Theater der Zeit

Gespräch

Sein und Nichtsein

Boris Nikitin im Gespräch mit Martin Weigel

von Martin Weigel und Boris Nikitin

Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)

Assoziationen: Baden-Württemberg

Boris Nikitin. Foto Tobias Brenk
Boris NikitinFoto: Tobias Brenk

Martin Weigel: Boris, in deiner Arbeit „How to win friends & influence people“ predigte der Schauspieler Matthias Breitenbach in der Freiburger Mormonenkirche zu einem Publikum aus Gemeindemitgliedern und Kunstinteressierten darüber, dass der größte Glaube derjenige an eine Fiktion sei, in vollem Wissen darum, dass es sich um eine Fiktion handelt. Aus welchen Überzeugungen speist sich deine Arbeit? Wie bist du künstlerisch geprägt?

Boris Nikitin: Mich interessiert seit jeher das, was sich in meinem Kopf abspielt: Wie kann ich meine Gedanken veräußern, damit ich sie mir anschauen kann? Ich hab’ in Gießen studiert. Das Studium dort ist sehr auf Kooperation ausgelegt, auf wechselseitige Kritik und „do it yourself“. Die Lehre dort reguliert sich gewissermaßen selbst, weil sie darauf beruht, dass es keine Schauspielerinnen und Schauspieler gibt. Das bedeutet, dass man immer das Problem lösen muss, wer da auf der Bühne steht. Im Studium habe ich zuerst viel im Kollektiv gearbeitet. Eigentlich war ich immer unglücklich damit, konnte mir das aber erst nach vier Jahren eingestehen. Ich kann mich erinnern, wie ich mit meinem Professor Heiner Goebbels perspektivisch über meine Diplominszenierung gesprochen habe. Er war überrascht, hat geschmunzelt und gefragt, ob ich nicht lieber eine schöne Diplomarbeit schreiben möchte.
Ich hatte tatsächlich bis dahin keine einzige für mich befriedigende Produktion gemacht und sagte mir: Ich gebe mir jetzt eine allerletzte Chance. Allerdings unter mehreren Bedingungen: Erstens will ich nicht kollektiv arbeiten. Zweitens habe ich beschlossen, meine innere und äußere Opposition gegen die Ästhetik von Goebbels, die ich als zu clean, zu unpolitisch empfand, zu beenden. Ich hatte gemerkt, dass meine Antihaltung eine absolute Abhängigkeit erzeugt, dass diese opponierende Haltung mich zudem nichts oder zu wenig kostet. Uninteressant kann man ja alles finden. Ich habe versucht, gelassener zu sein, und dann diesen „Woyzeck“ begonnen. Ich hatte mich entschieden, nur mit einem einzigen Darsteller zu arbeiten. Ich wollte mich völlig konzentrieren und nicht auf der Probe fünf Leute am Hals haben, die ich entertainen muss. Dann sind Malte Scholz, den ich als Performer angefragt hatte, und ich auf die Probebühne gegangen, haben komische Sachen probiert, abstrakte Bewegungen, lustiges Auf-dem-Boden-Herumrobben, Sich-mit-Klebeband-Einwickeln, was man halt so macht: verzweifelte Improvisation. Ich saß da und habe mich gefragt: Was machen wir hier? Ich fühlte mich total schlecht und spürte etwas, das jeder kennt, immer wieder erlebt und selten ausspricht: Wir tun hier gerade so, als würden wir Probe machen, aber es ist offensichtlich, dass keiner eine Idee hat. Es herrscht eine totale Leere, weil es irgendwie peinlich ist und unangenehm und man sich da so durchkrampft. Und dann fand ich das plötzlich interessant: Was will eigentlich solch ein Probenraum von einem? Was für eine Erwartung bringt er mit? Wie befreie ich mich von diesem Zwang, kreativ und originell sein zu müssen? Was Malte machte, war wahrscheinlich sogar kreativ und originell, aber ich konnte es nicht lesen, es hatte mit meinem Leben nichts zu tun. Ich habe zu ihm gesagt: Malte, lies bitte noch einmal mein Konzept, lies es einfach durch. Am nächsten Tag habe ich ihn gebeten: Und jetzt erklär mir das Konzept. Stell dich an den Bühnenrand und halte eine Einführung. Das hat er gemacht, und ich fand es super. Dieses Bevor-es-losgeht, dieser Moment des Noch-nicht-Losgehens, ist seither ein wichtiges Tool für mich.

Den Erwartungsdruck, den du vom Proberaum beschreibst, bringt die Institution Stadttheater, in der ich arbeite, strukturell geballt mit: Wenn ich eine Probenphase beginne, gibt es schon lange einen verabredeten Spielplan, der durch einen subventionierten Apparat umgesetzt wird, innerhalb dessen ich für meine Arbeit monatlich bezahlt werde. Das ist für mich allgegenwärtig. Was erwartest du eigentlich von einem Schauspieler? Kannst du mit meinem Berufsstand überhaupt etwas anfangen?
Ich arbeite zwar nicht kollektiv, aber doch sehr kollaborativ. Ohne das, was die Darsteller in die Arbeit hineingeben, würden meine Abende nicht existieren. Egal ob Schauspieler oder Performer – sie repräsentieren darin immer auch sich selbst. Das ist für sie auch ein Risiko. In „Hamlet“, meinem jüngsten Stück, ist Julian Meding gleichzeitig er selbst und nicht er selbst. Der Beruf des Schauspielers ist für mich auch eine politische Metapher oder sogar eine politische Praxis: ein anderer sein zu können. Es geht eigentlich nicht um Sein oder Nicht-Sein, sondern es geht um Sein und Nicht-Sein zugleich. Die Möglichkeit, man selbst sein zu können, existiert nur dann, wenn auch die Möglichkeit besteht, nicht man selbst zu sein. Wenn man diese Möglichkeit nicht hat, dann ist das Selbst-Sein eben kein Können, sondern ein Müssen. Dann ist es alternativlos. Das ist für mich auch das Problem an der Performance und am Dokumentarischen. Wenn Performer oder Experten einfach sie selbst sind, dann führt das in die Ausweglosigkeit der Identität: Endstation du selbst. Wenn die Performance oder das Dokumentarische mal als strukturelle Befreiung vom Schauspiel galten, wie befreit man dann die Performance oder das Dokumentarische nun von sich selbst? Vielleicht wieder mittels Schauspiel, der Möglichkeit des Anderen …

Was sagst du denn zur Debatte Performer vs. Schauspieler?
Performativität gegen Schauspiel auszuspielen ist eine ideologische Entgegenstellung, die ich nicht besonders klug finde, zumal sie so tut, als sei Authentizitätskritik im Theater neu. Für das gelingende Theatermoment ist nicht Performativität oder Schauspiel entscheidend, sondern Potenzialität: Nur der Performer ist für mich interessant, der mich überraschen kann. Das kann aber nur der Performer, der die Potenz hat, nicht er selbst zu sein. Umgekehrt finde ich aber auch nur den Schauspieler und die Schauspielerin interessant, die spielen kann, aber nicht muss. Das mögliche Suspendieren des Spiels macht für mich das Spiel aus. Und zwar strukturell. Das ist tatsächlich eine politische Konstruktion. Ein Spieler ist – frei nach Carl Schmitts Souveränitätsbegriff – einer, der über den Ausnahmezustand seines Nichtspielens entscheidet. Einer, der auf der Bühne für einen Moment sagen kann, I would prefer not to, ich spiele jetzt nicht, leckt mich am Arsch. Als wirkungslos empfinde ich Schauspieler, die mir das Gefühl vermitteln, dass sie spielen müssen und nicht anders können, weil ich immer sagen würde: Sie unterwerfen sich einer Erwartung, dass das so sein muss. An diese Fiktion glaube ich – um deine Eingangsfrage zu beantworten – überhaupt nicht.

Wenn du von Kollaborateuren sprichst, geht es ja in erster Linie um eine Komplizenschaft für eine gemeinsame Sache, um Euphorie für das gemeinsame Thema. Wenn ich dich richtig verstehe, geht es dir weniger um das Abschaffen von Hierarchien, wie das kollektive Arbeitsformen betreiben, als vielmehr um die Befreiung von Erwartungen und Zuschreibungen.
Ein Akteur ist ja jemand, der handelt. Ein Handelnder ist jemand, der eine Entscheidung trifft. Dazu muss man sich von Zwangsläufigkeiten befreien, indem man Nein sagt, das Schauspiel unterlässt oder Strukturen verweigert. Und nicht in der Verweigerung hängen bleibt, sondern sich die Möglichkeit verschafft, sich vielleicht tatsächlich für die Unterwerfung zu entscheiden. Nicht weil man muss, sondern weil man es kann. Das ist Politik.

Mit dem Gedanken der Potenzialität kann ich viel anfangen. Für mich ist es attraktiv, wenn es in dem Raum, in den ich mich mit meinem Gegenüber begebe, etwas gibt, das wir beide noch nicht wissen, das man ausloten kann. Diese Durchlässigkeit ist an einem Betrieb wie dem Stadttheater sehr gefährdet. Die komplexe Planung von Prozessen führt oft dazu, dass Dinge sehr früh ausformuliert sind – oder wir mit ihnen so umgehen, als wären sie es. Muss man, wenn man mehr Rechte und Freiheiten haben will, auch mehr Verantwortung tragen? Stichwort probenfreier Samstag?
Wenn es einen zu hohen Produktionsdruck gibt, wenn man wenig Zeit hat, über die Dinge in Ruhe nachzudenken, Distanz zu bekommen, das Material gären zu lassen, ist das keine gute Bedingung für eine gemeinsame Intelligenz. Arbeiten als Struktur ist etwas, das mich sehr beschäftigt, das ist Teil meines künstlerischen Prozesses. Wie entwickelt man gemeinsam eine Beziehung? Ich arbeite gerne in mehreren Etappen, dazwischen lasse ich einfach alles zwei Monate stehen. Dadurch haben alle die Möglichkeit, Distanz dazu zu bekommen, und so entstehen automatisch Informiertheit und Intelligenz. Die Leute schleppen das mit sich rum, gehen in andere Stücke, in Museen, in ihren Alltag, gehen spazieren, gucken sich die Bäume an, und irgendetwas gärt, das tut es automatisch, da muss man sich gar nicht anstrengen, das Hirn fängt von alleine damit an. Das ist eine Form der Aneignung von Zeit und Raum, manchmal sogar eine Form der Muße.

Mich interessiert sehr Michel Foucaults Gedanke der Heterotopie: Theaterräume als gesellschaftliche Gegenplatzierungen, als tatsächlich realisierte Utopien, deren gesellschaftliche Bedeutung sich verändern kann. Widerspricht dieses Potenzial in deinen Augen den realen Arbeitsbedingungen der hier arbeitenden Schauspielerinnen und Schauspieler?
Mitbestimmung in künstlerischer Hinsicht bedarf für mich auch der Distanznahme. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht auch gegenseitig ausbeuten dürfte. Aber es muss ein bewusstes Einverständnis geben, sich einer Arbeit mal zu unterwerfen, vielleicht sogar komplett, bis es masochistisch wird. Aber das muss eine freiwillige Unterwerfung sein, die auch wieder ein Moment von Spiel und von Hingabe ist. Es darf keine Zwangsläufigkeit sein, sonst ist man entmachtet. Man muss ein Recht auf die Macht haben, zu sagen, ich entscheide mich dafür, aber nur, wenn es ein Spiel bleibt. Jeder muss selbst Verantwortung für das übernehmen, was er will und kann. Da darf man keinem Klischee aufsitzen.

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