Theater der Zeit

2.2.2 Immersive Theateraufführungen als ästhetische Wirklichkeitssimulationen

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

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Das Verb »simulieren« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »nachahmen«, »abbilden«, »[sich] ähnlich machen« oder »zum Schein vorgeben« (Dotzler, 2003, S. 509). In ästhetischen Debatten ist der Begriff der Simulation eng mit Dimensionen des Mimetischen verbunden. Im 16. Jahrhundert wurde »simulieren« primär im Sinne von »eine Krankheit vortäuschen« – also im Sinne einer heuchlerischen Absicht – verwendet; auch im 18. Jahrhundert dominierte eine (vornehmlich moralisch) diffamierende Semantik von Simulation als Trugbild und/oder Täuschung (ebd., S. 512ff.). Heute werden Computersimulationen in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen von der Medizin, Meteorologie bis zur Politik eingesetzt, um komplexe Szenarien zu visualisieren, anhand derer Möglichkeiten für die Zukunft durchgespielt werden können. Die Besonderheit einer Simulation ist nach Dotzler – mit Rosalind Krauss –, dass keine Möglichkeit mehr bestehe, Original und Kopie voneinander zu unterscheiden (ebd., S. 511), eine Simulation »kreiert vielmehr selbst ihre Wirklichkeit« (ebd., S. 518, Hervorhebung i. O.), die sich durch einen »Entzug der Differenz von Realität und Fiktion« (ebd.) auszeichne.

Es ist dieses ästhetische Prinzip der (temporären) Unentscheidbarkeit zwischen Fiktion und Realität bzw. zwischen realisierter, fiktiver Weltversion und sozial-relational geteilter Aufführungserfahrung, das immersives Theater im engeren Sinn auszeichnet. Wenngleich Zuschauer*innen wissen, dass sie an einer künstlerischen Inszenierung teilhaben, wenn sie immersives Theater besuchen, und wenngleich die gestaltete Weltversion durchaus auch als ästhetisch gestaltete in Erscheinung tritt61, so führt die komplexe Involvierung der geframten Zuschauer*innen in die diegetische Welt, in der Darsteller*innen im geteilten Aufführungsraum konsequent als Figuren reagieren und improvisieren und damit die Konsistenz der fiktiven Weltversion narrativ bekräftigen, dazu, dass Zuschauer*innen in Situationen verwickelt werden, deren Erfahrungsschatz sich trotz aller Fiktionalisierungen eminent real anfühlt. Dies hängt zuvorderst damit zusammen, was das für Weltversionen sind: In meinen zentralen Aufführungsbeispielen haben wir es mit Inszenierungen zu tun, die in theaterfernen Gebäuden – wie einer leeren Produktionshalle, einer leeren Kaserne oder einem leeren Warenhaus – entlang einer vorgegebenen Fiktion komplexe Rauminstallationen entwerfen, die den Anschein erwecken, gerade nichteine Theateraufführung, sondern ein bestimmtes Vereinsgebäude (Wir Hunde), ein Hotel (Sleep no more), ein Wohnhaus (Alma), eine Sozialstation (Das halbe Leid) oder einen Indoor-Themenpark (3/Fifths) zu besuchen – und damit also bestimmte gesellschaftliche Einrichtungen, die es so zwar nicht gibt, aber zumindest geben könnte.

An dieser Stelle möchte ich auf zwei historische Vorläufer von immersivem Theater aus der bildenden Kunst seit den sechziger Jahren hinweisen, auf die in der Forschung bislang noch nicht verwiesen wurde. Sie scheinen mir aber vor allem über das genannte ästhetische Prinzip der Unentscheidbarkeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit mit immersiven Theateraufführungen in genealogischem Zusammenhang zu stehen. Es handelt sich dabei um die »totale Installation« und die »fiktive Institution«. Ausgangspunkt für beide ist eine »Totalisierung der Bühne« (Gronau, 2019, S. 24, dt. TS), die mit der auch für das immersive Dispositiv geltenden, aufgehobenen Trennung der Sphären von Betrachter*innen und Objekt bzw. von Zuschauer*innen und Bühnenraum einhergeht. Ilja Kabakov hat seine Rauminstallationen als ›totale‹ Installationen im Sinne »vollständig bearbeitete[r]« Räume (vgl. Rebentisch, 2003, S. 164) verstanden: »Die ›totale‹ Installation ist einem Bühnenbild vergleichbar, dessen vierte Wand sich um den Betrachter – in zum Teil durchaus beklemmender Weise ›total‹ – schließt. […] Der Betrachter kann sie sich nur erschließen, indem er sich in ihr bewegt« (ebd.). »Total« – auch bei Kabakov in Anführungszeichen gesetzt – ist eine Installation, wenn den Besuchenden zwar Freiheiten suggeriert werden, ihnen einerseits die Möglichkeit gegeben wird, sich frei zu bewegen, verschiedene Positionen und Perspektiven auszuprobieren und sich ganz nach eigenem Interesse leiten zu lassen; sie zugleich aber andererseits auch (in dem Rahmen, in dem das möglich ist) gesteuert werden, z. B. durch eine bestimmte Raum-Dramaturgie, die Sukzession und Reihenfolge vorgibt, oder auch über das Assoziationsspektrum (zumeist aus dem kulturellen Gedächtnis oder kulturellen Imaginären), das der Raum beim Besuchenden auszulösen vermag (vgl. ebd., S. 165).

Auch in den in Rede stehenden Aufführungen schließt sich der szenische Raum um die Zuschauer*innen und er vermag sie nicht nur zu steuern, sondern sie außerdem temporär darin zu täuschen, um was für einen Ort es sich handelt. Schließlich werden Zuschauer*innen mit Kartenkauf aufgefordert, einen theaterfernen Ort aufzusuchen, der sich mimetisch an die Realität der jeweils erdachten fiktiven Weltversion anpasst. Beide Rauminstallationen – jene von Kabakov (oder auch von Gregor Schneider), aber auch jene, die die Szenografie immersiver Aufführungen ausmachen – sind überdies dadurch gekennzeichnet, nicht in erster Linie eine existierende außertheatrale Einrichtung abzubilden und zu repräsentieren, sondern vielmehr etwas über sie erzählen zu wollen. Dies ergibt sich daraus, dass bestimmte Ausstattungsdetails in einer Weise in Szene gesetzt werden, dass sie potentiell Aufmerksamkeit der Besuchenden auf sich ziehen, z. B. ein Brief, der lesbar auf dem Tisch liegt oder noch angefangen in der Schreibmaschine klemmt, eine offene Schranktür oder Schublade, ein Fleck auf dem Boden, eine halb leere Kaffeetasse usw. Aus Kabakovs »stummen Szenen« (vgl. ebd.), die die Räume unter Mitwirkung der Imagination der Besucher*innen zu erzählen vermögen, werden im immersiven Theater belebte Szenen, insofern die gestalteten Räume im Rahmen der Fiktion bewohnt werden. Indem Darsteller*innen in ihren Figuren die Räume der Installation als ihre Lebenswelt behaupten, potenziert sich der Grad von Narrativierung und Fiktionalisierung. Wichtig ist festzuhalten, dass es sich bei den totalen Installationen, die im immersiven Theater von Figuren belebt werden und ihre Zuschauer*innen komplex einbinden, zumeist um konkrete Institutionen62 handelt, wie das fiktive Vereinsgebäude in Wir Hunde, das fiktive McKittrick-Hotel in Sleep no more oder der fiktive Indoor-Themenpark SupremacyLand in 3/FifthsSupremacyLand, und damit durchweg um künstlerische Entwürfe von Institutionen, die es so im außertheatralen Kontext nicht gibt, aber durchaus geben könnte. Womit wir bei dem zweiten historischen Vorläufer aus dem Feld bildender Künste wären: der fiktiven Institution.

Unter der Genrebezeichnung »fiktive Institutionen« stellt die Kunsthistorikerin Theresa Nisters in ihrer Monografie Die fiktive Institution als ästhetische Strategie (2019) vornehmlich solche Rauminstallationen vor, die im Kontext institutionskritischer Arbeiten seit 1968 gezielt als fiktive Museen oder Akademien, also fiktive Kunstinstitutionen, entworfen und gerahmt worden sind, so u. a. die Académie Worosis Giga von Gérard Gasiorowksi, Jörg Immendorffs LIDL-Akademie oder Marcel Broodthaers’ fiktives Anti-Museum Musée d’art Moderne, Departments des Aigles. Die Kunsthistorikerin Regina Wenninger fasst »fiktive Institutionen« unterdessen noch weiter, und zwar als eine »Form der Fiktion im Sinne simulierter Alltagswirklichkeit […], die sich der Nachahmung alltäglicher Organisationsstrukturen und institutioneller Praktiken bedienen« (Wenninger, 2014, S. 485). Referenzbeispiele sind künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum wie Ingold Airlines von Res Ingold oder Schlingensiefs Ausländer raus!.63 Während die Beispiele von Nisters dezidiert im Kontext einer künstlerischen Kritik an Ordnungen und Strukturen des Kunstbetriebs zu deuten sind, werden in Wenningers Beispielen gesellschaftliche Institutionen auch über den Kunstkontext hinaus persifliert und zum Gegenstand der Kritik erhoben. Auch für ihre Beispiele fiktiver Institutionen lässt sich die Unentscheidbarkeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit als zentrale ästhetische Strategie ausmachen. Die Arbeiten täuschenihre Rezipient*innen bezüglich des Wahrheitsgehaltes und bringen die Wirklichkeit der Weltversionen im Modus des Fingierens (vgl. ebd.) performativ hervor.

Im Unterschied zu den mit Nisters und Wenninger vorgestellten Beispielen fiktiver Institutionen, die mit künstlerischen Mitteln Institutionen erfinden und kreieren, die es so in der Wirklichkeit (noch) nicht gibt, haben wir es bei den meisten gestalteten, fiktiven Institutionen im immersiven Theater mit hyperrealistischen Nachbildungen verschiedener gesellschaftlicher Einrichtungen zu tun, die es nicht gibt, aber geben könnte. Mit Übertreten der Schwelle zum Aufführungsraum werden Zuschauer*innen nicht mehr als Theaterpublikum, sondern als Besucher*innen jener fiktiven Institutionen adressiert. Dabei werden sie durch verschiedene räumliche, narrative, multisensorische, emotionale und handlungsbezogene Strategien in die theatrale Realisierung der zugrunde liegenden Fiktion involviert – und zwar dergestalt, dass sie im Sinne Wenningers gemeinsam mit den Figuren die Alltagswelt der fiktiven Institutionen simulieren.

Während Scott Magelssen für immersive Arbeiten wie die in Rede stehenden von Punchdrunk – in Abgrenzung zu den in Kapitel 1.3 vorgestellten, eher didaktischen Simmings im angewandten und/oder transkulturell vermittelnden Bereich – die Bezeichnung ästhetische Simulationen (»aesthetic simmings«, Magelssen, 2014, S. 17) wählt, ziehe ich die Wendung Wirklichkeitssimulation(en) vor. Magelssen wählt den Begriff der Simulation im Rückgriff auf die Art und Weise, wie Rezipierende interaktiv in Computerspiele einbezogen werden (vgl. ebd., S. 192), insbesondere mit Blick auf das Spielprinzip, das die 1989 entwickelte populäre Sim-Reihe auszeichnet. Für sie ist zentral, dass Nutzer*innen eine vorgegebene unbebaute Umgebung mit Infrastrukturelementen versehen, also entlang der programmierten Möglichkeiten eigenständig ein Worldbuilding einer virtuellen Modell-Stadt betreiben und damit auch das dominante Narrativ in diesem entworfenen Mikrokosmos mithervorbringen. Überträgt man dies vom virtuellen in den analogen Raum des Theaters, so können im immersiven Theater involvierte Zuschauende die theatral gerahmte, durchgestaltete Weltversion zwar nicht mitaufbauen, aber sind eingeladen, sie für die Dauer der Aufführung – von drei bis zwölf Stunden in den hier verhandelten Beispielen – kennenzulernen und sich darin so zu bewegen, als sei es keine Theateraufführung, sondern außertheatrale Wirklichkeit. Gemeinsam mit den Darsteller*innen in ihren Figuren bringen Zuschauer*innen sich mit ihren Gesprächen, Reaktionen, Handlungen und Emotionen in die Wirklichkeitssimulation ein und bringen sie auf diese Weise mit hervor.

Im Fall von SIGNAs Das halbe Leid wird z. B. in jeder Aufführung die innerdiegetisch kontinuierlich fortlaufende Lebenswirklichkeit von 42 fiktionalisierten, obdachlosen Menschen simuliert, die in der fiktiven sozialen Einrichtung gleichen Namens Schutz suchen.64 Für die Dauer von zwölf Stunden verkörpern die Darsteller*innen das Leben ihrer Figuren – mit allem was dazugehört: schlafen, essen, duschen, kämpfen, weinen etc.65 Für die Aufführung ist keine spezielle Szenenfolge vorab festgelegt. Es gibt lediglich einige wenige zeitliche Orientierungspunkte wie z. B. die ab 24 Uhr geltende Nachtruhe. Was sich dazwischen ereignet, ergibt sich aus den Begegnungen zwischen Darsteller*innen und Gästen. Der Verlauf der Aufführung hängt davon ab, wie sich das Publikum in die Simulation einfügt, mit welchem Engagement es an Therapiesitzungen teilnimmt und sich für die Leidensgeschichten ihrer Mentor*innen interessiert. Insofern gleicht die theatrale Realisierung der fiktiven Institution »Das halbe Leid e.V« einer »totalen Simulationsmaschine« (Gronau, 2010, S. 183) unter künstlerisch gestalteten realen Bedingungen, für deren Verlauf innerhalb des narrativen Grundgerüsts der Fiktion verschiedene Szenarien denkbar sind.66 In der Hamburger SIGNA-Produktion Söhne und Söhne wird sogar innerhalb der Diegese in einigen Abteilungen mit konkreten szenischen Simulationen gearbeitet. So galt es z. B. in der Abteilung für Resistenzschulung als kleine Gruppe teilnehmender Zuschauer*innen zu simulieren, wie man eine verletzte Person aus einem Zelt rettet, das unter Beschuss steht, und in der Krankenstation wurde man aufgefordert, sich im Rahmen einer Sterbesimulation das eigene Ableben vorzustellen.

Die Analogie zwischen (Computer-)Simmings und immersiven Theateraufführungen besteht darin, dass mit der theatralen Realisierung einer fiktiven Institution (inklusive der Lebenswirklichkeit ihrer fiktionalisierten Bewohner*innen) gleichfalls eine theatral gerahmte, modellhafte Welt im Kleinen – ein theatraler Mikrokosmos67 – entworfen wird, in dem verschiedene Szenarien wie unter einem Brennglas unter Einbezug der mit-wirkenden Zuschauer*innen spielförmig erfahren und durchlebt werden können.

Als Medien der Immersion, die Körper und (gestaltete) Umgebung auf je spezifische Art und Weise koppeln, operieren all meine Beispiele auf der Ebene der Formierung von Selbst-/Weltverhältnissen – und zwar, weil in den Wirklichkeitssimulationen für die teilnehmenden Zuschauer*innen Realität des Aufführungsgeschehens und fiktive Weltversion systematisch miteinander verflochten werden. Auf diese Weise sehe ich im immersiven Theater die in Kapitel 1 herausgearbeitete Figur einer symptomatischen Verwobenheit von immersion as absorption und immersion as transportation aktualisiert. Der Gast erlebt sich beständig sowohl als Theaterzuschauer*in mit all dem (in-)dividuell verkörperten Wissen um Konventionen und Verhaltensregeln als auch als soziales Wesen, das in Beziehung mit einer fiktiven Institution und ihren jeweiligen Rollen(erwartungen)68 gesetzt wird. Darüber hinaus werden die Besucher*innen strategisch über intime One-on-Ones und/oder simulierte (fiktional gerahmte) therapeutische Konstellationen als Privatpersonen mit ganz persönlichen autobiografischen Erlebnissen und Empfindungen angesprochen. Und diese sich ständig überlagernden und oszillierenden Modi des Zuschauer*in-Seins, die von den komplexen und vielgestaltigen Involvierungsstrategien in Gang gesetzt werden, möchte ich wirkungsästhetisch als ein Spektrum von Vereinnahmungsprozessen analysieren. Dabei wird sich in den Analysen zeigen, dass involvierte Zuschauer*innen sowohl auf der Ebene des Aufführungsgeschehens als auch auf der Ebene des fiktionalisierten Mikrokosmos vereinnahmt werden.

61 Für SIGNA-Arbeiten wäre hier vor allem die Arbeit mit Farbkonzepten anzuführen, die dafür sorgt, dass die szenischen Räume trotz aller realistischen Ausstattungsdetails als künstlerisch gestaltete wahrnehmbar bleiben. In Punchdrunk-Arbeiten ist es neben dem auffälligen Lichtdesign, das szenische Räume atmosphärisch in Szene setzt, vor allem die Tatsache, dass szenische Räume – wie ein Sanatorium und ein Labyrinth oder ein Loft und ein Friedhof – ineinander übergehen und damit die realistischen Rauminstallationen immer auch als künstlerisch gestaltete markiert sind.

62 An dieser Stelle adressiere ich ein dezidiert »topologisch-materielles« (vgl. Brüggmann, 2020, S. 36) Verständnis von Institutionen als bestimmte gesellschaftliche Einrichtungen und Organisationen; zu späterer Stelle wird auch das »erweitert-immaterielle[]« (ebd.) Institutionsverständnis zur Sprache kommen und für die Analyse von Vereinnahmungsprozessen fruchtbar gemacht werden, vgl. Kap. 4.1.

63 Auch die Aktionen des Aktivistenduos The Yes Men sowie aktuelle Interventionen vom Zentrum für Politische Schönheit oder vom Peng! Collective ließen sich hier einordnen.

64 Der Simulationsbegriff zur Beschreibung von SIGNA-Arbeiten taucht in der theaterwissenschaftlichen Forschung zumeist dort auf, wo Arbeiten wie z. B. Die Erscheinungen der Martha Rubin mit Computerspielen verglichen werden, vgl. z. B. Tögl, 2011, insbesondere S. 30. Allerdings spricht auch Signa Köstler selbst im Zusammenhang ihrer ersten Produktion Twin Life von einer »simulation of reality«, vgl. Köstler, 2016. Es ist ferner nicht abwegig, dass SIGNA-Arbeiten auch von computergestützten Simmings inspiriert sind, schließlich ist nach Angaben Signa Köstlers just SIMS dasjenige (einzige) Computerspiel, das sie in den neunziger Jahren vielfach selbst gespielt habe, vgl. Köstler/Rakow, 2013. Im öffentlichen Publikumsgespräch zu Das halbe Leid bezeichnete Signa Köstler ihre Arbeiten auch selbst explizit als »Wirklichkeitssimulationen«: »[E]s ist eine Wirklichkeitssimulation, […] wir versuchen eine Welt zu schaffen, wo man woanders hin transportiert wird, dass man das Gefühl hat, das Wirkliche ist zugleich auch Unwirkliches.«

65 Gerade in den Arbeiten von SIGNA wird während des Probenprozesses immens viel Arbeit in die Entwicklung konsistenter Figurenbiografien investiert. Da SIGNA-Produktionen zumeist mit einem Zuschauer*innen-Darsteller*innen-Verhältnis von etwa 2:1 arbeiten, liegt ihr Fokus bei der theatralen Realisierung der Fiktion darauf, dass Zuschauer*innen die jeweilige Institution über die in ihnen beheimateten Figuren(biografien) kennen- und verstehen lernen. Damit die theatrale Realität der Fiktion plausibel und konsistent auf die Gäste wirkt, müssen Darsteller*innen während des Probenprozesses alle biografischen Daten aller Charaktere verinnerlichen, müssen wissen, wer mit wem wie lange und warum in welchem Verhältnis steht oder stand. Signa Köstler fragt dieses Wissen, wie sie mir in persönlichen Gesprächen mitteilte, sogar in Form von Tests vor Beginn der Aufführungsphase ab.

66 Theaterwissenschaftler Andreas Wolfsteiner bezeichnet Arbeiten wie SIGNAs Bleier Research Inc. oder Rimini Protokolls Weltklimakonferenz deshalb auch als »Preenactments«, als Aufführungen, die zukünftige, alternative Szenarien entwerfen, vgl. Wolfsteiner, 2018, S. 141. Zum Begriff und zu Phänomenen des Preenactments in zeitgenössischen performativen und darstellenden Künsten siehe auch Czirak et al., 2019.

67 Arthur Köstler hat in öffentlichen Publikumsgesprächen selbst häufig den Begriff des »Mikrokosmos« verwendet, um über SIGNAs gestaltete Weltversionen zu sprechen.

68 Der Begriff der Rolle hebt hier auf die Goffmansche Dimension des Spielens einer bestimmten, eingeübten sozialen Rolle ab (vgl. Goffman, 2003) und dezidiert nicht auf das zuschauerseitige Spielen einer Rolle, wie es in LARPs praktiziert wird. Wenngleich insbesondere SIGNA-Produktionen gelegentlich in Analogie zu Live-Rollenspielen betrachtet werden (so z. B. Schlickmann, 2016; Wihstutz, 2012, S. 100; Tecklenburg, 2014, S. 146), möchte ich an dieser Stelle auf den signifikanten Unterschied zwischen LARPs und immersivem Theater hinweisen: Zuschauer*innen immersiven Theaters bereiten sich im Gegensatz zum LARP in aller Regel nicht auf eine bestimmte Rolle – im Sinne einer bestimmten zu verkörpernden Figur – vor und gestalten diese nicht vorab von der Rollenbiografie bis zum Kostüm. Dies wurde mir empirisch in den zahlreichen Interviews mit SIGNA-Zuschauer*innen bestätigt.

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