Auftritt
Konstanz: Stillstand und Gewalt
Theater Konstanz: „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow. Regie Neil LaBute, Ausstattung Regina Fraas
von Bodo Blitz
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Assoziationen: Theater Konstanz
Die Zuneigung ist wechselseitig: Da ist Neil LaBute, einer der wichtigsten Dramatiker des amerikanischen Gegenwartstheaters. Und da ist das Theater Konstanz mit der nötigen Unaufgeregtheit abseits der Zentren. LaBute schätzt diese Ruhe, zudem die künstlerische Freiheit jenseits der Broadway-Marktmechanismen (siehe Interview TdZ 10/2014). Und Konstanz darf sich freuen, mit Neil LaBute einen außergewöhnlichen Regisseur für die Spielzeiteröffnung gewonnen zu haben.
Spannend ist dieses Zusammentreffen allemal: Ein amerikanischer Regisseur inszeniert ein russisches Drama mit einem deutschen Ensemble. Wer sich an hiesiges Regietheater gewöhnt hat, sollte sich zunächst umorientieren. Neil LaBute lässt sich in seiner Inszenierung von Tschechows „Onkel Wanja“ Zeit, viel Zeit. Sein künstlerischer Zugriff wirkt konkret, was Situation und Interaktion betrifft. Lähmung und Stillstand des Landlebens auf dem Gutshof werden schon in der Exposition breit ausgespielt. Im Hintergrund angebrachte Bühnenplakate bebildern den Prozess der Desillusionierung, den die Figuren durchlaufen, vom Birkenidyll zur Baumstumpf-Apokalypse. Onkel Wanja (Sebastian Haase) muss sich eingestehen, das Gut sein Leben lang nicht für einen glänzenden Wissenschaftler bewirtschaftet zu haben, sondern für einen egoistischen, alten Professor (Ralf Beckord). Sonja, die Tochter des Professors (Laura Lippmann), erfährt schmerzhaft, dass ihre Liebe zu dem Landarzt Michail Astrow (Thomas Fritz Jung) hoffnungsloser Schwärmerei gleichkommt. Dieser bewundert nämlich die attraktive Frau des Professors, Jelena (Natalie Hünig).
Aller Vergeblichkeit individueller Sehnsüchte zum Trotz: Bis zum Ende des Tschechow-Dramas, der Abreise des Professors mit seiner Frau vom Gut, fühlt sich das Konstanzer Publikum pudelwohl. Genießt die direkte, moderne Übersetzung von Elina Finkel, die klare, ausführliche Dialogführung, die Genauigkeit der Figurenzeichnung. Diese scheinbare Sicherheit, in die LaBute als Regisseur sein Publikum mühelos versetzt, ist allerdings trügerisch. Der Autor LaBute gibt Tschechows Drama eine völlig unerwartete Richtung – genau dann, wenn alle meinen, das Stück sei vorbei. Laura Lippmann rückt als Sonja die Möbel nach Abfahrt des Professors zurecht. Ihre Hoffnung ist es, wenigstens in der Rückkehr zum Arbeitsalltag mit Wanja etwas Trost finden zu können. Doch längst hat sich Sebastian Haases Wanja in eine LaBute-Figur gewandelt, nähert sich Sonja, umarmt sie, lässt sie nicht los, auch dann nicht, als Sonja sich wehrt und zu schreien beginnt. Die Zuschauer werden Zeugen einer Vergewaltigung. Der Eiserne Vorhang senkt sich, Sonjas Schreie bleiben hörbar. LaBute steigert den Schlussakkord brutaler Dissonanz dadurch, dass er beim Applaus die Schauspieler nicht auf die Bühne kommen lässt. Radikaler kann der Endpunkt einer Inszenierung kaum sein. Er lässt Sonjas finalen Versuch der Verdrängung gewaltsam scheitern.
Wie kommt es dazu, dass dieser provokante Schluss bei Tschechow funktioniert? Die dramaturgische Idee der Konstanzer Inszenierung, Tschechows Figuren zeitlich in den Kontext des Prager Frühlings zu versetzen, hat LaBute wohl erleichtert, freier mit der Textvorlage umzugehen. Jenseits von Ausstattung und Musik der sechziger Jahre bleibt diese Setzung allerdings relativ folgenlos. Produktiver erweist sich LaButes Kunst, dialogische Situationen so zuzuspitzen, dass vorhandenes männliches Begehren wiederholt ins Leere läuft. Eine Schlüsselfigur spielt dabei Natalie Hünig als Jelena. Sie lockt und enttäuscht Wanja in einer verstörenden Mischung aus Zugewandtheit und Distanz, Autonomie und Anlehnungsbedürfnis. Und Sebastian Haase spielt Wanja von Anfang an mit dem Subtext des Unberechenbaren. Zwei Schauspieler, die über das Regietheater die Nuancen des Abgrundes jenseits des realistischen Zugriffs gelernt haben. Ihr andeutungsvolles Spiel bereitet den gewaltsamen Schluss psychologisch vor. Ein Abend, den keiner der Zuschauer so schnell vergessen wird. //