Auftritt
Spielart-Festival München: „Sie sind gelaufen, damit ich gehen kann“
„Yoldaş – Frauen, die einander halten“ von Nihan Devecioğlu – Konzept, Interviews, Performance, Künstlerische & Musikalische Leitung, Video & Kamera Cana Bilir–Meier , Tizian Stromp Zargari, Mitarbeit Musik & Konzept Alexey Kokhanov , Mitarbeit Regie Frank Abt , Dramaturgie Viktorie Knotková Szenografie Ragna Heiny, Sounddesign & Technische Leitung Ada Binaj
Assoziationen: Theaterkritiken Bayern

„Ich erinnere mich an das fremde Gefühl im Kindergarten!“ Immer wieder lässt Nihan Devecioğlu Sätze mit diesen Worten beginnen: „Ich erinnere mich …“. Die drei Worte sind so etwas wie der Kehrvers des Abends. Zunächst sind da Devecioğlus eigenen Erinnerungen an das Gefühl fehlender Zugehörigkeit als Kind sogenannter Gastarbeiter:innen in Deutschland: „Ich erinnere mich an meine Angst. (…) Und ich fragte meine Mutter: Wieso bin ich nicht blond? Dann wäre doch alles viel einfacher!“
Nach diesem persönlichen Prolog rückt Nihan Devecioğlu aber schon bald Erinnerungen an die Generation ihre Eltern in den Mittelpunkt, vor allem an die türkischen Frauen, mit denen sie aufgewachsen ist. Frauen wie ihre Tante Emine, die fast vier Jahrzehnte für BMW Stoffbezüge für bis zu 35 Autositze täglich genäht hat. Viel Arbeit, wenig Freizeit. Härteste Plackerei bei bescheidenem Lohn, aber großer Solidarität unter den Arbeiterinnen, die für Emine zu lebenslangen Freundinnen werden sollten – auf Türkisch „Yoldaş“, also „Kameradinnen“, „Gefährtinnen“.
„Yoldaş“ ist eine Soloperformance von Sängerin Nihan Devecioğlu, die sie gemeinsam mit Regisseur Frank Abt entwickelt hat. Devecioğlu wurde in Istanbul geboren, ist in München aufgewachsen, im Umfeld des dortigen BMW-Werks. Dass es in „Yoldaş – Frauen, die einander halten“ (wie der Abend mit vollem Titel heißt) um BMW geht, also nicht um Audi, VW oder Mercedes, ist durchaus von Belang. Das Münchner Spielart-Festival, wo die Produktion ihre Uraufführung erlebte, verdankt seine Existenz einer Kooperation zwischen der bayerischen Landeshauptstadt und dem Autohersteller, die es je zur Hälfte finanzieren. Bei vollumfänglicher Unabhängigkeit, wie die Kommune und vor allem der Konzern betonen. „Yoldaş“ ist so etwas wie der Beweis für diese inhaltliche Freiheit, erzählt der Abend doch (nicht unbedingt im Sinne einer Image-Kampagne für BMW) von Schufterei im Fließbandbetrieb an der Grenze des Erträglichen.
Absicht oder Zufall: bei Spielart wurde „Yoldaş“ am 40. Jahrestag des Erscheinens von Günter Wallraffs Buch „Ganz unten“ gezeigt, jenes berühmten Undercover-Reports, in dem der Investigativ-Journalist die unmenschliche Ausbeutung und Ausgrenzung aufdeckte, denen Gastarbeiter in den 1980er Jahren ausgesetzt waren. Im Vergleich dazu nehmen sich die Bedingungen, von denen die Frauen in Devecioğlus Stück berichtet, einigermaßen human aus. Doch wenn Tante Emine konstatiert, Deutschland habe ihr Arbeit gegeben, dafür Jugend und Gesundheit genommen, dann lässt auch das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Emine und ihre Freundinnen, also die Protagonistinnen des Abends, stehen hier nicht persönlich auf der Bühne. Sie tauchen nur in Devecioğlus Erzählungen auf. Und vor allem in aufgezeichneten Interviews, die als Videos auf die Backsteinwand im Münchner Kulturzentrum Einstein projiziert werden. Auf der Bühne selbst gibt es bloß ein paar Mikrophone auf der weitgehend leeren Spielfläche zu sehen, keine Kulissenteile oder Requisiten, nur noch eine E-Gitarre, einen Laptop mit Sound-Samples sowie ein Loopgerät, mit dem Devecioğlu ihre Stimme live aufnehmen und dann in Endlosschleife wiedergeben kann, um so den eigenen Gesang in mehreren Klangschichten übereinander zu legen. Auf diese Weise strukturiert sie die Performance mit Tönen, Rhythmen, Musik und Liedern, die von Wehmut und Wärme zeugen.
Einmal animiert sie dabei das Publikum mitzusingen. Und die bei der Premiere stark präsente türkisch(stämmig)e Community stimmt gerührt mit ein. Zählt man als Zuschauender, wie der Autor dieser Zeilen, zu denjenigen, die man (in Ermangelung eines besseren, weil weniger problematischen Begriffs) gemeinhin als „biodeutsch“ bezeichnet, beschert einem diese Gesangs-Szene einen Moment der Fremdheitserfahrung. Aber frei von Häme im Sinne von: „Da seht Ihr Mal, wie das ist, wenn man außen vor bleibt!“ „Yoldaş – Frauen, die einander halten“ kommt ohne Aggression und Anklage aus. Vielmehr ist der Abend ein Plädoyer für Empathie.
Es ist nicht so, dass man Erinnerungen wie Nihan Devecioğlu sie teilt, noch nie gehört hätte. Und doch sind sie bei Weitem noch nicht oft genug erzählt worden und deshalb nach wie vor unterrepräsentiert im gesellschaftlichen Diskurs im Allgemeinen wie auch im Theater im Speziellen. Das gilt umso mehr für die Geschichten der so genannten Gastarbeiterinnen.
Bemerkenswert ist zudem die ungewöhnliche, ungeheuer einnehmende Form einer Art poetischen Dokumentartheaters; und geradezu bestechend, dass der Abend weitgehend ohne Verbitterung auskommt. Das würde die Frauen, von denen er berichtet, auch nur in die Opferrolle drängen. Die Zumutungen, denen sie ausgesetzt waren, werden in keinem Moment verschwiegen, vor allem aber feiert Nihan Devecioğlu die Stärke der Yoldaş – eine Stärke, die sie gegen Ende dieser 75 tief berührenden Theaterminuten intensiv erfahrbar werden lässt: Zu einem Strom projizierter historischer Fotos aus den 1980ern und Bewegtbildern aus dem BMW-Werk stapelt sie nach und nach mehrere Lagen von Sounds übereinander, bis diese sich zu einer monumentale Klanglandschaft auftürmen – der Moloch Fabrik, in dem sich die Gastarbeiterinnen behauptet haben.
„Sie sind gelaufen, damit ich gehen kann“, singt Nihan Devecioğlu am Schluss ihrer Erinnerungsarbeit. Es ist eine tiefe Verbeugung vor den Yoldaş, für die die Performerin ihrerseits den begeisterten Beifall des Publikums absolut verdient hat.
Erschienen am 27.10.2025
















