2.1.2 Das mit-wirkende Publikum: Von der Kopräsenz zur Relationalität
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Erika Fischer-Lichte hat mit ihrer Ästhetik des Performativen einen die deutschsprachige Theaterwissenschaft dominierenden Aufführungsbegriff geprägt, der die Aufführung nicht nur als ästhetischen, sondern dezidiert auch als sozialen Prozess begreift. Nach Fischer-Lichte bringen Zuschauer*innen und Akteur*innen eine Aufführung stets gemeinsam im Modus einer autopoetischen »Feedback-Schleife« (Fischer-Lichte, 2004a, S. 59) hervor. Entscheidendes Kriterium hierfür ist die leibliche Kopräsenz von Zuschauer*innen und Akteur*innen im Raum der Aufführung. Denn was immer eine der beiden Gruppen tue, habe Auswirkungen auf die Wahrnehmung der jeweils anderen und dieser Prozess sei weder vollständig plan- noch vorhersehbar (vgl. ebd.). Sowohl die Materialität der Aufführung als auch damit verknüpfte bedeutungsstiftende Wahrnehmungsordnungen würden performativ hervorgebracht, träten auf diese Weise nur einmal in Erscheinung und seien demnach hochgradig kontingent und transitorisch (vgl. Fischer-Lichte, 2004b, S. 14). Dies habe zur Folge, dass man nicht mehr binär von Produzent*innen und Rezipient*innen, sondern vielmehr von beiderseitigen »Mit-Erzeuger[*innen]« (Fischer-Lichte, 2004a, S. 81) sprechen müsse.
Es ist nun bezeichnend, dass sie ihre performative Theorie einer Aufführung nicht an Theateraufführungen entfaltet, die im klassischen Theaterdispositiv verortet sind, sondern u. a. an Arbeiten der Performancekunst wie Lips of Thomas (1975) von Marina Abramović, in denen die strikte Trennung von Zuschauerraum und Bühne bereits aufgehoben ist. Zentral für die Theoriebildung werden solche Situationen, in denen Zuschauende mit einem szenischen Vorgang (wie der sich vor ihren Augen selbst körperlich verletzenden Performerin) konfrontiert werden, der für sie eine »Grenzerfahrung« (ebd., S. 89) auszulösen vermag. Mit soziologischen und ritualtheoretischen Konzepten des Rollenwechsels, der Liminalität und der Rahmenkollision erläutert Fischer-Lichte, wie es für Zuschauer*innen in solchen Situationen zu einer konstitutiven Verschmelzung von Ästhetischem und Sozialem komme, welche – und das ist die Ziellinie ihrer Argumentation – in eine ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung münden und für die beteiligten Individuen ein Transformationspotential berge könne (ebd., S. 305ff.), insofern sie (möglicherweise, denn empirisch ist das kaum zu belegen) verändert aus der Aufführung hervorgingen. Innerhalb der Theorie findet dann gewissermaßen eine Fokusverschiebung von der Medialität und Materialität der Aufführung zum potentiellen Erfahrungsschatz der teilnehmenden Zuschauer*innen statt.
In der Mehrzahl der von ihr diskutierten Beispiele verbleibt das Publikum die meiste Zeit im Modus distanzierter Betrachtung, wird aber an irgendeinem Zeitpunkt in der Aufführung in eine (oder mehrere) Situation(en) involviert, die einen Haltungsdruck erzeugen und damit die qua Sozialisation eingeübte Zuschauer*innen- bzw. Betrachter*innen-Rolle herausfordern, indem eine handlungsbezogene, körperliche Re-Aktion der Zuschauenden erwartet (oder sogar ethisch notwendig) wird. Auf diese Weise erzeugten die Zuschauenden nicht nur die Aufführung in leiblicher Kopräsenz mit, sondern würden auch zu Akteur*innen (vgl. Fischer-Lichte, 2006). Effekt dieser Involvierung ist in den meisten Fällen, Zuschauer*innen ihre Mit-Verantwortung in und für die geteilten, sozialen Aufführungssituationen widerzuspiegeln.
Immersive Aufführungsdispositive versammeln Zuschauer*innen nicht nur in leiblicher Kopräsenz in einem Raum, in dem dann die Aufführung hervorgebracht wird, sondern ihr intersubjektives und sozial-relationales Tun ist die Aufführung. Nicht die geteilte Anwesenheit und das Potential, in Situationen einzugreifen, ist für sie zentral, sondern der Umstand, dass im künstlerisch abgesteckten Rahmen ein Erfahrungsraum gestaltet wird, der genuin aus der sozialen Versammlung einer bestimmten Gruppe Anwesender und den Weisen besteht, wie sie miteinander in Relation treten, z. B. über einen Spielauftrag, über eine gemeinsame Bewegung oder ein Gespräch.
Mit Blick auf in Ausstellungskontexten der neunziger Jahre entstandene, vornehmlich installative oder situative Arbeiten von internationalen Künstler*innen wie Felix Gonzales-Torres, Rirkrit Tiravanija, Philippe Parreno oder Pierre Huyghe entwickelt der Kurator und Kunstkritiker Nicolas Bourriaud den Begriff der »relational aesthetics«. Er bezeichnet damit »an art form where the substrate is formed by intersubjectivity, and which takes being-together as a central theme, the ›encounter‹ between beholder and picture, and the collective elaboration of meaning« (Bourriaud, 2002, S. 15). Im Zentrum einer relationalen Ästhetik stehe demnach die (vornehmlich) zwischenmenschliche Begegnung und ihr sozialer Kontext. Bourriaud zufolge gehe es den Künstler*innen der »relational aesthetics« darum, innerhalb der Kunstinstitution mit künstlerischen Mitteln konkrete Räume zu eröffnen, in denen vielfältige soziale Formen des Zusammenlebens als Mikroutopien miteinander ver- und ausgehandelt werden können (vgl. ebd. S. 46). Für die relationale Ästhetik kennzeichnend sei zudem eine signifikante Verschiebung von einem subjektzentrierten Denken hin zu einem Denken in Netzwerken, das sich in den Arbeiten formal und inhaltlich niederschlage (vgl. S. 88ff.).44
Als Theaterwissenschaftlerin könnte man nun vorbringen, dass das, was Bourriaud mit dem Begriff der »relational aesthetics« als eine »Theorie der Form« (ebd., S. 19, dt. TS) zu fassen versucht, im Grunde nur einen Wandel im Feld der bildenden und installativen Künste beschreibt, im Zuge dessen Situationen, Begegnungen und ja, Aufführungen an die Stelle von Objekten treten (wie z. B. in den Arbeiten von Tino Sehgal oder Erwin Wurm, vgl. Umathum, 2011). Umgekehrt wird – wie von der Theaterwissenschaftlerin Katharina Pewny – im Zusammenhang ausgewählter Gegenwartstheater-Aufführungen (wie She She Pops Warum tanzt ihr nicht?, Secret Service von Felix Ruckert Company oder auch den Arbeiten des Nature Theater of Oklahoma) dort von einer »relationalen Ästhetik« oder gar von einem »relationalen Theater« (Pewny, 2011, S. 247f.) gesprochen, wo mit partizipativen Publikumsdramaturgien gearbeitet wird. Auch Hans-Thies Lehmann spricht im Zusammenhang mit partizipativen Theaterarbeiten von einer sie auszeichnenden »relationalen Dramaturgie« (Lehmann, 2011b). Bei beiden akzentuiert das Relationale einen Aspekt des »Ungesicherten« (bzw. »Prekären« bei Pewny). Zum einen, weil Publikumspartizipation immer mit gewissen Risiken einhergeht, weil sie sich als Element des Realen der Planbarkeit einer Inszenierung zuweilen entzieht; zum anderen, weil zwischenmenschliche Relationen in ihrer zuweilen auch machtvollen Asymmetrie zum Gegenstand der Inszenierungen werden (können).
Mit Blick auf die zu klärende Spezifik immersiver Aufführungsdispositive hebe ich mit dem Begriff der Relationalität nicht nur darauf ab, dass es in den in Rede stehenden Theaterproduktionen zuvorderst um intersubjektives Begegnen und Handeln im gestalteten Erfahrungsraum geht, in dem an der Schnittstelle von Ästhetischem und Sozialem das Her- und/oder Infragestellen von Gemeinschaft(en), Subjektpositionen und/oder anderen Formen sozialer Beziehungen im Zentrum steht. Es scheint mir für die Wirkweise(n) immersiver Dispositive entscheidender, dass eben nicht nur soziales Miteinander ›gestaged‹ wird, sondern dass dieses zugleich als konstitutiv relational eingebettet in Erscheinung tritt, d. h., dass am intersubjektiven, situativen Begegnen ein produktionsspezifisches Netz mitwirkt, das dieses Begegnen mit-formiert. Zur Perspektive der Relationalität gehört daher, all die Parameter des Dispositivs – die institutionelle Rahmung, der Ort, die Szenografie und Architektur des Aufführungsraums, die kulturellen Referenzen, dominanten Imaginationen, aber auch Aspekte wie normative Rollenbilder, Erwartungshaltungen oder mit dem Inszenierungssujet verbundene Emotionsrepertoires45 – als am Aufführungsgeschehen mit-wirkende Einflussfaktoren ernst zu nehmen. Meine sich daraus ergebende These ist, dass die in Rede stehenden Aufführungen mit der Art und Weise, wie sie die Zuschauer*innen involvieren, sie ihnen situativ etwas über ihr genuin relationales In-der-Welt-Sein zur Erfahrung zu bringen vermögen (vgl. Butler, 2010, S. 11f.).
Relationalität adressiert die affektiven, diskursiven und körperlichen Wirkweisen des Geflechts, das Zuschauer*innen, Darsteller*innen/Performer*innen, Raum, Diskurse, Praktiken, Handlungen, Imaginationen, Emotionen und Affekte sowie sämtliche Bestandteile der multisensorisch wahrnehmbaren Szenografie im Aufführungsdispositiv miteinander bilden und hervorbringen. Relationalität hebt dabei weniger auf die einzelnen Entitäten als vielmehr auf die Beziehungen oder »Beziehungsweisen« (Seyfert, 2019) zwischen ihnen ab und trägt damit zu einer Relativierung anthropozentrischer und vor allem auch subjektzentrierter Perspektiven bei. Eine relationale Perspektive einzunehmen korrespondiert insofern mit aktuellen – vorwiegend sozial-ontologischen – Theorien, die auf je verschiedene Weisen versuchen, Konzepte von Vielheit zu denken wie u. a. Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. u. a. Latour, 2010), Jean-Luc Nancys Ontologie des Mit-Seins (Nancy, 2004), Donna Haraways Konstellationen von kinship (Haraway, 2018) oder Michaela Otts (auf Gilles Deleuzes zurückweisendes) Konzept der Dividualität (Ott, 2015). So bringt die relationale Perspektive mit sich, Handlungsmacht nicht nur bei menschlichen Subjekten, sondern auch bei nicht-menschlichen Agenten zu verorten und damit neu- und umverteilte agencies mitzudenken. Und spricht man z. B. auch Materie Handlungsmacht zu, führt dies dazu, auch tradierte Verständnisse von Handlung und Handlungsfähigkeit neu bestimmen zu müssen (vgl. Bennett, 2020, S. 11).
Vor diesem Hintergrund zeichnet immersive Aufführungsdispositive nicht nur aus, dass sie Zuschauer*innen vermeintlich komplett ein- und umschließen und sie zu mit-erzeugenden Akteur*innen machen, sondern, dass sie Zuschauer*innen-Subjekte als Medien von Immersion, als bestimmte Körper, die eine Erfahrung von Immersion machen, mithervorbringen (im Sinne Kasprowiczs, vgl. Kap. 1.2). Denn indem sie den Zuschauer*innen-Körper in ein künstlerisch gestaltetes Geflecht von Ordnungen, Diskursen, Referenzen und Regelsystemen einbetten, wirken sie an der Konstellierung bestimmter Wahrnehmungen und Bedeutungen von Selbst- und Weltverhältnissen mit. Dies macht möglich, dass involvierte Zuschauer*innen am eigenen Leib situativ erfahren, wie sie (auch außerhalb des Aufführungskontextes) immer schon eingelassen und eingebettet sind – sei es in symbolische Ordnungen, sei es in soziale und/oder kulturelle Regelsysteme, Normen, Machtstrukturen und Verhaltensweisen und sei es auch in emotionale Ordnungen und affektive Register. Dies begreife ich mit Florian Leitner (2011) und Emanuelle Coccia (2018) als Erfahrung von Immersion, als erkennendes Moment jener Art und Weise, wie man als Subjekt immer schon in relationale Gefüge eingebettet und davon machtvoll (mit-)formiert ist.
Denn als sozial-relationales Wesen bin ich mit meiner Geburt eingelassen in ein soziales Netz, in dem von gesellschaftlichen Institutionen mitformierte Normen, Verhaltens-, Sprech-, Gefühls- und Ausdrucksregeln sowie spezifische historisch variable und kulturell divergierende Emotionsregimes gelten. Immersion ist aus dieser Perspektive betrachtet nicht ein temporärer Weltenwechsel, sondern der reguläre Modus des subjektiven In-der-Welt-Seins:
Eingetaucht zu sein heißt nicht einfach nur, in etwas zu sein, was uns umgibt und uns durchdringt. Das Eintauchen ist […] zuallererst eine Aktion der wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Objekt, Körper und Raum, Leben und Milieu; eine Unmöglichkeit, beides physisch und räumlich voneinander zu trennen (Coccia, 2018, S. 55).
Die in der Etymologie des Immersionsbegriffs angelegte metaphorische Dimension der Verschmelzung weist hier auf die genuine Relationalität subjektiven Seins. Dass es in den zur Rede stehenden Aufführungsbeispielen zu Erfahrungen von Immersion kommt, die in kategorialem Unterschied zu dem steht, was bei Machon oder Biggin als immersive Erfahrung zu beschreiben versucht wurde, hängt nun in hohem Maße von dem letzten Merkmal immersiver Aufführungsdispositive ab: ihrem Arbeiten mit gezielten Strategien der Affizierung und Emotionalisierung der involvierten Zuschauer*innen.
44 Seine Thesen belegenden Beispielanalysen hinsichtlich der Qualität jener intersubjektiven Begegnungen und/oder situativen Gemeinschaftserfahrungen bleibt Bourriaud seinen Leser*innen schuldig. Zur Kritik an Bourriauds Überlegungen siehe prominent Bishop, 2004 sowie Umathum, 2011, S. 159 – 165. Insbesondere einen zentralen Kritikpunkt, dass Bourriaud nämlich die Kunstinstitutionen, in denen diese intersubjektiven Zusammenkünfte initiiert werden, nicht analytisch in den Blick nehme und damit vergesse, dass in diesen Arbeiten immer nur eine bestimmte soziale Klientel gebunden wird, hebt Juliane Rebentisch kritisch hervor, vgl. Rebentisch, 2013, insbesondere S. 60 – 72.
45 Birgitt Röttger-Rössler zufolge beschreibt der Begriff des Emotionsrepertoires »die mit kulturspezifischen Konzepten diskreter Emotionen verbundenen verbalen und non-verbalen Ausdrucksregeln, die vielfältigen emotionalen Praktiken, in denen diese Regeln individuell und kollektiv ausagiert werden, sowie die durch diese Regeln strukturierten Modi des körperlichen Erlebens, einschließlich der Subjektivierungseffekte, die diese Repertoires auf einzelne Akteure und Kollektive haben« (Röttger-Rössler, 2016, S. 5).