Einleitung
von Julia Speckmann und Wolfgang Schneider
Erschienen in: Recherchen 111: Theatermachen als Beruf – Hildesheimer Wege (06/2017)
Von der Lehre in Laboratorien und dem Freiraum Forschung
Hildesheim ist Großstadt. Die Stadt hat dank Zuwanderung über 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner und geriert sich gelegentlich als Kulturkapitale Niedersachsens. 2025 will die kommunale Gesellschaft Kulturhauptstadt Europas werden, so wurde es per Ratsentscheid beschlossen.
Kulturell geprägt wird Hildesheim durch gleich zwei Weltkulturerbestätten, den fast 1150 Jahre alten Dom und die tausendjährige Michaeliskirche. Mitten in der Stadt gibt es ein von den Bürgerinnen und Bürgern vor mehr als hundert Jahren begründetes Stadttheater, seit geraumer Zeit firmiert es als „Theater für Niedersachsen“ und ist Landesbühne. Freies Theater gibt es institutionalisiert im soziokulturellen Zentrum, der Kulturfabrik Löseke und in dessen unmittelbarer Nähe im Theaterhaus.
Die Dichte Hildesheimer freier Theatergruppen ist in Deutschland sicherlich einmalig. Sie hießen Mahagoni, heißen ASPIK, R.A.M., Fata Morgana, Karo Acht, Theater Kolchose, machina eX, Turbo Pascal, vorschlag: hammer, Frl. Wunder AG, Markus&Markus, cobratheater.cobra, pulk fiktion, VOLL:MILCH oder ganz einfach werkgruppe und seit mehr als 25 Jahren auch Türkisch-Deutsches Theater.
Die Vielfalt hat ihren Grund. Dieser liegt ein paar Kilometer außerhalb des Stadtzentrums auf der Domäne Marienburg, einer mittelalterlichen Wasserburganlage mit Turm, Hohem Haus, Pferdeställen, Scheune und Pächterhaus – als Kulturcampus von der Universität genutzt und seit drei Jahrzehnten Domizil des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation.
Die Qualität hat ihre Namen: Theaterprofessoren wie Hajo Kurzenberger als Gründervater und Hartwin Gromes, der Professor für Populäre Kultur Hans-Otto Hügel, Wolfgang Löffler als Professor für Theatermusik und Kollegen der Medienwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft entwickelten den Studiengang Kulturpädagogik, der 1978 die ersten Studierenden aufnahm.
Theaterlernen und Theatermachen
Das Theater stand dabei von Anfang an im Mittelpunkt von Lehre und Forschung, Theorie und Praxis, Seminaren und Projekten. Austragungsort der performativen Labore und Experimentierbühne der darstellenden Künste war u. a. eine alte Fabrikhalle, die wegen ihrer früheren Nutzung als Lagerstätte für Speiseeis als „Eishalle“ in die Geschichte der praktischen Theaterwissenschaft eingegangen ist. Heute steht an gleicher Stelle eine Black Box, also ein Theaterraum, der immer wieder neu erfunden werden will; heute lehrt dort eine neue Generation von Professorinnen und Professoren mit neuen Methoden, neuen Curricula und immer wieder neuen Generationen Studierender.
Zur Auseinandersetzung mit innovativen Theaterformaten kommt es auch beim jährlich stattfindenden Diskursfestival State of the Art. Alle zwei Jahre gibt es ein Projektsemester mit theatralen Ernstfällen, der Erprobung künstlerischer Prozesse und interdisziplinären Produktionen und alle drei Jahre das von Studierenden organisierte Festival transeuropa mit internationalen Koproduktionen und Diskursen zu ästhetischen und inhaltlichen Entwicklungen im Theater. Kunstvermittlung, Kulturmanagement und Theaterpolitik sind weitere Bausteine in den Studien der Hildesheimer Kulturwissenschaften.
Die Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, früher mit einem Diplom, heute mit Bachelor- und Masterabschlüssen ausgezeichnet, kommen an auf dem Arbeitsmarkt. Sie sind in der gesamten Theaterlandschaft zu finden, engagiert als Dramaturginnen und Dramaturgen, als Regisseurinnen und Regisseure, sie schauspielern und performen, managen und veranstalten Theater, und auch in Forschung, Lehre und Ausbildung finden sie sich wieder.
Ausgangspunkt dieser Zusammenstellung von Positionen und Personen ist die bei Evaluationen und Akkreditierungen stets gestellte Frage nach der employability, der Beschäftigungsfähigkeit der Alumni. Wenngleich eine Universität keine Ausbildungsstätte ist, die direkt für den Markt ausbildet, so hat sie sehr wohl eine Verantwortung denjenigen gegenüber und interessiert sich für den Werdegang derer, die vor Ort studieren und hoffen, mit dem dort erlangten Rüstzeug in der Arbeitswelt zu bestehen. Daher fragt diese Publikation auch nach Bedingungen für das Gelingen von guter Theaterarbeit.
Was brauchen die Alumni von morgen?
Was haben die Alumni in Hildesheim „gelernt“, was haben sie in Erfahrung bringen können, was haben sie mitgenommen? Was braucht es, um Theater zu machen, und was kann ein universitäres Studium dazu beitragen? Wie lauten die Fragestellungen einer angewandten Theaterwissenschaft, welche sind die Gegenstände des Curriculums, wie viel Praxisorientierung darf oder muss sein? Und wenn sich Gesellschaft ändert, wenn sich Theater weiterentwickelt, wie reagieren die Verantwortlichen von Studiengängen wie Szenische Künste und Inszenierung der Künste und der Medien? Was brauchen Studierende von heute als Alumni von morgen, was müssen sie wissen, was versetzt sie in die Lage, auch zukünftig Theater zu machen?
Die Alumni selbst nennen Praxiserfahrungen als Hauptkriterium für einen erfolgreichen Berufseinstieg und auch von außen wird dieser Blick auf Hildesheim geworfen, werden die Alumni für ihre an der Kombination von Theorie und Praxis geschulten Schnittstellen-Kompetenzen geschätzt. In dieser Publikation kommen also die Macherinnen und Macher des Theaters zu Wort, die aus der niedersächsischen kleinen Großstadt stammen – sicher nicht repräsentativ für die gesamte Theaterlandschaft, allerdings sicher den zeitgenössischen Diskurs und die Rolle der darstellenden Künste in der Gesellschaft markierend und das politische Desiderat nach mehr Theater für mehr Menschen durch Teilnahme und Teilhabe thematisierend. Alle Autorinnen und Autoren, alle Interviewten und alle Porträtierten haben an der Universität Hildesheim studiert und/oder gelehrt – zum Teil bis heute.
Praktische Auswirkungen Praktischer Theaterwissenschaft
Klaus Irler zeigt, dass die Stadt Hildesheim vor allem für ihre freie Theaterszene bekannt ist. Das verdeutlicht er anhand der Vielzahl von Theatermachenden, die an der Universität ausgebildet wurden, in Stadt und (Deutsch-)Land aktiv sind und – aus Hildesheim kommend – immer wieder neue Impulse für die Theaterszene liefern. Die beiden mittlerweile emeritierten Erfinder der Praktischen Theaterwissenschaft Hartwin Gromes und Hajo Kurzenberger berichten von der Entstehung und den Motiven bei der Weiterentwicklung des Hildesheimer Studienganges. Dabei gehen sie auf die drei Säulen des Studiums ein: das Projektsemester, das Festival transeuropa und die soziale Ästhetik, die sich bei der Theaterarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern entwickelte. Die derzeit für die Theaterlehre in Hildesheim verantwortlichen Professoren Jens Roselt und Matthias Rebstock sowie Professorin Geesche Wartemann antworten darauf mit der Darstellung ihrer Sicht auf den Studiengang heute. Sie betonen einerseits, wie sehr es auf die eigene Haltung der Studierenden ankommt, die sich während des Studiums entwickeln soll. Andererseits geht es nach wie vor um eine Verbindung von Forschungsperspektive und Theatermachen, von Theorie und Praxis. Welche Früchte diese Idee trug, wird im Gespräch mit Julia Lochte und Matthias Günther deutlich. Als Alumni der ersten Stunde gehen die Dramaturgin und der Dramaturg auf die Bedeutung des Studiums für ihre weitere Theaterarbeit ein. Ausgehend von der damals gegründeten freien Theatergruppe Theater Aspik erzählen sie von ihrem Weg ins System des Stadttheaters. Aus dem Biotop in Hildesheim führen allerdings nicht nur Pfade in die Theaterwelt, sondern immer wieder auch in die Theaterwissenschaft. Wie sie heute ihre Lehre gestalten und was das mit ihrer Prägung zu tun hat, erläutern neun Lehrende, die in Hildesheim ausgebildet wurden und/oder ausgebildet haben.
Am besten lässt sich die Vielfalt des Hildesheimer Theaterlernens, -lehrens und -machens mit den Geschichten von Absolventinnen und Absolventen darstellen. Im Zentrum stehen deshalb 13 Gespräche und Porträts der in Hildesheim Ausgebildeten aller Generationen. Sie berichten von ihrem Theaterschaffen, inwiefern das Studium dieses beeinflusst hat und immer noch beeinflusst, von der Situation in der freien Theaterszene und an Stadt- und Staatstheatern sowie von ihren Vorstellungen, was Theater heute und in Zukunft sein kann und sollte.
Dass die Lage nicht nur im freien Theater, sondern am Theater grundsätzlich oft prekär ist, verdeutlicht Insa Peters mit ihrem Bericht über die Tätigkeit als Regieassistentin. Ihr für das letzte transeuropa- Festival zum Thema „(Wie) wollen wir in Zukunft arbeiten?“ verfasstes Plädoyer für ein solidarisches Miteinander all jener, die am Theater arbeiten oder arbeiten wollen, lässt erkennen, was schiefläuft im Theaterbetrieb. Ebenfalls in diesem Sinne produzierte das Hildesheimer Theaterkollektiv VOLL:MILCH sein Stück Ein Performer findet die roten Schuhe, stellt sich vors Theater und klopft an als kritische Antwort auf die Evaluation der freien Theaterszene in Frankfurt am Main. Es thematisiert die schwierige Situation der freien Theatermachenden und zeigt beispielhaft, wie Theater aus Hildesheim sein kann. Jens Rostelt verknüpft diese Umstände mit einer Auseinandersetzung mit der Förderung des freien Theaters. Er beschreibt Freud und Leid beim Lesen von Projektanträgen der freien Szene. Für ihn wird dabei deutlich, wie sehr der Innovationszwang und die Prozesshaftigkeit des Theatermachens immer wieder mit den Zwängen des Antragschreibens kollidieren. Zuletzt geht es darum, welche Innovationen für die deutsche Theaterlandschaft regelmäßig von Hildesheim ausgingen und ausgehen und welche Bedeutung das Theatermachen für Gesellschaften insgesamt innehaben kann. Die Publikation schließt darauf aufbauend mit einem Plädoyer für die ideelle und materielle Wertschätzung der freien darstellenden Künste durch Kulturpolitik.
Als Herausgeberin und Herausgeber danken wir allen an der Publikation beteiligten Personen für ihre Beiträge, ihre Gesprächsbereitschaft und ihre Geduld!