Theater der Zeit

Vorwort

von Ute Müller-Tischler und Mirka Döring

Erschienen in: Arbeitsbuch: Bild der Bühne, Vol. 2 / Setting the Stage, Vol. 2 – 17 Bühnenbildner:innen im Porträt (06/2015)

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Das Bühnenbild kann alles. Es ist immer weniger eindeutig. Ob Performanceinstallationen von Kris Verdonck, Open-World Settings von Signa Köstler (SIGNA) oder Narrative Spaces bei Mona el Gammal: Die klassische Vorstellung vom Theaterbild ist völlig aufgelöst, die Aufführungspraxis der Gegenwart ist längst geprägt von einer ausufernden Entgrenzung der Einzelkünste.

Die Theaterzeitschrift Theater der Zeit verfolgt diese Entwicklungen seit Jahren in ihren Kunstinserts. Dort haben wir Bühnenkünstlerinnen und -künstler nach ihren Motivationen befragt, danach, was ihre Arbeitsweise und Zusammenarbeit mit den Regisseurinnen und Regisseuren bestimmt, wie ihre künstlerische Praxis im Theaterkontext aussieht. Eher heuristisch als mit einem Anspruch auf Vollständigkeit haben wir Gespräche geführt, sei es anlässlich aktueller Produktionen oder sei es, weil die Künstler wegweisende Richtungen für die Theaterentwicklung einschlugen. Es sind vor allem diese Originaltöne der Künstler, die das diesjährige Arbeitsbuch von dem unterscheiden, das 1998 als „Bild der Bühne“ erschienen ist und solch prägende Künstler wie Robert Wilson, Achim Freyer, Jürgen Rose, Einar Schleef und Anna Viebrock vorstellte. In „Setting the Stage“ haben wir nun noch einmal die verschiedensten Künstlerpersönlichkeiten zusammengebracht, die uns deutlich machen, wie gleichzeitig absichtsvoll und zwangsläufig sich die künstlerischen Überlegungen im Modus eines sich immer radikaler und souveräner gebärdenden Selbstverständnisses im Gesamtkunstwerk Theater bewegen.

Wenn Katrin Brack oder Katja Haß beispielsweise ihre Mittel so weit reduzieren, dass die Frage nach der Illusion auf der Bühne schlagartig zur Konstruktion neuer Kontexte führt, entstehen Spielsituationen von präziser Ästhetik, die dann von maßgebender Bedeutung für den Theatertext sind.

Minimalistischer und in der Interpretation noch offener sind die Bühnenbilder von Mark Lammert, dem, frei nach Samuel Beckett, ein farbiges Objekt reicht. „Jede Skulptur bringt ihren eigenen Raum mit“, sagt er. Auch Barbara Ehnes begreift ihre Raumkörper ganz bildhauerisch als Objekte auf einer Drehbühne, als sichtbare, ganzheitliche Gesamtform.

„Die Räume verändern im Laufe der Inszenierung oft ihre Aufgabe und somit auch ihre Konnotationen“, beschreibt Florian Lösche seine interaktiven Bühneninstallationen. Sie lösen sich auf zum Spielraum, werden zum Spielpartner und manchmal auch zum Gegner für die Darsteller; sie oszillieren in einer sich ständig verändernden Beziehung zueinander.

Apokalyptisch und bildgewaltig baut Aleksandar Denić seine Bühnen, die an riesige Environments erinnern und voller detailgenauer Zeitgeschichte stecken. Anarchisch-absurd und erschreckend hyperreal wird es dann, wenn sich in seinen Theaterräumen die geografischen Spielorte überlagern und die Ko-Regie von Frank Castorf übernehmen.

„Dass Zuschauer wie in der Kirche angenagelt auf ihren Plätzen sitzen und in andächtiger Stille über sich ergehen lassen müssen, was sich irgendwelche Theaterleute ausgedacht haben“, hält Christoph Ernst für ein „obsoletes Geschäftsmodell“. Für ihn sind Räume Startrampen, um so etwas wie eine soziale Plastik herzustellen, in die ausnahmslos alle involviert sind, auch die Zuschauer. Jan Pappelbaum will seine Bühnenbilder grundsätzlich nicht vor einer feststehenden Zuschauersituation entwickeln. Er spricht über die Kommunikation der Schauspieler mit den Zuschauern, seine Shakespeare-Bühnen und deren schwebende Zeitlosigkeit. Auch Annette Kurz erzählt von ihrem „Archiv Kunstgeschichte“, das ihr als anregender Materialfundus dient, wenn sie Bilder in ihren Bühnen verdichtet.

Für Stefan Hageneier ist „Theater keine zeitlose Kunst“, sondern erwirbt seine Berechtigung durch inhaltliche und ästhetische Erneuerung. Aber „wenn man mit Schnürboden und Unterbühne arbeitet, zitiert man immer auch christliche Ikonografie, auch wenn vordergründig keine Glaubensfragen behandelt werden“. Auch Muriel Gerstner hat große Denkfiguren im Kopf. Ihre Bühnenbilder sind geprägt von Erzählungen, die sie genauso in historischen Bildallegorien wie in den Bedeutungsebenen von Sprache findet. Sie spricht über ein Prinzip des Barocks, das sie anwendet, weil sie Bild und Text nicht „prima vista“ zuordnen will, sondern vielmehr assoziativ fließen lässt.

Bevor ihre poetischen Bühnen entstehen, taucht Bettina Meyer in den visuellen Schacht und holt dort „wie aus dem 3D-Drucker“ Entwürfe heraus. „Wenn man entwirft, fängt man immer wieder bei null an“, sagt sie und stimmt darin mit Stéphane Laimé überein, für den die Schaffung eines Raumes jedes Mal ein Wagnis ist: „Ich stehe bei jedem Stück erst einmal ganz ahnungslos da.“

Für Bert Neumann ist Theater dezidiert politisch, wenn er es beschreibt als „eine kollektive Kunstform; im selbstbestimmten, nicht hierarchischen Zusammenwirken von Künstlern mit verschiedenen Talenten entsteht im besten Falle etwas, was keiner von ihnen allein oder in anderer Konstellation hätte machen können.“ Gerade in diesem Modell der Zusammenarbeit liege die „große, zukunftsweisende Potenz von Theaterarbeit. Es geht also nicht um Mittel, es geht um Produktionsbedingungen; um die muss man sich kümmern, wenn das Theater weiterleben soll.“

Stage design can do anything. It’s becoming less distinct all the time. Whether it’s the performance installations of Kris Verdonck, open world settings of Signa Köstler (SIGNA), or the narrative spaces of Mona el Gammal, the classic conception of the theatre set has broken down completely, with contemporary performance practice long distinguished by the free flow of individual disciplines across boundaries.

The theatre magazine Theater der Zeit has been following these developments for some years now in its “Kunstinserts”. There we asked stage designers about their motivation, their working methods, the way they collaborate with directors, how their artistic practice unfolds in a theatre context. With a heuristic approach eschewing any claim to completeness, we promoted discussion, whether it was to mark a new production or because the artists in question were breaking new ground in the development of theatre. More than anything it is these direct statements from the artists which distinguish this workbook from the 1998 “Bild der Bühne”, which presented such influential artists as Robert Wilson, Achim Freyer, Jürgen Rose, Einar Schleef and Anna Viebrock. In “Setting the Stage” we have once again brought together the most diverse artistic personalities; collectively they demonstrate how artistic considerations – at once purposeful and inevitable – function in the mode of an increasingly radical and confident self-conception of the theatre as gesamtkunstwerk.

When Katrin Brack and Katja Haß, for example, reduce their means to such an extent that the quest for stage illusion suddenly allows entirely new contexts to arise, it results in performance situations of a precise aesthetic, with major significance for the text.

If anything, Mark Lammert’s sets are even more minimalistic, even freer in their interpretation, perhaps using nothing more than a coloured object for a loose adaptation of Beckett. As he says: “Every sculpture brings its own space with it”. Barbara Ehnes, too, has a highly sculptural conception of her spaces as objects on a revolving stage, as visible, integrated forms, complete in and of themselves.

“Over the course of a production the role of the spaces often changes, and with it their connotations,” says Florian Lösche in describing his stage installations. They dissolve into performance spaces, become partners in performance, at times even opponents of the actors; they oscillate in their constantly shifting relations to each other.

Aleksandar Denić’s sets are apocalyptic and visually powerful, bringing to mind enormous environments and crammed full of contemporary history in intricate detail. Things take a turn for the anarchic, absurd and shockingly hyper-real when geographic performance locations overlap and his theatre spaces become a directorial rival to Frank Castorf.

Christoph Ernst regards the fact that “the audience sits there nailed to their seats like they’re in church, in contemplative silence, letting anything that a bunch of theatre people can think up wash over them”, as an “obsolete business model”. Instead he sees spaces as launch pads which transform into something akin to a social sculpture which involves everyone concerned, even the audience. Jan Pappelbaum is highly disinclined to develop sets for a fixed audience format. Here he talks about communication between actors and audiences, his Shakespeare sets and their sense of suspended timelessness. And Annette Kurz talks about her “archive of art history” that serves as an inspirational cache of material when it comes to condensing images for her sets.

For Stefan Hageneier, “theatre isn’t a timeless art form”, rather it stakes its claim anew through textual and aesthetic regeneration. But “when you work with flies and the under-stage area, you’re always quoting from Christian iconography, even when you are not ostensibly dealing with questions of faith”. And Muriel Gerstner, too, conjures with major figures of thought. Her sets are characterised by stories drawn as much from historical visual allegory as different levels of linguistic meaning. She talks about a principle from the Baroque which allows images and text to flow in an associative way rather than assigning primacy to either.

For her poetic sets, Bettina Meyer descends into the mineshaft of imagery, retrieving her designs “as if from a 3D printer”. “When you design, you always begin again at zero”, she says, echoing Stéphane Laimé’s claim that each new space entails risk. “With every play I just stand there without a clue to begin with.”

For Bert Neumann, theatre is decidedly political, something he describes as “a collective art form, and in the ideal scenario a self-determined, non-hierarchical collaboration of artists with various talents produces something which none of them could have done alone or in any another configuration.” It is in precisely this model of collaboration that the “great power of theatre resides. So it’s not about the means, it’s about the production conditions, that’s what you have to take care of if theatre is to continue.”

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