüringer Mahnmal auf die Knie sinke und um Vergebung bitte. An der offensiven Theatralik und Inszeniertheit des Videos bestehen kaum Zweifel. Und doch, oder vielleicht gerade deswegen, vermochte dieses Video die Situation zum Kippen zu bringen und Ermittlungen der Justiz und des Verfassungsschutzes gegen die Künstler:innen in Gang zu setzen. In Bezug auf eine ältere Aktion des ›Zentrums‹ äußert sich der Theaterwissenschaftler Peter Marx entsprechend:
Das sind sehr berechenbare Tabus in unserer Gesellschaft, und diese Tabus zu brechen, provoziert natürlich die entsprechende Reaktion, in der Regel durch Polizei und Staatsanwaltschaft. Kaltblütig dramaturgisch könnte man sagen: Genau darauf wird spekuliert.26
Abb. 3: Wohnhaus von Björn Höcke (AfD) mit Stelen des nachgebildeten Holocaust-Mahnmals, Zentrum für Politische Schönheit, 2017 © Patryk Witt / Zentrum für Politische Schönheit
Das politische und juristische Nachspiel begann unmittelbar nach der Bekanntmachung der Aktion. So forderte der Präsident des Thüringer Landtags, Christian Karius von der konservativen CDU, ein sofortiges Ende der Überwachung mit den Worten: »Die Gesamtaktion des ›Zentrums für Politische Schönheit‹ hat nichts mit Kunst zu tun. Das Abhören und Ausspionieren von Abgeordneten und ihren Familien gleicht den Zersetzungsmethoden der Staatssicherheit.«27 AfD-Landessprecher Stefan Möller konstatierte, »Höckes Familie ist monatelang nachgestellt, ausgespäht und fotografiert worden. […] Wie wollen Sie die Angst dieser Kinder wieder einfangen?“28 und Björn Höcke selbst sprach bereits zwei Tage später vom Zentrum für Politische Schönheit als »krimineller, ja terroristischer Vereinigung«29. Wie erst Anfang April 2019 bekannt wurde, nahm die Staatsanwaltschaft Gera bereits am 24. November 2017 ihre Ermittlungen gegen das Zentrum auf. Als Straftatbestand wurde in der Akte die »Bildung einer kriminellen Vereinigung« nach § 129 StGB angegeben.
Ans Tageslicht kamen die Ermittlungen rein zufällig durch die Anfrage eines Abgeordneten der Linken an das Thüringer Justizministerium, in der dieser sich erkundigte, gegen welche Gruppierungen derzeit nach § 129 StGB ermittelt würde. Die Auflistung des Ministeriums führte neben Hooligans, rechtsextremen Jugendlichen und Mitgliedern des Islamischen Staates auch eine »Gruppierung von Aktionskünstlern« auf. Dass die Ermittlungen zu diesem Zeitpunkt schon seit 16 Monaten liefen und immer noch nicht eingestellt worden waren, ist insofern bemerkenswert, als Höcke bereits ein Jahr zuvor, im März 2018, mit einer Klage gegen die Aktion vor dem Landgericht Köln scheiterte. Ich zitiere aus dem Urteil vom 14. März 2018:
Es spricht viel dafür, dass diese Darstellung eines Denkmals schon das geformte Ergebnis einer freien schöpferischen Gestaltung ist und aufgrund der klassischen künstlerischen Darstellungsform schon Kunst darstellt. […] Auch das zweite Kernelement – die »Überwachung« des Verfügungsklägers – ist als solche anzusehen. […] Unabhängig davon, ob die Überwachung tatsächlich stattgefunden hat oder ob sie nur vorgetäuscht war, wofür die in den Videos satirisch übertriebene Kostümierung der »Spione« spricht, entfaltet die diesbezügliche Ankündigung des Verfügungsbeklagten eine künstlerische Wirkung […].30
Abb. 4: Snapshot des Youtube-Videos »Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus!« © Zentrum für Politische Schönheit, 2017
Dass es sich bei der Überwachungsaktion in der Tat um ein Fake handelte, war in der Zwischenzeit in einem zweiten Video der Gruppe aufgedeckt worden. »Sollen wir sagen, wie es wirklich war?«, heißt es darin: »Billigstes Überwachungsspielzeug und zwei Trenchcoats von Penny«31. Die Polizei hatte zudem bei der Inspizierung des Grundstücks zu Protokoll gegeben, dass es sich beim Werkstoff des nachgebauten Denkmals keineswegs um Beton, sondern um Pappmaché handelte.32
Offenbar ging es dem Zentrum für Politische Schönheit um das gezielte Platzieren von Fake News als digitaler Guerilla-Taktik mit anschließender Auflösung.33 Es war alles nur Theater. Doch es war zu spät. Die Ermittlungen waren bereits eingeleitet. Die besondere Ironie der Geschichte besteht nun darin, dass mit Ermittlungen nach §129 StGB umfassende Befugnisse des Abhörens und der Überwachung einhergehen. Wäre dies eine antike Tragödie, könnte man von einer Peripetie, von einem Wendepunkt, sprechen. Die Situation kippt und dreht sich um. Nicht Höcke, sondern die Aktivist:innen werden abgehört und überwacht.
Auf die Veröffentlichung der Ermittlungen folgte eine Welle der Solidarisierung. Hunderte Künstler:innen und Intellektuelle forderten in einem offenen Brief ein Ende der Ermittlungen.34 Als dann auch noch die Wochenzeitung Die Zeit ans Licht brachte, dass der leitende Staatsanwalt in der Vergangenheit der AfD gespendet hatte, wurde das Verfahren am 8. April 2019 eingestellt und der Staatsanwalt versetzt.
Zweites Kippmoment: Milo Raus General Assembly und der Auftritt eines Genozidleugners
Das zweite Beispiel eines Kippmoments geht nicht von einem Video, sondern von einer Aufführungssituation im Theater aus. Allerdings konnte man auch das dreitägige General Assembly von Milo Rau (Abb. 5), das in der Berliner Schaubühne ebenfalls im November 2017 stattfand, live im Internet anschauen. Außerdem wurden die Sitzungen in fünf andere europäische Theatersäle live übertragen.
In Struktur, Ablauf und Bühnenbild ähnelte die Generalversammlung den von Rau inszenierten Theatertribunalen, so etwa dem Kongo Tribunal von 2015 oder den Zürcher Prozessen von 2013, als Rau am Theater am Neumarkt mit realen Zeug:innen und Rechtsexpert:innen einen fiktiven Prozess gegen die Weltwoche führte.35 Im General Assembly wurde zwar niemand angeklagt, aber mit einer »Charta für das 21. Jahrhundert« am Ende auch eine Art Urteil gesprochen, das in diesem Fall die Positionen der insgesamt sechzig Repräsentant:innen in einer utopischen Verfassung unter dem Motto »Demokratie für alle und alles« zusammenbringen sollte.36 Diese Zielsetzung erwies sich jedoch als kaum realisierbar, trafen im Weltparlament teilweise doch vollkommen konträre Positionen und partikulare Interessen aufeinander. Katholische Lebensrechtlerinnen und belgische Antinatalisten, vegane Tierrechtler und polnische Drag Queens, radikale Muslime und Anhänger:innen eines demokratischen Kurdistans debattierten fünf Sitzungen lang über ihre Anliegen. Was jedoch zunächst nach einem rein politischen Forum aussah, folgte bei genauerer Betrachtung einer festgelegten Dramaturgie, die auf einigen Grundprinzipien von Raus Arbeit basierte. In einem Interview, das ich mit Rau über seine Theatertribunale geführt habe, äußert sich der Schweizer Regisseur zu diesen Prinzipien:
Wenn man sich das Kongo Tribunal anschaut, haben wir fünf Sitzungen, fünf Akte. Das hat etwas mit der Gleichursprünglichkeit von Theater und Gerichtsprozess zu tun: beide sind in der Form des Antagonismus begründet. Das klassische Drama führt zwei Figuren zusammen, so wie Hegel das anhand von Kreon und Antigone beschreibt. Eine repräsentiert das traditionelle Recht, die andere das moderne Recht, doch es gibt keine Einigung, weil es nicht geht. […] Genauso ist es bei meinen Prozessen. Im Kongo Tribunal lasse ich ebenfalls das traditionelle Recht, also die Minenarbeiter, die Landarbeiter usw. gegen das moderne Recht der Weltbank und der UNO antreten. Ich schaue dann, was passiert.37
Abb. 5: General Assembly von Milo Rau, Schaubühne am Lehniner Platz © Daniel Seiffert
Raus politisches Konzept folgt somit einer spezifischen Form, einer antagonistischen Dramaturgie. Entsprechend richtet sich auch das Casting der Expert:innen bei Rau nicht allein nach der Verfügbarkeit oder dem Charisma der Performer:innen. Vielmehr geht es darum, über die Auswahl der Zeug:innen und Repräsentant:innen gezielt Figuren zu finden, die als Antagonist:innen wie Kreon und Antigone gegeneinander antreten: Wenn Rau beispielsweise den SVP-Kantonsrat Claudio Zanetti in Zürich die Weltwoche gegen muslimische Zeug:innen verteidigen lässt; oder wenn im General Assembly erst der Historiker Mihran Dahbag über den Völkermord an den Armeniern berichtet und direkt im Anschluss der deutschtürkische Netzaktivist Tugrul Selmanoğlu genau jenen Genozid leugnet, so stehen diese Antagonisten aus Raus Sicht symbolisch immer auch für die Protagonisten einer Tragödie, die sich mit grundsätzlichen Fragen des Rechts und der Politik auseinandersetzt.
Dass diese Dramaturgie riskant ist, zeigte ein Eklat am dritten Tag des General Assembly, bei dem Selmanoğlu vom Leiter der Sitzung, Diego Costa, nach Rücksprache mit dem Regisseur vom Parlament ausgeschlossen und des Saales verwiesen wurde. Er hatte zuvor auf die von Costa gestellte Frage, ob er den Völkermord leugne, nach einem Moment des Zögerns mit »Ja« geantwortet. Doch Rau hatte sich offenbar mit diesem dramaturgischen Kniff des Ausschlusses verkalkuliert: Obwohl kaum jemand im Saal auf der Seite von Selmanoğlu stand, regten sich im Plenum heftige Proteste ob dieses Vorgehens. Mehrere Abgeordnete äußerten, dass der Ausschluss eines Andersgesinnten dem demokratischen Anspruch der Versammlung fundamental widerspreche. Die Lebensrechtlerin Cornelia Kaminski reagierte spontan mit den Worten »Das ist jetzt aber eine Inszenierung!«. Besonders heftig äußerte sich der linke Netz-Aktivist Aral Balkan, der Rau vorwarf, aus der Veranstaltung eine Farce zu machen, schließlich hätte er die Veranstalter doch bereits vor Wochen darauf hingewiesen, dass Selmanoğlu den Völkermord an den Armeniern leugnen werde. Als daraufhin aus dem Publikum eine Stimme »It’s theatre! It’s theatre!« ruft, entgegnet Balkan entrüstet: »You know, for some of us this is not theatre. For some of us, this is something that impacts our lives. And we are not here to be your actors!«38
Das Kippmoment, das in dieser Szene evident wird, betrifft die Aufführungssituation selbst. Die Aktivisten im Saal verbünden sich plötzlich gegen den Regisseur und sein Theater, indem sie ihren eigenen politischen Anspruch geltend machen. Das Kippmoment betrifft aber auch die Wahrnehmung dieses Theaters: Was der französische Aktivist Balkan in diesem Moment erkennen muss, ist, dass Raus radikaldemokratisches Parlament eben nicht allein eine politische Veranstaltung darstellt, sondern zugleich, dramaturgisch betrachtet, lediglich Theater ist. Wenn die Szene tatsächlich von Seiten der Regie geplant war und sein Antagonist und politischer Gegner Selmanoğlu sich mit dem inszenierten Rausschmiss in eine Bühnenfigur verwandelt hat, macht dies dann nicht aus allen anderen Abgeordneten ebenfalls Figuren und Schauspieler:innen dieser Bühne? Genau gegen diese Ansicht wehrt sich Balkan mit den Worten: »We are not your actors!«
Gabriele Brandstetter hat das Umspringen theatraler Wahrnehmung einmal als Kippfigur beschrieben. Sie fasst die Kippfigur als ein Moment der Figuration:
In dieser Sicht formiert sich die Doppel-Bühne in einen performativen Raum, der durch Inversion nicht mehr klar in eine Innen-Außen-Konfiguration differenziert ist, sondern im De- und Refigurationsvorgang eine andere An-Sicht gewinnt. Diese andere Sicht entspricht einem anderen Zustand, der zwischen einer offenen und einer verborgenen Bühne vermittelt.39
Das Bild kippt und gibt eine verborgene Bühne frei, die Bühne des Theaters. Verzweifelt stemmt sich der Aktivist mit seinem Protest gegen das Theater, um es doch wieder in eine politische Versammlung umzumünzen. Eine halbe Stunde lang diskutierte das Plenum über den Ausschluss des Abgeordneten, wobei immer wieder von verschiedenen Akteuren darauf eingegangen wurde, ob und inwiefern es sich nun um ein Parlament oder um Theater handelte. Gekippt war nicht allein die Wahrnehmung der Aufführung, sondern auch die Rahmung der Veranstaltung durch Rau, der in allen Presse- und Begleittexten immer wieder seine aktivistisch-politische Haltung betont hatte.
Als Formel kann der Ausspruch »For some of us, this is not theatre!« womöglich aber auch für das Berechnen des Kippmoments im aktivistischen Theater allgemein gelten – denn die Tatsache, dass einige das Theater eben gerade nicht als Theater betrachten, sondern als reale Politik mit ernsten Konsequenzen, ist genau das Moment, das den Kipphergang und die Kollision zwischen Theater und Politik herbeiführt. Aktivist:innen werden zu Figuren und Figuren werden zu Aktivist:innen, die eine Bühne kippt in die andere, was bisweilen zu Festnahmen oder Ermittlungen der Staatsanwaltschaft führt. In seltenen Fällen können Kippmomente sogar politische Karrieren beenden, womit ich zu meinem letzten und kürzesten Beispiel kommen möchte, obwohl es sich hierbei vielleicht weniger um eine Intervention aktivistischen Theaters als vielmehr um eine theatrale Intervention im Feld der Politik handelt, die die Mittel des Schauspiels als Falle und Täuschung einsetzt, um letztlich die Lügenhaftigkeit eines Politikers aufzudecken.
Drittes Kippmoment: Ibizagate – Die Entlarvung der Politik als Theater
Im August 2017 mieten Unbekannte eine Limousine sowie eine Villa auf der Baleareninsel Ibiza als Kulisse für ein Kammerspiel an, das auf Video festgehalten wird. Als Protagonisten treten auf: zwei österreichische Politiker der rechtsnationalen Partei FPÖ sowie die Nichte eines russischen Oligarchen, der offenbar an einer langfristigen Zusammenarbeit mit der österreichischen Regierung interessiert ist. Es wird geraucht und getrunken, dubiose Angebote werden gemacht und Spekulationen über zukünftige Wahlergebnisse und die Übernahme der einflussreichen Kronenzeitung angestellt. Zwei Jahre später, im Mai 2019, wird das Video der Presse zugespielt und schließlich in Teilen veröffentlicht. Erst jetzt – die Szene ist für die Beteiligten vermutlich nur noch eine neblige Erinnerung – kippt die Situation, das falsche Spiel der Russin und die korrupte Haltung der Politiker werden entlarvt. Doch es gibt kein Zurück mehr, der Film ist im Kasten und auch das Publikum kann nur noch zuschauen. Am 18. Mai 2019 tritt Heinz-Christian Strache als österreichischer Vizekanzler und FPÖ- Bundesparteiobmann zurück, spätestens nach der Nationalratswahl im September 2019, die mit zehn Prozent Verlust für die FPÖ ausgeht, ist die politische Karriere von Strache vorerst beendet.40 Dabei hatte auch er, ähnlich wie der Aktivist in Raus General Assembly, das Schauspiel für einen kurzen Moment durschaut. In einer vermeintlich unbeachteten Situation, die nicht Teil der veröffentlichten Szenen ist, von der jedoch in der Presse berichtet wurde, schöpft Strache Verdacht: »Wenn du in dieser Liga spielst«, sagt er zu seinem Parteifreund Johann Gudenus über die russische Oligarchennichte, »dann hast du doch keine schmutzigen Ränder an den Fußnägeln.«41 Doch der Verdacht reicht nicht aus, um die Nichte als Schauspielerin und die Begegnung als Theater zu entlarven. Weder wird hier der Regisseur auf der Bühne mit dem Vorwurf falschen Spiels konfrontiert noch wendet sich Strache an die Staatsanwaltschaft. Vielmehr bringt das Kammerspiel erst mit einer zweijährigen Verspätung die politische Situation zum Kippen.
Die Theatralität dieses Kammerspiels liegt vielleicht noch deutlicher als bei den beiden vorangehenden Beispielen in einer Dimension von Täuschung und Entlarvung, von Verstecken und Zeigen, die der russische Theaterregisseur und -theoretiker Nikolai Evreinov 1914 in seinem Buch Theater für sich beschrieben hat. Demnach sei Theater als anthropologischer Trieb mit der Lüge und dem Verbrechen verwandt, könne jedoch zugleich dazu dienen, die Unaufrichtigkeit und Falschheit gesellschaftlichen und politischen Lebens aufzudecken. Gegen die korrupten Bankiers und Politiker, schreibt Evreinov, müsse sich das Spiel der Verwandlung richten.42 Dabei operiere Theater grenzüberschreitend, bisweilen auch illegal. Evreinov fragt rhetorisch: »Wille zum Theater und Wille zum Verbrechen – muss da nicht ein Gleichheitszeichen hin?«43 Der Skandal um das Ibiza-Video ist in dieser Hinsicht auch deshalb so spannend, weil das Schauspiel der falschen Oligarchennichte wiederum Strache selbst eines falschen Spiels überführt. Wie oft hat sich gerade Strache in den österreichischen Medien als Saubermann des Landes im Kampf gegen eine angeblich korrupte Elite inszeniert? Das Video offenbarte nun: Er ist der wahre Verbrecher in diesem Spiel, oder sollte man mit Evreinov womöglich sagen, der wahre Schauspieler?
Am 10. Dezember 2020 wurde der Privatdetektiv Julian H. mit einem österreichischen Haftbefehl wegen Missbrauchs von Abhörgeräten sowie versuchter Erpressung in Berlin festgenommen. In einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel vom 27. Januar 2021 gab H. zu, das Video gemeinsam mit seinen Komplizen gedreht und es der deutschen Presse zugespielt zu haben, leugnete jedoch die Erpressungsvorwürfe. Seiner Aussage nach ging es von Anfang an einzig und allein darum, einen korrupten Politiker zu Fall zu bringen.44
Schluss
Ich habe anhand von verschiedenen Beispielen gezeigt, dass theatrale Interventionen als aktivistische Strategie auf besondere Weise dazu in der Lage sind, Kippmomente zu erzeugen, die sich durch eine Kontingenz und Unkontrollierbarkeit auszeichnen, die unter anderem dazu führen kann, dass sich das Blatt gegen die Protagonist:innen selbst wendet. Ein Stück weit wird dieses Risiko von Aktivist:innen in der Regel immer einkalkuliert, etwa auch wenn ein Denkmal der Stadt von Demonstrierenden unter den Augen der Polizei in ein Hafenbecken geworfen wird. Interessant ist an den künstlerisch-theatralen Interventionen jedoch, dass hier, anders als bei den Black Lives Matter-Protesten in Bristol, nicht allein mit einer Protestaktion ein Denkmal oder die politische Stimmung zum Umsturz gebracht wird, sondern paradoxerweise gerade das Als-ob theatralen Handelns dazu führt, Theater in eine politische Situation mit realen Konsequenzen zu verwandeln. Theater kippt in Politik und Politik kippt in Theater – was nach einer binären Logik klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als prekärer transformativer Prozess, der wie eine Wippe auch hin- und herwippen kann, aber auch bisweilen auf dem Kipppunkt verharrt oder weitere Refigurationen und Kippmomente ermöglicht. So wie das szenische Aufdecken der Lüge in der Politik einen Vizekanzler als Lügner und ›Schauspieler‹ entlarven kann, ist Theater als künstlerische Praxis zugleich in der Lage, den Schwindel selbst als Strategie zu reflektieren und dabei realpolitische Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Als Kippfigur kann dieses Theater selbst dann noch als ästhetisches Spiel der Rahmungen und Refigurationen rezipiert werden, wenn es sich um politisch-aktivistische Interventionen oder, wie im Fall Strache, um einen theatralen Hitjob mit womöglich erpresserischen Motiven handelt. Das Zusammenspiel einer Als-ob-Handlung und einer Als-ob-Haltung trifft in diesem Fall auf ein theatrales Wahrnehmungsereignis,45 bei dem die Szene von außen als solche erkannt und ästhetisch-reflexiv gewendet wird. Von Seiten der Aktivist:innen und der Polizei wird hingegen häufig gerade die Ernsthaftigkeit des Kippmoments hervorgehoben und entsprechend betont, dass es um die Durchsetzung realer politischer oder justizieller Konsequenzen geht: »For some of us, this is not theatre!« Politische Ziele zu setzen und dennoch das Kippmoment zu fokussieren und mithin wie Banksy als dynamischen Moment des Wandels und der Unsicherheit festzuhalten, ist daher vielleicht die große Kunst einer Ästhetik der Intervention.
1Ich danke Florian Malzacher für den Hinweis auf dieses Bild.
2Siehe Ankündigungstext der Tagung »Ästhetiken der Intervention. Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters«, 22.-23. November 2019, Münchner Kammerspiele.
3»Stadttheater der Zukunft. Das Genter Manifest« veröffentlicht auf www.nachtkritik.de am 18. Mai 2018. https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&layout=edit&id=15410&Itemid=100190(Zugriff am 5. Februar 2021).
4Lehmann, Hans-Thies: »Wie politisch ist postdramatisches Theater?«, in: Ders.: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 11 – 22, hier S. 16.
5Balme, Christopher: The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014.
6Fraser, Nancy: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Social Text 25/26 (1990), S. 56 – 80, hier S. 67.
7Die Tendenz hin zu einer Diversifizierung verschiedener, getrennter Publika ist damit eher Ansätzen entgegengesetzt, die eine diskursive Kritik hegemonialer Ordnungen mittels antagonistischer Kunstpraxen anstreben, so etwa Chantal Mouffes Ansatz agonistischer öffentlicher Räume der Kunst, die dissensuelle Begegnungen und Debatten ermöglichen. Vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 140ff.
8Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, insbes. S. 371 – 423.
9Zum Konzept der relaxed performance siehe Fletcher-Watson, Ben: »Relaxed performance. Audiences with Autism in Mainstream Theatre«, in: The Scottish Journal of Performance 2, (2015), S. 61 – 89.
10Vgl. hierzu den Beitrag von Azadeh Sharifi in diesem Band.
11Molin, Adrian: Sveriges Utrikespolitik [Aktivistboken], Stockholm 1915 (anonym veröffentlicht).
12Vgl. Heske, Henning: und morgen die ganze Welt. Erdkundeunterricht im Nationalsozialismus, Krefeld 2008, S. 63.
13Vgl. die Beiträge von Simone Niehoff und Matthias Warstat in diesem Band.
14Piscator, Erwin: »Das Politische Theater«, in: ders.: Zeittheater. »Das politische Theater« und andere Schriften, Reinbek 1986, S. 25.
15Ebd., S. 66.
16Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen und Basel 1999, S. 285.
17Warstat, Matthias: »Wie man Revolutionen anfängt. Lenin und das Agitproptheater«, in: Czirak, Adam/Egert, Gerko (Hrsg.): Dramaturgien des Anfangens, Berlin 2016, S. 185 – 202, hier S. 200.
18Vgl. Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt am Main 1989.
19Als direct action bezeichnete man ausgehend von der Amerikanischen Bürgerrechtsbewegung verschiedene Strategien des gewaltlosen Protests und zivilen Ungehorsams wie Sit-Ins, Protestmärsche, Boykott, Freedom Rides. Im Gegensatz zum (indirekten) Erstreiten der Bürgerrechte vor Gericht, stand die direct action dafür, die politischen Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit auf der Straße im öffentlichen Raum zu artikulieren. Stark beeinflusst waren die Methoden der direct action unter anderem auch von Mahatma Gandhis passivem Widerstand (Satyagraha) in Indien.
20Bogad, Larry M.: Tactical Performance. The theory and practice of serious play, London und New York 2016, S. 1f.
21Vgl. Rancière, Jacques: »Gibt es eine politische Philosophie?«, in: Badiou, Alain/ Rancière, Jacques (Hrsg.): Politik der Wahrheit, Wien 2010 [1996], S. 79 – 118, hier: S. 83.
22Zum Als-ob der Emanzipation bei Rancière vgl. auch meinen Aufsatz: Wihstutz, Benjamin: »Der Streit um die Bühne: Theatralität im Politischen Denken Jacques Rancières« in: Doll, Martin/Kohns, Oliver (Hrsg.): Die imaginäre Dimension der Politik, Paderborn 2014, S. 229 – 256.
23Matthias Warstat betont in seinem Buch Soziale Theatralität die Dimension des Als-ob als konstitutiv für die Begriffe theatrales Handeln, theatrale Haltungen und theatrale Ereignisse. Er grenzt damit den Begriff Theatralität entschieden gegen den Begriff der Performativität (als aufführungsbezogen) ab. Vgl. Warstat, Matthias: Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft, Paderborn 2018, S. 227 – 264.
24David E. Sumner betont, dass die Erfolge der Bürgerrechtsbewegungen in den 1960er Jahren ohne einige Verbündete in der Presse und den Massenmedien undenkbar gewesen wären. So hat etwa John Lewis, einer der Protagonisten der Bewegung in Interviews mehrfach die Bedeutung von Fotografien und Fernsehübertragungen für die Proteste hervorgehoben. Aktivist:innen wussten, wen sie vor einer Aktion informieren mussten, um mit der Berichterstattung in Presse und Fernsehen eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, die insbesondere über die Lokalnachrichten in den Städten der Südstaaten hinausreichte. Vgl. Sumner, David E.: »Mass Media and the Civil Rights Movement« in: Margaret Blanchard (Hrsg.): History of the Mass Media in the United States. An Encyclopedia. Chicago 1998, S. 373 – 376, hier 374.
25»Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus!«, veröffentlicht von Zentrum für Politische Schönheit, https://www.youtube.com/watch?v=nZaC-mu-cc3Q&t=41s (Zugriff am 28. Oktober 2020).
26»Sehnsucht nach einer großen Geste«, Interview von Elena Philipp mit Peter Marx, 3. August 2017. https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14284:interview-ueber-theater-tyrannenmord-und-die-aktion-scholl-2017-des-zentrums-fuer-politische-schoenheit-mit-dem-koelner-theaterwissenschaftler-und-shakespeare-forscher-peter-w-marx&catid=101&Itemid=84 (Zugriff am 28. Oktober 2020).
27Zitiert nach einem Facebook-Post des Thüringer Landtags vom 22. November 2017 sowie des FAZ-Artikels »Denkmal der Schande neben Höckes Haus«, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bjoern-hoecke-bekommt-holocaust-mahnmal-vor-die-nase-gesetzt-15304541.html (Zugriff am 28. Oktober 2020).
28Ebd., 22. November 2017.
29Vgl. Meldung der dpa: »Höcke nennt Mahnmal-Aktivisten Terroristen«, in: Der Tagesspiegel, 25. November 2017 https://www.tagesspiegel.de/politik/zentrum-fuer-politische-schoenheit-hoecke-nennt-mahnmal-aktivisten-terroristen/20631946.html (Zugriff am 29. Oktober 2020).
30Urteil des Landgerichts Köln vom 14. März 2018, publiziert auf der Website des Zentrums für Politische Schönheit https://politicalbeauty.de/Media/mahnmal/ZPS_URTEILE.pdf. (Zugriff am 5. Februar 2021).
31»Die Sendung mit dem Höcke: Opfer und Überwachungsgeschichten!« Video des Zentrums für Politische Schönheit, veröffentlicht am 1. Dezember 2017. https://www.youtube.com/watch?v=kCatPwK42EI&t=110s(Zugriff am 28. Oktober 2020).
32Vgl. »Denkmal der Schande neben Höckes Wohnhaus«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. November 2017. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bjoern-hoecke-bekommt-holocaust-mahnmal-vor-die-nase-gesetzt-15304541.html (Zugriff am 29. Oktober 2020).
33Zum Fake als künstlerischer und medialer Strategie (u.a. bei den Yes-Men) siehe: Doll, Martin: Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens, Berlin 2012, S. 391 – 416.
34Langhoff, Shermin et al.: »Keine Kriminalisierung kritischer Kunst! Für die Kunstfreiheit. Offener Brief aus der Zivilgesellschaft anlässlich der Verfahren gegen das Zentrum für Politische Schönheit«, zuerst veröffentlich auf der Website des Maxim Gorki Theater am 11. April 2019: https://www.gorki.de/de/keine-kriminalisierung-kritischer-kunst-fuer-die-kunstfreiheit (Zugriff am 29. Oktober 2020).
35Zur Dramaturgie und Ästhetik der Theatertribunale Raus vgl. auch: Wihstutz, Benjamin: »Zur Dramaturgie von Milo Raus Theatertribunalen«, in: Münkler, Laura/Stenzel, Julia (Hrsg.): Inszenierung von Recht. Funktionen – Modi – Interaktionen. Weilerswist 2019, S. 164 – 186.
36Vgl. die Charta in der verabschiedeten Fassung vom 25. Januar 2018: http://www.general-assembly.net/charta-fur-das-21-jahrhundert/ Der Slogan »Demokratie für alle und alles« war im Vorfeld des Sturms auf den Reichstag zur Verkündung der Charta auf Plakaten gedruckt und in Berlin als Werbung für das General Assembly aufgehängt worden.
37Wihstutz, Benjamin /Rau, Milo: »Antagonistische Dramaturgie. Ein Gespräch«, in: Umathum, Sandra/Deck, Jan (Hrsg.): Postdramaturgien, Berlin 2020, S. 73 – 83, hier S. 74.
38Die Szene lässt sich online im Videoarchiv auf http://www.general-assembly.net anschauen (Zugriff am 7. Februar 2020). Es handelt sich um die vierte Plenarsitzung vom Sonntag, den 5. November von 10 bis 13 Uhr, ab ca. 2h30 des Videos.
39Brandstetter, Gabriele: »Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung«, in: Brandl-Risi, Bettina/Ernst, Wolf-Dieter/Wagner, Meike (Hrsg.): Figuration – Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge. München 2000, S. 189 – 212, hier S. 194.
40Strache trat anschließend bei der Wiener Landtagswahl 2020 noch einmal mit der von ihm neu gegründeten Partei »Team HC Strache« an, scheiterte jedoch deutlich an der Fünfprozenthürde.
41Vgl. »Rätselraten um Strachevideo: ›Es war jemand, der mit Deutschen sprechen wollte‹«, in: Die Welt, 22. Mai 2019, https://www.welt.de/politik/ausland/article193934687/Strache-Video-Es-war-jemand-der-mit-Deutschen-sprechenwollte.html sowie https://kurier.at/politik/inland/ibiza-video-strache-witterte-falle-wegen-schmutziger-fuesse/400500109 (Zugriff am 5. Februar 2021).
42Evreinov, Nikolai: Theater für sich [1909], hg. von Sylvia Sasse, Zürich und Berlin 2017, S. 44.
43Ebd., S. 51.
44Kahlweit, Cathrin/Röbel, Sven: »Dieses Video hat mein Leben gefressen. Macher des Ibiza-Videos im Interview«, Interview auf spiegel online vom 27. Januar 2021, https://www.spiegel.de/politik/ausland/macher-des-ibiza-videos-im-interview-dieses-video-hat-mein-leben-gefressen-a-c139b3db-9cde-47ce-a60f-fac3ac164ae8 (Zugriff am 5. Februar 2021).
45Vgl. Warstat: Soziale Theatralität, S. 252. Im Gegensatz zu Warstat, der das theatrale Als-ob explizit von Täuschungsmanövern abgrenzt, indem er das Ausweisen, Markieren und Erkennen einer »Ver-stellung« als konstitutiv für theatrales Handeln fasst (ebd., S. 236), legen die hier von mir analysierten Beispiele theatraler Interventionen nahe, Täuschung als Möglichkeit theatralen Handelns prinzipiell einzuschließen. So zeigen bereits Techniken des Unsichtbaren Theaters bei Augusto Boal oder des künstlerischen Fakes bei den Yes-Men (Vgl. Doll: Fälschung und Fake, S. 391 – 416), auf welche Weise theatrales Handeln mit Täuschungen einhergehen kann. Auch Warstats eigene Alltagsbeispiele – der Bankberater, der ein bestimmtes Anlagemodell verkaufen will oder der selbst nach einer Krebsdiagnose Zuversicht ausstrahlende Arzt (Warstat, Soziale Theatralität, S. 237) – deuten an, dass theatrales Handeln bisweilen in einer Grauzone stattfindet, in der Täuschung und Aufrichtigkeit manchmal auffallend nah beieinander liegen.