Barockes 20. Jahrhundert
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Dass das 20. Jahrhundert einer Wiederkehr oder auch einer veränderten Wiederholung des 17. Jahrhunderts gleichkomme, war eine Ansicht, die besonders nach dem Ersten Weltkrieg Schriftsteller, Forscher und Philosophen verschiedenster Couleur miteinander teilten. Helmut Lethen hat in seinem Zwischenkriegspanorama »Verhaltenslehren der Kälte« plastisch dargestellt, dass in der großen Krise des frühen 20. Jahrhunderts, die meist als Krise des Individuums und seiner medialen Bedingungen im Übergang zu einer industrialisierten und mechanisierten Massengesellschaft beschrieben wird, eine Fülle von Motiven und Figuren wiederkehren, die dem historischen Barockzeitalter entstammen.1 Gerade im deutschen Sprachraum sind dabei die direkten Zugriffe auf Verhaltens- und Klugheitslehren sowie auf (Über-)Lebenstechniken des 17. Jahrhunderts Legion. Doch die Verwandtschaft des 20. mit dem 17. Jahrhundert wird nicht erst nach dem »Generationsbruch« des Ersten und dem endgültigen »Traditionsbruch« (Hannah Arendt)2 des Zweiten Weltkriegs beschworen, dem »30jährigen Krieg des 20. Jahrhunderts« also. Benjamin zitiert im Trauerspielbuch den Literaturhistoriker Victor Manheimer, der schon im Jahr 1904 erklärte, dass »das Kunstgefühl noch keiner Periode seit zwei Jahrhunderten mit der ihren Stil suchenden Barockliteratur des siebzehnten Jahrhunderts im Grunde so verwandt gewesen ist, wie das Kunstgefühl unserer Tage.« (UdT 235) Und noch die psychoanalytische Entzifferung der sprachlichen Bestandteile des Unbewussten, deren Beginn Freud mit dem Erscheinen seiner...